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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr.

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Europa und England

ein Kabinett, das wie das gegenwärtige mit vollendetem Cynismus alle
öffentliche Moral verleugnet, Lord Palmerston war ein Mann von wenig
moralischen Skrupeln, aber er war ein puritanischer "Harre-aus-in-der-Wahr-
heit" gegenüber einem Chamberlain. Kann man wohl noch von Tones und
Whigs reden, seit ein Salisburh es uicht verschmäht, einem Manne wie
Chamberlain die Hand zu reichen? Kann man sich der Entrüstung erwehren,
wenn man in dem Lande, das sich über die bulgarischen atroczitiss und die
un8xög.Iig.bi6 1'urlc8 entrüstete, aber ruhig die Armenier bewaffnete und dann
von den Türken massakrieren ließ -- wenn man in diesem Lande, sage ich,
Regierung und Volksvertretung gemeinsam auf eine Stufe sittlicher Stumpfheit
hinabsinken sieht, die für den Anspruch auf Gesittung, zu dein sich England
bekennt, in höherm Grade unspö^abls ist, als die sittliche Stumpfheit, mit
der die Türken ihren Rajahvölkern gegenüberstelln? Dieser Krieg kann bei
den angewandten Mitteln nicht anders als abstumpfend, verrohend auf die
öffentliche Volksmoral Englands wirken, es sei denn, daß zuletzt doch das
Gewissen erwacht und sich gegen ein Regiment auflehnt, das, Staat und
Volk entwürdigend, der Politik die Moral wilder Negerstämme unterlegt.
Es wäre elend, wenn wir andern es aus Politik unterließen, gegen solche
Politik laut zu protestieren.

Freilich, Proteste find eben nur Worte, und wenn sie der richtige Aus¬
druck unsrer sittlichen Anschauungen sind, so thun wir uns damit wohl auf
moralischem, nicht aber auf politischem Gebiete genug, ES wäre die höchste
Zeit für die europäischen Kontinentalstaaten, von Protesten und Entrüstung
zu Thaten und zu der Erkenntnis überzugehn, daß sie alle ein gemeinsames
Interesse gegenüber England verbindet, nämlich das Interesse, ein erträgliches
Gleichgewicht zur See herzustellen. Das ist auf einer Konferenz, wie die im
Haag war, nicht möglich. Andrerseits wird England sicher jede Gelegenheit
ergreifen, um nach alter Art die Kontinentalmächte gegeneinander zu werfen,
um kein maritimes Gleichgewicht aufkommen zu lassen, weshalb es von größten:
Nutzen wäre, wenn man die politische Methode Englands, wie sie sich aus
vielfacher Erfahrung ergiebt, jederzeit klar vor Augen hielte. Ich will deshalb
hier noch an eine solche Erfahrung erinnern.

Als Preußen im Jahre 1793 zwei unglückliche Feldzüge gegen das revo¬
lutionäre Frankreich im Bunde erst mit Österreich und dann auch mit Eng¬
land geführt hatte, neigte es zum Frieden. Aber Nußland wollte in Polen,
Österreich im Elsaß, England in der ganzen Welt Eroberungen machen, wozu
sie der Fortsetzung des Kampfes bedurften, Preußen sträubte sich, aber war
nicht standhaft genng gegenüber dein Köder von Eroberungen in West¬
deutschland und jenseits des Rheins und biß endlich 1794 an; es schloß mit
England einen Subsidienvertrag im Haag ab. "Von der einen Seite, heißt
es in einer preußischen Denkschrift aus dem Jahr 1795, wollte England den
Sturz des Handels seiner Nebenbuhlerin herbeiführen, sowie die Eroberung
des Königreichs Korsika und der französischen Inseln in beiden Indien, und
von der andern Seite überließ sich der Wiener Hof der kühnen Hoffnung, von


Europa und England

ein Kabinett, das wie das gegenwärtige mit vollendetem Cynismus alle
öffentliche Moral verleugnet, Lord Palmerston war ein Mann von wenig
moralischen Skrupeln, aber er war ein puritanischer „Harre-aus-in-der-Wahr-
heit" gegenüber einem Chamberlain. Kann man wohl noch von Tones und
Whigs reden, seit ein Salisburh es uicht verschmäht, einem Manne wie
Chamberlain die Hand zu reichen? Kann man sich der Entrüstung erwehren,
wenn man in dem Lande, das sich über die bulgarischen atroczitiss und die
un8xög.Iig.bi6 1'urlc8 entrüstete, aber ruhig die Armenier bewaffnete und dann
von den Türken massakrieren ließ — wenn man in diesem Lande, sage ich,
Regierung und Volksvertretung gemeinsam auf eine Stufe sittlicher Stumpfheit
hinabsinken sieht, die für den Anspruch auf Gesittung, zu dein sich England
bekennt, in höherm Grade unspö^abls ist, als die sittliche Stumpfheit, mit
der die Türken ihren Rajahvölkern gegenüberstelln? Dieser Krieg kann bei
den angewandten Mitteln nicht anders als abstumpfend, verrohend auf die
öffentliche Volksmoral Englands wirken, es sei denn, daß zuletzt doch das
Gewissen erwacht und sich gegen ein Regiment auflehnt, das, Staat und
Volk entwürdigend, der Politik die Moral wilder Negerstämme unterlegt.
Es wäre elend, wenn wir andern es aus Politik unterließen, gegen solche
Politik laut zu protestieren.

Freilich, Proteste find eben nur Worte, und wenn sie der richtige Aus¬
druck unsrer sittlichen Anschauungen sind, so thun wir uns damit wohl auf
moralischem, nicht aber auf politischem Gebiete genug, ES wäre die höchste
Zeit für die europäischen Kontinentalstaaten, von Protesten und Entrüstung
zu Thaten und zu der Erkenntnis überzugehn, daß sie alle ein gemeinsames
Interesse gegenüber England verbindet, nämlich das Interesse, ein erträgliches
Gleichgewicht zur See herzustellen. Das ist auf einer Konferenz, wie die im
Haag war, nicht möglich. Andrerseits wird England sicher jede Gelegenheit
ergreifen, um nach alter Art die Kontinentalmächte gegeneinander zu werfen,
um kein maritimes Gleichgewicht aufkommen zu lassen, weshalb es von größten:
Nutzen wäre, wenn man die politische Methode Englands, wie sie sich aus
vielfacher Erfahrung ergiebt, jederzeit klar vor Augen hielte. Ich will deshalb
hier noch an eine solche Erfahrung erinnern.

Als Preußen im Jahre 1793 zwei unglückliche Feldzüge gegen das revo¬
lutionäre Frankreich im Bunde erst mit Österreich und dann auch mit Eng¬
land geführt hatte, neigte es zum Frieden. Aber Nußland wollte in Polen,
Österreich im Elsaß, England in der ganzen Welt Eroberungen machen, wozu
sie der Fortsetzung des Kampfes bedurften, Preußen sträubte sich, aber war
nicht standhaft genng gegenüber dein Köder von Eroberungen in West¬
deutschland und jenseits des Rheins und biß endlich 1794 an; es schloß mit
England einen Subsidienvertrag im Haag ab. „Von der einen Seite, heißt
es in einer preußischen Denkschrift aus dem Jahr 1795, wollte England den
Sturz des Handels seiner Nebenbuhlerin herbeiführen, sowie die Eroberung
des Königreichs Korsika und der französischen Inseln in beiden Indien, und
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_290410/383>, abgerufen am 01.07.2024.