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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Frauenlöhne in Frankreich

Für die Nahrung bleiben 65 Centimes täglich, die sich wie folgt verteilen:

Morgens Milch......0,06 Franken
Brot für den ganzen Tag. . .0.20
Mittags Blutwurst oder dergleichen0.10
Bratkartoffeln......>0,06
Käse..........0.10 ,.
Abends ein Würstchen ....0.10
Kartoffeln ........0,05
Summa 0,6S Franken

Daß sich ein solches Mädchen nicht satt essen kann, ist leicht begreiflich,
aber wie viele müssen sich damit begnügen. Und sie sind noch froh, wenn
sie das ganze Jahr Arbeit behalten, denn sobald diese ausbleibt, leiden sie
Hunger. Es ist begreiflich, daß unter solchen Umständen viele der Verführung
anheimfallen. In Paris waren 1896 von 58706 Geburten 16814 unehelich,
also mehr als 30 Prozent (in ganz Frankreich etwa 8 Prozent). In den
Bezirken, wo die Zahl der Arbeiterinnen besonders groß ist, stieg der Prozent¬
satz der unehelichen Geburten sogar auf 40 und 50 Prozent. Berolft nennt
dies "das moralische Elend der Arbeiterin." Der Graf d'Haussonville hebt
dem gegenüber aber auch die Tugend der Pariser Arbeiterin hervor, denn es
giebt anch tugendhafte Mädchen und Frauen unter ihnen, die sich trotz ihres
geringen Lohnes die Heiterkeit des Gemüts und die Reinheit bewahren. Unter
den besser gestellten Arbeiterinnen verdient die Maschinennäherin 3 bis
3,50 Franken täglich und die Verkäuferin bis zu 4 Franken. Es giebt aller¬
dings einzelne Näherinnen, Modistinnen und Blumenmacherinnen, die noch
mehr verdienen, aber ihre Zahl ist gering, und im allgemeinen kann man sagen,
daß der Jahresverdicnst einer tüchtigen Arbeiterin 900 bis 1200 Franken
nicht übersteigt.

Die Löhne könnten dadurch eine Aufbesserung erfahren, daß sich die
Arbeiterinnen organisierten, aber es fehlt an einem festen Zusammenschluß.
Die Arbeiter haben in vielen Zweigen in den letzten Jahrzehnten durch ihre
Gewerkschaften (sMäioaw) eine bedeutende Lohnsteigeruug durchgesetzt. In ganz
Frankreich giebt es nur 26 ausschließlich weibliche Gewerkschaften. In Paris
giebt es zwei Nüherinnenverbändc, aber sie zählen nur wenige Mitglieder.
(Das SMÄieat as 1'aiFutIls zählt nur 1200 Näherinnen als Mitglieder, und
von diesen bezahlt kaum die Hälfte den Beitrag von einem Franken monatlich!)
Und doch beläuft sich die Zahl der Näherinnen und Konfektionsarbeiterinnen
auf 300000! Sie leben getrennt in der ungeheuern Stadt, sie kennen sich
gegenseitig nicht, und jede nimmt selbst zu den niedrigsten Preisen Arbeit an,
sei es, weil sie ausschließlich darauf angewiesen ist, sei es, weil der Verdienst
ihres Mannes nicht genügt. Außer den Zwischenmeisterinnen giebt es in
Paris 10 oder 12 klösterliche Anstalten, die eine große Masse von Frauen¬
arbeit besorgen. Graf d'Haussonville beklagt es, daß auch diese die Preise
drücken, statt sich gegenseitig zu verständigen, um ihren Arbeiterinnen bessere
Löhne gewähren zu können.


Frauenlöhne in Frankreich

Für die Nahrung bleiben 65 Centimes täglich, die sich wie folgt verteilen:

Morgens Milch......0,06 Franken
Brot für den ganzen Tag. . .0.20
Mittags Blutwurst oder dergleichen0.10
Bratkartoffeln......>0,06
Käse..........0.10 ,.
Abends ein Würstchen ....0.10
Kartoffeln ........0,05
Summa 0,6S Franken

Daß sich ein solches Mädchen nicht satt essen kann, ist leicht begreiflich,
aber wie viele müssen sich damit begnügen. Und sie sind noch froh, wenn
sie das ganze Jahr Arbeit behalten, denn sobald diese ausbleibt, leiden sie
Hunger. Es ist begreiflich, daß unter solchen Umständen viele der Verführung
anheimfallen. In Paris waren 1896 von 58706 Geburten 16814 unehelich,
also mehr als 30 Prozent (in ganz Frankreich etwa 8 Prozent). In den
Bezirken, wo die Zahl der Arbeiterinnen besonders groß ist, stieg der Prozent¬
satz der unehelichen Geburten sogar auf 40 und 50 Prozent. Berolft nennt
dies „das moralische Elend der Arbeiterin." Der Graf d'Haussonville hebt
dem gegenüber aber auch die Tugend der Pariser Arbeiterin hervor, denn es
giebt anch tugendhafte Mädchen und Frauen unter ihnen, die sich trotz ihres
geringen Lohnes die Heiterkeit des Gemüts und die Reinheit bewahren. Unter
den besser gestellten Arbeiterinnen verdient die Maschinennäherin 3 bis
3,50 Franken täglich und die Verkäuferin bis zu 4 Franken. Es giebt aller¬
dings einzelne Näherinnen, Modistinnen und Blumenmacherinnen, die noch
mehr verdienen, aber ihre Zahl ist gering, und im allgemeinen kann man sagen,
daß der Jahresverdicnst einer tüchtigen Arbeiterin 900 bis 1200 Franken
nicht übersteigt.

Die Löhne könnten dadurch eine Aufbesserung erfahren, daß sich die
Arbeiterinnen organisierten, aber es fehlt an einem festen Zusammenschluß.
Die Arbeiter haben in vielen Zweigen in den letzten Jahrzehnten durch ihre
Gewerkschaften (sMäioaw) eine bedeutende Lohnsteigeruug durchgesetzt. In ganz
Frankreich giebt es nur 26 ausschließlich weibliche Gewerkschaften. In Paris
giebt es zwei Nüherinnenverbändc, aber sie zählen nur wenige Mitglieder.
(Das SMÄieat as 1'aiFutIls zählt nur 1200 Näherinnen als Mitglieder, und
von diesen bezahlt kaum die Hälfte den Beitrag von einem Franken monatlich!)
Und doch beläuft sich die Zahl der Näherinnen und Konfektionsarbeiterinnen
auf 300000! Sie leben getrennt in der ungeheuern Stadt, sie kennen sich
gegenseitig nicht, und jede nimmt selbst zu den niedrigsten Preisen Arbeit an,
sei es, weil sie ausschließlich darauf angewiesen ist, sei es, weil der Verdienst
ihres Mannes nicht genügt. Außer den Zwischenmeisterinnen giebt es in
Paris 10 oder 12 klösterliche Anstalten, die eine große Masse von Frauen¬
arbeit besorgen. Graf d'Haussonville beklagt es, daß auch diese die Preise
drücken, statt sich gegenseitig zu verständigen, um ihren Arbeiterinnen bessere
Löhne gewähren zu können.


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[0619] Frauenlöhne in Frankreich Für die Nahrung bleiben 65 Centimes täglich, die sich wie folgt verteilen: Morgens Milch......0,06 Franken Brot für den ganzen Tag. . .0.20 Mittags Blutwurst oder dergleichen0.10 Bratkartoffeln......>0,06 Käse..........0.10 ,. Abends ein Würstchen ....0.10 Kartoffeln ........0,05 Summa 0,6S Franken Daß sich ein solches Mädchen nicht satt essen kann, ist leicht begreiflich, aber wie viele müssen sich damit begnügen. Und sie sind noch froh, wenn sie das ganze Jahr Arbeit behalten, denn sobald diese ausbleibt, leiden sie Hunger. Es ist begreiflich, daß unter solchen Umständen viele der Verführung anheimfallen. In Paris waren 1896 von 58706 Geburten 16814 unehelich, also mehr als 30 Prozent (in ganz Frankreich etwa 8 Prozent). In den Bezirken, wo die Zahl der Arbeiterinnen besonders groß ist, stieg der Prozent¬ satz der unehelichen Geburten sogar auf 40 und 50 Prozent. Berolft nennt dies „das moralische Elend der Arbeiterin." Der Graf d'Haussonville hebt dem gegenüber aber auch die Tugend der Pariser Arbeiterin hervor, denn es giebt anch tugendhafte Mädchen und Frauen unter ihnen, die sich trotz ihres geringen Lohnes die Heiterkeit des Gemüts und die Reinheit bewahren. Unter den besser gestellten Arbeiterinnen verdient die Maschinennäherin 3 bis 3,50 Franken täglich und die Verkäuferin bis zu 4 Franken. Es giebt aller¬ dings einzelne Näherinnen, Modistinnen und Blumenmacherinnen, die noch mehr verdienen, aber ihre Zahl ist gering, und im allgemeinen kann man sagen, daß der Jahresverdicnst einer tüchtigen Arbeiterin 900 bis 1200 Franken nicht übersteigt. Die Löhne könnten dadurch eine Aufbesserung erfahren, daß sich die Arbeiterinnen organisierten, aber es fehlt an einem festen Zusammenschluß. Die Arbeiter haben in vielen Zweigen in den letzten Jahrzehnten durch ihre Gewerkschaften (sMäioaw) eine bedeutende Lohnsteigeruug durchgesetzt. In ganz Frankreich giebt es nur 26 ausschließlich weibliche Gewerkschaften. In Paris giebt es zwei Nüherinnenverbändc, aber sie zählen nur wenige Mitglieder. (Das SMÄieat as 1'aiFutIls zählt nur 1200 Näherinnen als Mitglieder, und von diesen bezahlt kaum die Hälfte den Beitrag von einem Franken monatlich!) Und doch beläuft sich die Zahl der Näherinnen und Konfektionsarbeiterinnen auf 300000! Sie leben getrennt in der ungeheuern Stadt, sie kennen sich gegenseitig nicht, und jede nimmt selbst zu den niedrigsten Preisen Arbeit an, sei es, weil sie ausschließlich darauf angewiesen ist, sei es, weil der Verdienst ihres Mannes nicht genügt. Außer den Zwischenmeisterinnen giebt es in Paris 10 oder 12 klösterliche Anstalten, die eine große Masse von Frauen¬ arbeit besorgen. Graf d'Haussonville beklagt es, daß auch diese die Preise drücken, statt sich gegenseitig zu verständigen, um ihren Arbeiterinnen bessere Löhne gewähren zu können.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/619>, abgerufen am 03.07.2024.