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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Reform des österreichisch-ungarischen Dualismus

bedingungen der Monarchie gefährdet werden sollen. Sowie sich nach König-
grütz, nach dem Ausschluß Österreichs aus dem Deutschen Bunde und nach
seiner Verdrängung aus Italien die Notwendigkeit einer neuen Organisation
des Habsburgischen Länderkomplexes der Krone aufdrängte und zur schlie߬
lichen Anerkennung der ungarischen Staatlichkeitsansprüche führte, muß auch
jetzt -- bei der unabweislichen Erkenntnis von den Mißgriffen, die bei der
Gestaltung des bis zu einem gewissen Grade sowohl historisch wie sachlich be¬
rechtigten dualistischen Prinzips in Bezug auf die Regelung der Beziehungen
beider Reichshülften begangen worden sind -- eine Reform des Dualismus von
der Krone ins Auge gefaßt und unter Anwendung streng verfassungsmäßiger
Mittel durch entsprechende Gesetze im Wiener Neichsrate wie im ungarischen
Parlament angebahnt und schrittweise weitergeführt werden. Wenn das an¬
geblich zwischen den beiden Staaten der Monarchie bestehende bundesgenossen¬
schaftliche Verhältnis vertieft, gekräftigt, auf dauerndere Grundlagen gestellt,
ein größeres Maß von Freizügigkeit in physischer und rechtlicher Beziehung
zwischen ihnen erreicht, eine Art erweiterten Staatsbürgerrechts für alle An¬
gehörigen der Monarchie geschaffen wird, so braucht das ebensowenig eine
Verneinung der österreichischen Staatlichkeit wie der ungarischen zu bedeuten,
über die das Magycirentum mit ängstlicher Sorgfalt wacht. Es darf aber
nicht mehr eine planmäßig separatistische Unterrichtspolitik verfolgt werden,
wie sich deren noch gegenwärtig Minister Wlassics schuldig macht, und
wie sie durch den siebenbürgisch-sächsischen Abgeordneten Schwicker in verdienst¬
voller, ihm freilich übel gelohnter Weise aufgedeckt worden ist und sich täglich
immer ungescheuter enthüllt, sodaß in einer staatlichen Mittelschule das
Haus Habsburg als der größte Feind Ungarns bezeichnet werden darf. Was
hinter der chinesischen Mauer, die die Galizien zugestandne polnische Amts¬
sprache und Unterrichtssprache zwischen Ost- und Westösterreich errichtet hat,
seit dritthalb Dezennien nach dieser Richtung vor sich geht, bedürfte ebenfalls
einer gründlichen Beleuchtung und energischen Änderung. Von jeder Regierung
diesseits wie jenseits der Leitha muß gefordert werden, daß sie nicht über
der Verfolgung parteipolitischer oder einseitig nationaler Ziele die Pflege
herzlicher Beziehungen mit dem andern Staat vernachlässige und die natür¬
lichen Wurzelfüden der Monarchie achtlos oder gar böswillig verkümmern
lasse. Das nicht bloß in manchen Bevölkerungskreisen Ungarns, sondern auch
in manchen Ländern und bei manchen Volksstämmen Österreichs sehr schwach
entwickelte Bewußtsein einer mehr als äußerlichen Angehörigkeit zur Monarchie,
die Erkenntnis der Wichtigkeit ihres Bestands für jeden Volksstamm, für
das wirtschaftliche Wohlsein der Gesamtheit ihrer Bewohner wird nur daun
tiefere Wurzel fassen können, und die Ausbildung von wirklichen oder ver¬
meintlichen Interessengegensätzen wird nur dann wirksam hintangehalten
werden können, wenn auch in den einzelnen Reichshülften -- diese formell
unrichtige Terminologie möge nie preisgegeben werden -- von Regierungs
wegen jede brutale Vergewaltigung nationaler Minderheiten, jede einseitige


Reform des österreichisch-ungarischen Dualismus

bedingungen der Monarchie gefährdet werden sollen. Sowie sich nach König-
grütz, nach dem Ausschluß Österreichs aus dem Deutschen Bunde und nach
seiner Verdrängung aus Italien die Notwendigkeit einer neuen Organisation
des Habsburgischen Länderkomplexes der Krone aufdrängte und zur schlie߬
lichen Anerkennung der ungarischen Staatlichkeitsansprüche führte, muß auch
jetzt — bei der unabweislichen Erkenntnis von den Mißgriffen, die bei der
Gestaltung des bis zu einem gewissen Grade sowohl historisch wie sachlich be¬
rechtigten dualistischen Prinzips in Bezug auf die Regelung der Beziehungen
beider Reichshülften begangen worden sind — eine Reform des Dualismus von
der Krone ins Auge gefaßt und unter Anwendung streng verfassungsmäßiger
Mittel durch entsprechende Gesetze im Wiener Neichsrate wie im ungarischen
Parlament angebahnt und schrittweise weitergeführt werden. Wenn das an¬
geblich zwischen den beiden Staaten der Monarchie bestehende bundesgenossen¬
schaftliche Verhältnis vertieft, gekräftigt, auf dauerndere Grundlagen gestellt,
ein größeres Maß von Freizügigkeit in physischer und rechtlicher Beziehung
zwischen ihnen erreicht, eine Art erweiterten Staatsbürgerrechts für alle An¬
gehörigen der Monarchie geschaffen wird, so braucht das ebensowenig eine
Verneinung der österreichischen Staatlichkeit wie der ungarischen zu bedeuten,
über die das Magycirentum mit ängstlicher Sorgfalt wacht. Es darf aber
nicht mehr eine planmäßig separatistische Unterrichtspolitik verfolgt werden,
wie sich deren noch gegenwärtig Minister Wlassics schuldig macht, und
wie sie durch den siebenbürgisch-sächsischen Abgeordneten Schwicker in verdienst¬
voller, ihm freilich übel gelohnter Weise aufgedeckt worden ist und sich täglich
immer ungescheuter enthüllt, sodaß in einer staatlichen Mittelschule das
Haus Habsburg als der größte Feind Ungarns bezeichnet werden darf. Was
hinter der chinesischen Mauer, die die Galizien zugestandne polnische Amts¬
sprache und Unterrichtssprache zwischen Ost- und Westösterreich errichtet hat,
seit dritthalb Dezennien nach dieser Richtung vor sich geht, bedürfte ebenfalls
einer gründlichen Beleuchtung und energischen Änderung. Von jeder Regierung
diesseits wie jenseits der Leitha muß gefordert werden, daß sie nicht über
der Verfolgung parteipolitischer oder einseitig nationaler Ziele die Pflege
herzlicher Beziehungen mit dem andern Staat vernachlässige und die natür¬
lichen Wurzelfüden der Monarchie achtlos oder gar böswillig verkümmern
lasse. Das nicht bloß in manchen Bevölkerungskreisen Ungarns, sondern auch
in manchen Ländern und bei manchen Volksstämmen Österreichs sehr schwach
entwickelte Bewußtsein einer mehr als äußerlichen Angehörigkeit zur Monarchie,
die Erkenntnis der Wichtigkeit ihres Bestands für jeden Volksstamm, für
das wirtschaftliche Wohlsein der Gesamtheit ihrer Bewohner wird nur daun
tiefere Wurzel fassen können, und die Ausbildung von wirklichen oder ver¬
meintlichen Interessengegensätzen wird nur dann wirksam hintangehalten
werden können, wenn auch in den einzelnen Reichshülften — diese formell
unrichtige Terminologie möge nie preisgegeben werden — von Regierungs
wegen jede brutale Vergewaltigung nationaler Minderheiten, jede einseitige


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[0446] Reform des österreichisch-ungarischen Dualismus bedingungen der Monarchie gefährdet werden sollen. Sowie sich nach König- grütz, nach dem Ausschluß Österreichs aus dem Deutschen Bunde und nach seiner Verdrängung aus Italien die Notwendigkeit einer neuen Organisation des Habsburgischen Länderkomplexes der Krone aufdrängte und zur schlie߬ lichen Anerkennung der ungarischen Staatlichkeitsansprüche führte, muß auch jetzt — bei der unabweislichen Erkenntnis von den Mißgriffen, die bei der Gestaltung des bis zu einem gewissen Grade sowohl historisch wie sachlich be¬ rechtigten dualistischen Prinzips in Bezug auf die Regelung der Beziehungen beider Reichshülften begangen worden sind — eine Reform des Dualismus von der Krone ins Auge gefaßt und unter Anwendung streng verfassungsmäßiger Mittel durch entsprechende Gesetze im Wiener Neichsrate wie im ungarischen Parlament angebahnt und schrittweise weitergeführt werden. Wenn das an¬ geblich zwischen den beiden Staaten der Monarchie bestehende bundesgenossen¬ schaftliche Verhältnis vertieft, gekräftigt, auf dauerndere Grundlagen gestellt, ein größeres Maß von Freizügigkeit in physischer und rechtlicher Beziehung zwischen ihnen erreicht, eine Art erweiterten Staatsbürgerrechts für alle An¬ gehörigen der Monarchie geschaffen wird, so braucht das ebensowenig eine Verneinung der österreichischen Staatlichkeit wie der ungarischen zu bedeuten, über die das Magycirentum mit ängstlicher Sorgfalt wacht. Es darf aber nicht mehr eine planmäßig separatistische Unterrichtspolitik verfolgt werden, wie sich deren noch gegenwärtig Minister Wlassics schuldig macht, und wie sie durch den siebenbürgisch-sächsischen Abgeordneten Schwicker in verdienst¬ voller, ihm freilich übel gelohnter Weise aufgedeckt worden ist und sich täglich immer ungescheuter enthüllt, sodaß in einer staatlichen Mittelschule das Haus Habsburg als der größte Feind Ungarns bezeichnet werden darf. Was hinter der chinesischen Mauer, die die Galizien zugestandne polnische Amts¬ sprache und Unterrichtssprache zwischen Ost- und Westösterreich errichtet hat, seit dritthalb Dezennien nach dieser Richtung vor sich geht, bedürfte ebenfalls einer gründlichen Beleuchtung und energischen Änderung. Von jeder Regierung diesseits wie jenseits der Leitha muß gefordert werden, daß sie nicht über der Verfolgung parteipolitischer oder einseitig nationaler Ziele die Pflege herzlicher Beziehungen mit dem andern Staat vernachlässige und die natür¬ lichen Wurzelfüden der Monarchie achtlos oder gar böswillig verkümmern lasse. Das nicht bloß in manchen Bevölkerungskreisen Ungarns, sondern auch in manchen Ländern und bei manchen Volksstämmen Österreichs sehr schwach entwickelte Bewußtsein einer mehr als äußerlichen Angehörigkeit zur Monarchie, die Erkenntnis der Wichtigkeit ihres Bestands für jeden Volksstamm, für das wirtschaftliche Wohlsein der Gesamtheit ihrer Bewohner wird nur daun tiefere Wurzel fassen können, und die Ausbildung von wirklichen oder ver¬ meintlichen Interessengegensätzen wird nur dann wirksam hintangehalten werden können, wenn auch in den einzelnen Reichshülften — diese formell unrichtige Terminologie möge nie preisgegeben werden — von Regierungs wegen jede brutale Vergewaltigung nationaler Minderheiten, jede einseitige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/446>, abgerufen am 26.06.2024.