Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.Litteratur an sich band; Otto I. gab dies auf, um mit Hilfe der Kirche eine dem deutschen Wesen Litteratur an sich band; Otto I. gab dies auf, um mit Hilfe der Kirche eine dem deutschen Wesen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0559" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290970"/> <fw type="header" place="top"> Litteratur</fw><lb/> <p xml:id="ID_1867" prev="#ID_1866" next="#ID_1868"> an sich band; Otto I. gab dies auf, um mit Hilfe der Kirche eine dem deutschen Wesen<lb/> nicht entsprechende Ordnung aufzurichten (weil nämlich die „Bindung" der Herzöge<lb/> vollkommen versagte!), Daun wurde das Jndividualitätspriuzip im Lehnswesen<lb/> verwirklicht. Friedrich I. versäumte die Vollendung, indem er den römischen Cäsa¬<lb/> rismus, d. h. das romanische Autoritätsprinzip an die Stelle feste; da ihm aber<lb/> darin das Papsttum als der legitime Erbe des römischen Imperiums weit über¬<lb/> legen war, so unterlagen er und seine Nachfolger in dem dadurch heraufbeschwor»«»<lb/> Kampfe, dem die Nation selbst fern blieb, und die lehusrechtliche Bindung führte<lb/> zu einzelstaatlichen Bildungen, also zur Zerreißung des Reichs. Das klingt alles<lb/> ganz annehmbar, ist aber Konstruktion und entspricht nicht den historischen That¬<lb/> sachen. Friedrich Barbarossa hat den Cäsarismus nicht in Deutschland, sondern<lb/> nur in Italien erstrebt; in Deutschland hat gerade er das Lehnswesen vollendet;<lb/> sein Kampf mit den, Papsttum war einfach ein Kampf um die Behauptung der<lb/> bedrohten Souveränität des Staats, d. h. seines Wesens gegen die Kirche, und in<lb/> diesem unvermeidlichen Kampfe, wie in dein Kampfe gegen die lombardische Städte¬<lb/> freiheit, deren germanischer Individualismus sich dem römischen Autoritätsprinzip<lb/> widersetzte, hat Friedrich I. die deutsche Nation unzweifelhaft hinter sich gehabt.<lb/> Erst seinen! dritten Nachfolger, Friedrich II., hat sie sich versagt, weil dieser selbst<lb/> die deutschen Interessen beiseite schob. Was aber die lehusrechtliche Ausbildung<lb/> der Eiuzelfürstentümcr bedeutete, liegt auf der Hand: die Auflösung jeder wirklich<lb/> staatlichen Ordnung durch den schrankenlosen „Individualismus" der Lehnsträger.<lb/> Denn der Individualismus, zumal der deutsche, hat wahrhaftig nicht nur staats¬<lb/> bildend, sondern ebensosehr staatszerstöreud gewirkt. Unzweifelhaft richtig ist es<lb/> natürlich, daß Luther dem deutschen Individualismus auf religiösem Gebiete zum<lb/> Siege verhalf, und eine ebenso geistvolle wie wahre Auffassung, daß die brcmden-<lb/> burgisch-preußischen Fürsten, vor allem König Friedrich Wilhelm I., ihn in neuer<lb/> Gestalt zum Grundstein ihres Stnatsbaus machten, indem sie den Staat auf die<lb/> Mannentreue, die Persönliche Hingebung des Beamtentums und des „Offiziertnms"<lb/> an den König begründeten. Darum erscheint dem Verfasser das Preußentum als<lb/> „die politische Fassung des Deutschtums," während der Individualismus der außer¬<lb/> preußischen Deutschen staatsfeindlich wurde und so auch in der Litteratur zum Aus¬<lb/> druck kam, nur daß Goethe im Götz wie im Werther dem Individuum, das sich<lb/> gegen die zwingende Neuordnung des Staates und die altüberlieferte Ordnung<lb/> der Gesellschaft auflehnt, Unrecht giebt und es tragisch untergehn läßt. Weil die<lb/> neuen leitenden Stände nach 1786 ihre Stellung nicht mehr als Pflicht, sondern<lb/> als Vorrecht auffaßten, somit das Volk dem Staate entfremdeten, ging das alte<lb/> Preußen 1806/7 zu Grunde. Es wurde wieder hergestellt durch die persönliche<lb/> Hingebung aller Stände an den Staat und ' nach 1815 neugestaltet durch das<lb/> erneuerte preußische Beamtentnm, entwickelte aber die neue politische Form, i» der<lb/> sich der deutsche Individualismus anderwärts zur Geltung brachte, das Verfassnngs-<lb/> leben nach französischem und englischem Muster, zunächst nicht. Daß sich Friedrich<lb/> Wilhelm IV. dagegen sträubte, entsprang nicht einer romantischen Grille, sondern<lb/> hatte eine tiefe Berechtigung, da der Konstitutionalismus in seiner damaligen Ans-<lb/> prnguug viel Altdeutsches hatte; aber sein eignes ständisches Staatsideal war will¬<lb/> kürlich zurecht gemacht und schob den bürgerlichen Mittelstand zu Gunsten des<lb/> Grundherrcntums zu sehr zurück. Wenn er trotzdem 1848 im entscheidenden Augen¬<lb/> blicke nachgab, so war das eine großartige Selbstüberwindung, die von dem Ge¬<lb/> danken getragen war, daß sein ständisches Ideal undurchführbar sei. Echt deutsch<lb/> war auch die Haltung des Königs in der Kaiserfrage, denn die Frankfurter Neichs-<lb/> einheit ging von der republikanischen romanischen Idee der Volkssouveränität aus,<lb/> war also in ihrem Kerne undeutsch. Im Kampfe mit ähnlichen Idealen der Fort-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0559]
Litteratur
an sich band; Otto I. gab dies auf, um mit Hilfe der Kirche eine dem deutschen Wesen
nicht entsprechende Ordnung aufzurichten (weil nämlich die „Bindung" der Herzöge
vollkommen versagte!), Daun wurde das Jndividualitätspriuzip im Lehnswesen
verwirklicht. Friedrich I. versäumte die Vollendung, indem er den römischen Cäsa¬
rismus, d. h. das romanische Autoritätsprinzip an die Stelle feste; da ihm aber
darin das Papsttum als der legitime Erbe des römischen Imperiums weit über¬
legen war, so unterlagen er und seine Nachfolger in dem dadurch heraufbeschwor»«»
Kampfe, dem die Nation selbst fern blieb, und die lehusrechtliche Bindung führte
zu einzelstaatlichen Bildungen, also zur Zerreißung des Reichs. Das klingt alles
ganz annehmbar, ist aber Konstruktion und entspricht nicht den historischen That¬
sachen. Friedrich Barbarossa hat den Cäsarismus nicht in Deutschland, sondern
nur in Italien erstrebt; in Deutschland hat gerade er das Lehnswesen vollendet;
sein Kampf mit den, Papsttum war einfach ein Kampf um die Behauptung der
bedrohten Souveränität des Staats, d. h. seines Wesens gegen die Kirche, und in
diesem unvermeidlichen Kampfe, wie in dein Kampfe gegen die lombardische Städte¬
freiheit, deren germanischer Individualismus sich dem römischen Autoritätsprinzip
widersetzte, hat Friedrich I. die deutsche Nation unzweifelhaft hinter sich gehabt.
Erst seinen! dritten Nachfolger, Friedrich II., hat sie sich versagt, weil dieser selbst
die deutschen Interessen beiseite schob. Was aber die lehusrechtliche Ausbildung
der Eiuzelfürstentümcr bedeutete, liegt auf der Hand: die Auflösung jeder wirklich
staatlichen Ordnung durch den schrankenlosen „Individualismus" der Lehnsträger.
Denn der Individualismus, zumal der deutsche, hat wahrhaftig nicht nur staats¬
bildend, sondern ebensosehr staatszerstöreud gewirkt. Unzweifelhaft richtig ist es
natürlich, daß Luther dem deutschen Individualismus auf religiösem Gebiete zum
Siege verhalf, und eine ebenso geistvolle wie wahre Auffassung, daß die brcmden-
burgisch-preußischen Fürsten, vor allem König Friedrich Wilhelm I., ihn in neuer
Gestalt zum Grundstein ihres Stnatsbaus machten, indem sie den Staat auf die
Mannentreue, die Persönliche Hingebung des Beamtentums und des „Offiziertnms"
an den König begründeten. Darum erscheint dem Verfasser das Preußentum als
„die politische Fassung des Deutschtums," während der Individualismus der außer¬
preußischen Deutschen staatsfeindlich wurde und so auch in der Litteratur zum Aus¬
druck kam, nur daß Goethe im Götz wie im Werther dem Individuum, das sich
gegen die zwingende Neuordnung des Staates und die altüberlieferte Ordnung
der Gesellschaft auflehnt, Unrecht giebt und es tragisch untergehn läßt. Weil die
neuen leitenden Stände nach 1786 ihre Stellung nicht mehr als Pflicht, sondern
als Vorrecht auffaßten, somit das Volk dem Staate entfremdeten, ging das alte
Preußen 1806/7 zu Grunde. Es wurde wieder hergestellt durch die persönliche
Hingebung aller Stände an den Staat und ' nach 1815 neugestaltet durch das
erneuerte preußische Beamtentnm, entwickelte aber die neue politische Form, i» der
sich der deutsche Individualismus anderwärts zur Geltung brachte, das Verfassnngs-
leben nach französischem und englischem Muster, zunächst nicht. Daß sich Friedrich
Wilhelm IV. dagegen sträubte, entsprang nicht einer romantischen Grille, sondern
hatte eine tiefe Berechtigung, da der Konstitutionalismus in seiner damaligen Ans-
prnguug viel Altdeutsches hatte; aber sein eignes ständisches Staatsideal war will¬
kürlich zurecht gemacht und schob den bürgerlichen Mittelstand zu Gunsten des
Grundherrcntums zu sehr zurück. Wenn er trotzdem 1848 im entscheidenden Augen¬
blicke nachgab, so war das eine großartige Selbstüberwindung, die von dem Ge¬
danken getragen war, daß sein ständisches Ideal undurchführbar sei. Echt deutsch
war auch die Haltung des Königs in der Kaiserfrage, denn die Frankfurter Neichs-
einheit ging von der republikanischen romanischen Idee der Volkssouveränität aus,
war also in ihrem Kerne undeutsch. Im Kampfe mit ähnlichen Idealen der Fort-
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