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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

und seine Kinder bald verhungern, bald erfrieren, bald vor Hitze verschmachten ließ.
Die Notwendigkeit des Leidens, worüber Öttingen u. a, Seite 537 sehr schön
spricht, und des Kampfes steht ja für alle Denker, die keinem Utopistenwahn ver¬
sallen sind, unzweifelhaft fest, damit aber auch, wovor die christlichen Dogmatiker
die Angen schließen, die Notwendigkeit der Sünde. Will man sich deren Unver¬
meidlichkeit klar machen, so braucht man uur daran zu denken, daß in einzelnen
Familien ein vollkommen ideales, daher in christlicher Sprache heilig zu nennendes
Leben thatsächlich vorkommt, und zwar nicht bloß bei Christen, sondern auch bei
Juden und Heiden; daß aber die Möglichkeit, ein solches Reich Gottes herzustellen,
mit der Größe und Kompliziertheit des Gesellschaftskörpers, dem man angehört,
abnimmt und bei einem gewissen Punkte vollständig schwindet, bis endlich dem
gesellschaftlichen Chaos nicht bloß die Idealität der Familie, sondern diese selbst
zum Opfer fällt. Es erscheint deshalb historisch und soziologisch gerechtfertigt, wenn
die Bibel und alle alten Völkersagen ein schuldloses Paradies an den Anfang der
Menschheitsentwicklung stellen, und der Zwang zur Sünde wird desto starker, je
zahlreicher das Menschengeschlecht wird, und je mehr sich seine Zustände verwickeln.
Zu der traurigen Thatsache, daß der Einzelne sein eignes Leben nnr im Kampfe
mit seinesgleichen zu behaupten vermag, kommt dann noch der Umstand, daß in
dem auch uoch durch Meinungsverschiedenheiten immer mehr verfilzten Gewirr die
Einzelnen einander gar nicht mehr zu versteh" vermögen. Alles Aufgebot seines
Scharfsinns kann Öttingen nicht um das Zugeständnis herumbringen, das er um
keinen Preis machen will, daß die Ursache der Sünde nirgend anderswo liegt als
in Gott, in dessen Schöpferwillen. Wie den Folgerungen, die sich daraus gegen
die Heiligkeit und Güte Gottes zu ergeben scheinen, entgangen werden könne, hat
Öttingen selbst Seite 257 angedeutet! dadurch, daß man die hergebrachte Vor¬
stellung von der Allmacht preisgiebt. Gott ist nicht schlechthin allmächtig; er hatte
nur die Wahl, ob er eine von Übeln geplagte und zum Kampf "ins Dasein ge¬
zwungne, daher notwendigerweise sündhafte, d. h. mit ihrer Idee vielfach im Wider¬
spruch stehende, oder ob er gar keine Menschenwelt schaffen wollte. Daß bei dieser
Einsicht die von der alten Dogmcitik erzeugte Gewissensangst an Stärke verlieren
und die Sehnsucht nach Erlösung einen etwas andern Inhalt bekommen muß, liegt
auf der Hand. Wenn Öttingen in hergebrachter Weise das Schuldbewußtsein sogar
als Beweis für die Richtigkeit der alten dogmatischen Auffassung heranzieht, so
macht er sich einer handgreiflichen Verwechslung schuldig. Auf seine Frage: "Wie
kommt es, daß wir uns schuldig fühlen in betreff eines geerbten Krankheitszustands?"
lautet die Antwort: weil wir dazu erzogen sind, geradeso wie der Hund, der
jedesmal Prügel bekommt, wenn er vom Tische Speisen nimmt. Das Schuld¬
bewußtsein ist entstanden in der Zeit, wo alle durch Naturgewalten verursachten
Leiden für Strafen erzürnter Gottheiten gehalten wurden, es schwand mit der
wachsenden Einsicht in die natürliche Entstehung der Übel, und es wurde nur durch
den dogmatischen Jugendunterricht und die Predigt künstlich wiederbelebt. Was
uns heute übrig bleibt, ist Verdruß und Scham darüber, daß unsre Person und
unser Leben dem Menschheitsideal so wenig entsprechen, Betrübnis und Kummer
darüber, daß wir die Leiden unsrer Mitmenschen so wenig zu lindern und zu
heben vermögen, ja unter Umständen solche zu verursachen gezwungen werden.
Dieses sind die Empfindungen, die im modernen Menschen das unter kirchlicher
Einwirkung zustande gekommne Schuldbewußtsein verdrängt haben. Dieses ist
übrigens auch in Bevölkerungen, die noch ganz unberührt von modernen Einflüssen
unter geistlichem Einfluß leben, weit seltner, als sich die Theologen einreden. Die
meisten unter den gewöhnlichen Menschen fühlen nichts bei den alten Bnßformeln
und Büßliedern, die der Mund hersagt oder singt, und halten sich auch dann für


Maßgebliches und Unmaßgebliches

und seine Kinder bald verhungern, bald erfrieren, bald vor Hitze verschmachten ließ.
Die Notwendigkeit des Leidens, worüber Öttingen u. a, Seite 537 sehr schön
spricht, und des Kampfes steht ja für alle Denker, die keinem Utopistenwahn ver¬
sallen sind, unzweifelhaft fest, damit aber auch, wovor die christlichen Dogmatiker
die Angen schließen, die Notwendigkeit der Sünde. Will man sich deren Unver¬
meidlichkeit klar machen, so braucht man uur daran zu denken, daß in einzelnen
Familien ein vollkommen ideales, daher in christlicher Sprache heilig zu nennendes
Leben thatsächlich vorkommt, und zwar nicht bloß bei Christen, sondern auch bei
Juden und Heiden; daß aber die Möglichkeit, ein solches Reich Gottes herzustellen,
mit der Größe und Kompliziertheit des Gesellschaftskörpers, dem man angehört,
abnimmt und bei einem gewissen Punkte vollständig schwindet, bis endlich dem
gesellschaftlichen Chaos nicht bloß die Idealität der Familie, sondern diese selbst
zum Opfer fällt. Es erscheint deshalb historisch und soziologisch gerechtfertigt, wenn
die Bibel und alle alten Völkersagen ein schuldloses Paradies an den Anfang der
Menschheitsentwicklung stellen, und der Zwang zur Sünde wird desto starker, je
zahlreicher das Menschengeschlecht wird, und je mehr sich seine Zustände verwickeln.
Zu der traurigen Thatsache, daß der Einzelne sein eignes Leben nnr im Kampfe
mit seinesgleichen zu behaupten vermag, kommt dann noch der Umstand, daß in
dem auch uoch durch Meinungsverschiedenheiten immer mehr verfilzten Gewirr die
Einzelnen einander gar nicht mehr zu versteh» vermögen. Alles Aufgebot seines
Scharfsinns kann Öttingen nicht um das Zugeständnis herumbringen, das er um
keinen Preis machen will, daß die Ursache der Sünde nirgend anderswo liegt als
in Gott, in dessen Schöpferwillen. Wie den Folgerungen, die sich daraus gegen
die Heiligkeit und Güte Gottes zu ergeben scheinen, entgangen werden könne, hat
Öttingen selbst Seite 257 angedeutet! dadurch, daß man die hergebrachte Vor¬
stellung von der Allmacht preisgiebt. Gott ist nicht schlechthin allmächtig; er hatte
nur die Wahl, ob er eine von Übeln geplagte und zum Kampf «ins Dasein ge¬
zwungne, daher notwendigerweise sündhafte, d. h. mit ihrer Idee vielfach im Wider¬
spruch stehende, oder ob er gar keine Menschenwelt schaffen wollte. Daß bei dieser
Einsicht die von der alten Dogmcitik erzeugte Gewissensangst an Stärke verlieren
und die Sehnsucht nach Erlösung einen etwas andern Inhalt bekommen muß, liegt
auf der Hand. Wenn Öttingen in hergebrachter Weise das Schuldbewußtsein sogar
als Beweis für die Richtigkeit der alten dogmatischen Auffassung heranzieht, so
macht er sich einer handgreiflichen Verwechslung schuldig. Auf seine Frage: „Wie
kommt es, daß wir uns schuldig fühlen in betreff eines geerbten Krankheitszustands?"
lautet die Antwort: weil wir dazu erzogen sind, geradeso wie der Hund, der
jedesmal Prügel bekommt, wenn er vom Tische Speisen nimmt. Das Schuld¬
bewußtsein ist entstanden in der Zeit, wo alle durch Naturgewalten verursachten
Leiden für Strafen erzürnter Gottheiten gehalten wurden, es schwand mit der
wachsenden Einsicht in die natürliche Entstehung der Übel, und es wurde nur durch
den dogmatischen Jugendunterricht und die Predigt künstlich wiederbelebt. Was
uns heute übrig bleibt, ist Verdruß und Scham darüber, daß unsre Person und
unser Leben dem Menschheitsideal so wenig entsprechen, Betrübnis und Kummer
darüber, daß wir die Leiden unsrer Mitmenschen so wenig zu lindern und zu
heben vermögen, ja unter Umständen solche zu verursachen gezwungen werden.
Dieses sind die Empfindungen, die im modernen Menschen das unter kirchlicher
Einwirkung zustande gekommne Schuldbewußtsein verdrängt haben. Dieses ist
übrigens auch in Bevölkerungen, die noch ganz unberührt von modernen Einflüssen
unter geistlichem Einfluß leben, weit seltner, als sich die Theologen einreden. Die
meisten unter den gewöhnlichen Menschen fühlen nichts bei den alten Bnßformeln
und Büßliedern, die der Mund hersagt oder singt, und halten sich auch dann für


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[0110] Maßgebliches und Unmaßgebliches und seine Kinder bald verhungern, bald erfrieren, bald vor Hitze verschmachten ließ. Die Notwendigkeit des Leidens, worüber Öttingen u. a, Seite 537 sehr schön spricht, und des Kampfes steht ja für alle Denker, die keinem Utopistenwahn ver¬ sallen sind, unzweifelhaft fest, damit aber auch, wovor die christlichen Dogmatiker die Angen schließen, die Notwendigkeit der Sünde. Will man sich deren Unver¬ meidlichkeit klar machen, so braucht man uur daran zu denken, daß in einzelnen Familien ein vollkommen ideales, daher in christlicher Sprache heilig zu nennendes Leben thatsächlich vorkommt, und zwar nicht bloß bei Christen, sondern auch bei Juden und Heiden; daß aber die Möglichkeit, ein solches Reich Gottes herzustellen, mit der Größe und Kompliziertheit des Gesellschaftskörpers, dem man angehört, abnimmt und bei einem gewissen Punkte vollständig schwindet, bis endlich dem gesellschaftlichen Chaos nicht bloß die Idealität der Familie, sondern diese selbst zum Opfer fällt. Es erscheint deshalb historisch und soziologisch gerechtfertigt, wenn die Bibel und alle alten Völkersagen ein schuldloses Paradies an den Anfang der Menschheitsentwicklung stellen, und der Zwang zur Sünde wird desto starker, je zahlreicher das Menschengeschlecht wird, und je mehr sich seine Zustände verwickeln. Zu der traurigen Thatsache, daß der Einzelne sein eignes Leben nnr im Kampfe mit seinesgleichen zu behaupten vermag, kommt dann noch der Umstand, daß in dem auch uoch durch Meinungsverschiedenheiten immer mehr verfilzten Gewirr die Einzelnen einander gar nicht mehr zu versteh» vermögen. Alles Aufgebot seines Scharfsinns kann Öttingen nicht um das Zugeständnis herumbringen, das er um keinen Preis machen will, daß die Ursache der Sünde nirgend anderswo liegt als in Gott, in dessen Schöpferwillen. Wie den Folgerungen, die sich daraus gegen die Heiligkeit und Güte Gottes zu ergeben scheinen, entgangen werden könne, hat Öttingen selbst Seite 257 angedeutet! dadurch, daß man die hergebrachte Vor¬ stellung von der Allmacht preisgiebt. Gott ist nicht schlechthin allmächtig; er hatte nur die Wahl, ob er eine von Übeln geplagte und zum Kampf «ins Dasein ge¬ zwungne, daher notwendigerweise sündhafte, d. h. mit ihrer Idee vielfach im Wider¬ spruch stehende, oder ob er gar keine Menschenwelt schaffen wollte. Daß bei dieser Einsicht die von der alten Dogmcitik erzeugte Gewissensangst an Stärke verlieren und die Sehnsucht nach Erlösung einen etwas andern Inhalt bekommen muß, liegt auf der Hand. Wenn Öttingen in hergebrachter Weise das Schuldbewußtsein sogar als Beweis für die Richtigkeit der alten dogmatischen Auffassung heranzieht, so macht er sich einer handgreiflichen Verwechslung schuldig. Auf seine Frage: „Wie kommt es, daß wir uns schuldig fühlen in betreff eines geerbten Krankheitszustands?" lautet die Antwort: weil wir dazu erzogen sind, geradeso wie der Hund, der jedesmal Prügel bekommt, wenn er vom Tische Speisen nimmt. Das Schuld¬ bewußtsein ist entstanden in der Zeit, wo alle durch Naturgewalten verursachten Leiden für Strafen erzürnter Gottheiten gehalten wurden, es schwand mit der wachsenden Einsicht in die natürliche Entstehung der Übel, und es wurde nur durch den dogmatischen Jugendunterricht und die Predigt künstlich wiederbelebt. Was uns heute übrig bleibt, ist Verdruß und Scham darüber, daß unsre Person und unser Leben dem Menschheitsideal so wenig entsprechen, Betrübnis und Kummer darüber, daß wir die Leiden unsrer Mitmenschen so wenig zu lindern und zu heben vermögen, ja unter Umständen solche zu verursachen gezwungen werden. Dieses sind die Empfindungen, die im modernen Menschen das unter kirchlicher Einwirkung zustande gekommne Schuldbewußtsein verdrängt haben. Dieses ist übrigens auch in Bevölkerungen, die noch ganz unberührt von modernen Einflüssen unter geistlichem Einfluß leben, weit seltner, als sich die Theologen einreden. Die meisten unter den gewöhnlichen Menschen fühlen nichts bei den alten Bnßformeln und Büßliedern, die der Mund hersagt oder singt, und halten sich auch dann für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/110>, abgerufen am 26.06.2024.