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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist

Jahrhunderts das Elend des englischen Proletariats fortzeugend geboren, das
die Schmach der Neuzeit sei. Ganz besonders aber schildert er dieses Elend,
und namentlich die Kindergreuel, genau so, wie wir es gethan haben, nur daß
er noch viel mehr Einzelheiten anführt, und er bemerkt wiederholt, daß das That¬
sächliche bei Marx und Engels nicht zu bezweifeln sei, wenn man auch die
Tendenz und die Schlußfolgerungen der beiden Männer ablehnen müsse. Sie
sind doch auch nicht die einzigen, die aus den Berichten der Pnrlaments-
kommissionen geschöpft haben, und diese Berichte sind doch ihrer Zeit in der
ganzen englischen Presse besprochen worden. Als wir diese Dinge, die bis dahin
nur in Büchern gestanden hatten und deshalb dem großen Publikum unbekannt
geblieben waren, durch die Grenzboten einem weitern Kreise erzählt hatten,
versuchte man den Eindruck auf dreifache Weise abzuschwächen. Die einen, die
Entwicklungstheoretiker, sagten, dieses englische Arbciterelend sei gar nichts be¬
sondres; es sei eben nur das Mittel, dessen sich die Natur überall und jeder¬
zeit bediene, die schwachen Individuen zu vernichten. Aber wo finden sich
neben den elenden Arbeitern jener Zeit die wohlbestallten, die man als die
Sieger im rassenveredelnden Kampf ums Dasein bezeichnen könnte? Das
ganze, ehedem glückliche und kräftige, gemeine Volk von England war elend
geworden, und ein tüchtiger Arbeiterstand hat sich erst wieder von der Mitte
des vorigen Jahrhunderts ub neu gebildet. Überdies: hat es einen Sinn,
von einem gewerblichen .Kampf ums Dasein zu reden, wenn die Arbeitenden
und Verdienenden Kinder von drei bis dreizehn Jahren waren? (Vierjährige
waren in den Fabriken und Gruben nicht selten, und einzelne Fälle, wo Drei¬
jährige verwandt wurden, sind von den Kommissionen festgestellt worden.)
Ein Nationalökonom hat sich mit folgender Hypothese geholfen. Es handelte
sich damals darum, die Menschheit mit einem Werkzeuge auszurüsten, das,
nachdem es geschaffen war, die Produktivität der Arbeit verhundertfachen und
so den Reichtum und das Wohlbefinden der Menschheit vermehren sollte.
Aber zunächst mußte es geschaffen werden; es wurde also eine Mehrarbeit ge¬
fordert, die neben der Produktion für die Bedürfnisbefriedigung zu leisten war.
Indem nun die Maschiuenbananstalten die Männer brauchten, blieben für die
Spinnereien nur die Weiber nud Kinder übrig. Das ist reine Phantasie. Die
Väter der FabrMndcr haben nicht Maschinen gebaut, sondern sind müßig ge¬
gangen, haben gesoffen und im besten Falle ihren arbeitenden Weibern und
Kindern die Kleider geflickt und den Brei gekocht. Die Kindergreuel haben
am Ende des achtzehnten Jahrhunderts angefangen, als noch gar keine
Dampfmaschinen gebaut, vielmehr die "Spindelmühlen" mit Wasser getrieben
wurden.

Die dritte und verbreitetste Abschwächungsmethode besteht darin, daß man
sagt: "Ach was, die Zeit war ebeu eine Übergangszeit, und in solchen Zeiten
geht es uun einmal ohne einige Härten nicht ab. Übrigens ist die Sache nicht
so schlimm gewesen, den sozialdemokratischen Hetzern darf man nicht alles
glauben." Diese Illusion muß nun gründlich zerstört werden, denn es


wie der Volksgeist des heutigen Englands geworden ist

Jahrhunderts das Elend des englischen Proletariats fortzeugend geboren, das
die Schmach der Neuzeit sei. Ganz besonders aber schildert er dieses Elend,
und namentlich die Kindergreuel, genau so, wie wir es gethan haben, nur daß
er noch viel mehr Einzelheiten anführt, und er bemerkt wiederholt, daß das That¬
sächliche bei Marx und Engels nicht zu bezweifeln sei, wenn man auch die
Tendenz und die Schlußfolgerungen der beiden Männer ablehnen müsse. Sie
sind doch auch nicht die einzigen, die aus den Berichten der Pnrlaments-
kommissionen geschöpft haben, und diese Berichte sind doch ihrer Zeit in der
ganzen englischen Presse besprochen worden. Als wir diese Dinge, die bis dahin
nur in Büchern gestanden hatten und deshalb dem großen Publikum unbekannt
geblieben waren, durch die Grenzboten einem weitern Kreise erzählt hatten,
versuchte man den Eindruck auf dreifache Weise abzuschwächen. Die einen, die
Entwicklungstheoretiker, sagten, dieses englische Arbciterelend sei gar nichts be¬
sondres; es sei eben nur das Mittel, dessen sich die Natur überall und jeder¬
zeit bediene, die schwachen Individuen zu vernichten. Aber wo finden sich
neben den elenden Arbeitern jener Zeit die wohlbestallten, die man als die
Sieger im rassenveredelnden Kampf ums Dasein bezeichnen könnte? Das
ganze, ehedem glückliche und kräftige, gemeine Volk von England war elend
geworden, und ein tüchtiger Arbeiterstand hat sich erst wieder von der Mitte
des vorigen Jahrhunderts ub neu gebildet. Überdies: hat es einen Sinn,
von einem gewerblichen .Kampf ums Dasein zu reden, wenn die Arbeitenden
und Verdienenden Kinder von drei bis dreizehn Jahren waren? (Vierjährige
waren in den Fabriken und Gruben nicht selten, und einzelne Fälle, wo Drei¬
jährige verwandt wurden, sind von den Kommissionen festgestellt worden.)
Ein Nationalökonom hat sich mit folgender Hypothese geholfen. Es handelte
sich damals darum, die Menschheit mit einem Werkzeuge auszurüsten, das,
nachdem es geschaffen war, die Produktivität der Arbeit verhundertfachen und
so den Reichtum und das Wohlbefinden der Menschheit vermehren sollte.
Aber zunächst mußte es geschaffen werden; es wurde also eine Mehrarbeit ge¬
fordert, die neben der Produktion für die Bedürfnisbefriedigung zu leisten war.
Indem nun die Maschiuenbananstalten die Männer brauchten, blieben für die
Spinnereien nur die Weiber nud Kinder übrig. Das ist reine Phantasie. Die
Väter der FabrMndcr haben nicht Maschinen gebaut, sondern sind müßig ge¬
gangen, haben gesoffen und im besten Falle ihren arbeitenden Weibern und
Kindern die Kleider geflickt und den Brei gekocht. Die Kindergreuel haben
am Ende des achtzehnten Jahrhunderts angefangen, als noch gar keine
Dampfmaschinen gebaut, vielmehr die „Spindelmühlen" mit Wasser getrieben
wurden.

Die dritte und verbreitetste Abschwächungsmethode besteht darin, daß man
sagt: „Ach was, die Zeit war ebeu eine Übergangszeit, und in solchen Zeiten
geht es uun einmal ohne einige Härten nicht ab. Übrigens ist die Sache nicht
so schlimm gewesen, den sozialdemokratischen Hetzern darf man nicht alles
glauben." Diese Illusion muß nun gründlich zerstört werden, denn es


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/450>, abgerufen am 26.06.2024.