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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Lthik und Politik

nicht ans dem tiefsten Empfinden des deutschen Volks heraus reden/'
Und ganz vortrefflich war auch der kurze Satz, mit dem er sich zu der
allgemeinen Frage ausließ: "Gerade diese Parteinahme (des deutschen Volks
für die Buren) ist die Probe auf die Rechnung, und sie beweist, wie grund¬
falsch diese ist. Denn wenn auch die Sätze und Gebote der christlichen Moral
bei der Politik nicht die unmittelbare Anwendung erfahren wie in der Jndi-
vidualethik, so müssen doch auch über der Politik, wenn sie nicht zum Appell
an die rohe Gewalt und die Macht der Stärkern ausarten soll, die großen
sittlichen Gedanken des Christentums als Regulatoren, als Nicht- und Ziel-
Punkte schweben,"

In besondrer Art beachtenswert waren auch die Bemerkungen, die der
Heidelberger Professor der Theologie v, Deißmann zur Sache machte, der
sich als "politischer Anhänger und Schüler Naumanns" bekannte, das Problem
Ethik und Politik aber als das ernsteste und wichtigste, das der neuen ethische"
Wissenschaft gestellt sei, bezeichnete, das zu lösen er sich jedoch nicht berufen
fühle. Mit seinem "praktischen Menschen" stelle er sich "auch" (d, h, wohl
wie Nmnuann) auf den Standpunkt, "daß zur Zeit, in dieser Welt der Sünde,
in dieser Welt der Niedertracht, eine andre als eine Kampfesstellnng der
Böller gegeneinander nicht möglich ist." Das heißt, möchte man fast glauben,
soviel, als daß er das ganze Problem überhaupt nicht verstand. Denn was
kann es sonst heißen? Mit der Sünde und der Niedertracht der Welt hat
auch die Judividualethik immerfort zu rechnen. Sie und das Christentum und
die christliche Kirche -- und die nicht einmal allein -- sind ihrem Wesen und
Zweck nach immerfort im Kampfe gegen die sündhafte und niederträchtige
Kampfstellung und Kampfsucht der Individuen, die fie sowohl die geltenden
Sittengesetze zu respektieren anhalten wie zu höherer Sittlichkeit erziehn sollen.
Wie man ihnen in der Politik, d. h. zwischen Staaten und Völkern, nicht das
gleiche Recht und die gleiche Aufgabe zuweisen kaun, ist mir ganz unverständ¬
lich, dn doch die Geschichte der Menschenkultur trotz aller noch vorhandnen
und nie aufrollbaren Sünde und Niedertracht auf jeder Seite beweist, daß sie
das scho" mit Erfolg besorgt haben seit unvordenklichen Zeiten, Und was
kann denn Professor Deißmann unter der "Kampfesstellnng der Völker" anders
"leinen, als was Naumann meint, nämlich nicht etwa die Defensive, sondern
die Offensive, die Schnapphahnstellung der Nationen zu einander, die mit Ge¬
walt nimmt, was sie kriegt, und schießt, wo Gewinn lockt? Dagegen müssen
Ethik, Christentum und christliche Kirche kämpfen ohne Unterlaß, wenn sie nicht
selbst der Sünde und Niedertracht dienstbar werden wollen. Mit den Suttner-
Hirschischen Marotten vom "ewigen Frieden," der jetzt eingerichtet werden
soll, oder mit dem Abrüstungsschwindel hat das gar nichts zu thun. Aber
schämen müßten sich die Ethiker, mich die nichtzünftigen, d, h. die Pfarrer und
die Theologen denn doch, wenn sie praktisch, durch Lehre in Wort und Schrift,
gerade heutzutage, bei dieser überspannten Kampfstellung der Völker statt zum
Frieden zu mahnen, den akute" Ansbrttchcn der Sünde und Niedertracht in


Lthik und Politik

nicht ans dem tiefsten Empfinden des deutschen Volks heraus reden/'
Und ganz vortrefflich war auch der kurze Satz, mit dem er sich zu der
allgemeinen Frage ausließ: „Gerade diese Parteinahme (des deutschen Volks
für die Buren) ist die Probe auf die Rechnung, und sie beweist, wie grund¬
falsch diese ist. Denn wenn auch die Sätze und Gebote der christlichen Moral
bei der Politik nicht die unmittelbare Anwendung erfahren wie in der Jndi-
vidualethik, so müssen doch auch über der Politik, wenn sie nicht zum Appell
an die rohe Gewalt und die Macht der Stärkern ausarten soll, die großen
sittlichen Gedanken des Christentums als Regulatoren, als Nicht- und Ziel-
Punkte schweben,"

In besondrer Art beachtenswert waren auch die Bemerkungen, die der
Heidelberger Professor der Theologie v, Deißmann zur Sache machte, der
sich als „politischer Anhänger und Schüler Naumanns" bekannte, das Problem
Ethik und Politik aber als das ernsteste und wichtigste, das der neuen ethische»
Wissenschaft gestellt sei, bezeichnete, das zu lösen er sich jedoch nicht berufen
fühle. Mit seinem „praktischen Menschen" stelle er sich „auch" (d, h, wohl
wie Nmnuann) auf den Standpunkt, „daß zur Zeit, in dieser Welt der Sünde,
in dieser Welt der Niedertracht, eine andre als eine Kampfesstellnng der
Böller gegeneinander nicht möglich ist." Das heißt, möchte man fast glauben,
soviel, als daß er das ganze Problem überhaupt nicht verstand. Denn was
kann es sonst heißen? Mit der Sünde und der Niedertracht der Welt hat
auch die Judividualethik immerfort zu rechnen. Sie und das Christentum und
die christliche Kirche — und die nicht einmal allein — sind ihrem Wesen und
Zweck nach immerfort im Kampfe gegen die sündhafte und niederträchtige
Kampfstellung und Kampfsucht der Individuen, die fie sowohl die geltenden
Sittengesetze zu respektieren anhalten wie zu höherer Sittlichkeit erziehn sollen.
Wie man ihnen in der Politik, d. h. zwischen Staaten und Völkern, nicht das
gleiche Recht und die gleiche Aufgabe zuweisen kaun, ist mir ganz unverständ¬
lich, dn doch die Geschichte der Menschenkultur trotz aller noch vorhandnen
und nie aufrollbaren Sünde und Niedertracht auf jeder Seite beweist, daß sie
das scho» mit Erfolg besorgt haben seit unvordenklichen Zeiten, Und was
kann denn Professor Deißmann unter der „Kampfesstellnng der Völker" anders
"leinen, als was Naumann meint, nämlich nicht etwa die Defensive, sondern
die Offensive, die Schnapphahnstellung der Nationen zu einander, die mit Ge¬
walt nimmt, was sie kriegt, und schießt, wo Gewinn lockt? Dagegen müssen
Ethik, Christentum und christliche Kirche kämpfen ohne Unterlaß, wenn sie nicht
selbst der Sünde und Niedertracht dienstbar werden wollen. Mit den Suttner-
Hirschischen Marotten vom „ewigen Frieden," der jetzt eingerichtet werden
soll, oder mit dem Abrüstungsschwindel hat das gar nichts zu thun. Aber
schämen müßten sich die Ethiker, mich die nichtzünftigen, d, h. die Pfarrer und
die Theologen denn doch, wenn sie praktisch, durch Lehre in Wort und Schrift,
gerade heutzutage, bei dieser überspannten Kampfstellung der Völker statt zum
Frieden zu mahnen, den akute» Ansbrttchcn der Sünde und Niedertracht in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/283>, abgerufen am 28.09.2024.