Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Unser Landvolk und die Kirche

und hat daran eine ähnliche Freude, wie auf. dem bekannten Defreggcrschen Bilde
die Tiroler Bauern an dem Salontiroler. Es versteht sich weiter von selber,
daß die ungeheure Verschiedenheit des geselligen und des wirtschaftlichen Lebens
in der Großstadt und auf dem Lande den Großstädter hindern muß, das
Bauernleben mit Verständnis und -- was mehr sagen will -- mit Teilnahme
zu beobachten. Die Bedingungen dieses Verständnisses und dieser Teilnahme
werden bei den erdrückenden Interessen des Großhandels und der Großindustrie,
bei dem ganzen Betriebe moderner Kunst und Litteratur immer schwieriger.

Leichter als der Großstädter hat es der Bewohner der Mittel- und Klein¬
stadt, wenn er den Bauern in seinem eigentümlichen Wesen kennen lernen will.
Zwischen der Mittel- und Kleinstadt einerseits und dem Lande andrerseits be-
stehn eben mehr Verbindungen als zwischen der Großstadt und dem Lande.
Aber diese Verbindungen sind vorwiegend geschäftlicher Art. Was außerhalb
dieser geschäftlichen Verbindungen liegt, dafür hat auch der Bewohner kleinerer
Städte selten ein Verständnis. Seine Aufmerksamkeit wendet sich unwillkürlich
mehr und mehr den großen Mittelpunkten des geschäftlichen und geselligen
Lebens zu. Auf das Landleben als solches achtet er nicht weiter; er findet
es sogar -- im Unterschiede vom Großstädter -- langweilig. Merkwürdig,
wie oft man dieser Ansicht gerade in kleinern Städten begegnet; ein Beweis,
daß man much da das Landleben eben nicht wirklich kennt.

Ist aber das Landleben im allgemeinen für die weitaus meisten Städter
etwas Fremdes, so ist ihnen der Ausschnitt aus dem ländlichen Leben, von
dem im folgenden die Rede sein soll, womöglich noch fremder.

Das wirtschaftliche Leben des Bauern läßt sich allenfalls durch bestimmte
Zahlenangaben umschreiben. Die Lebenshaltung des Bauern, seine Einnahmen,
seine Ausgaben, sein ganzer Wirtschaftsbetrieb lassen sich statistisch feststellen.
Aber ganz anders liegt der Fall beim religiösen und sittlichen Leben des
Bauern. Es handelt sich da um geistige Erscheinungen, die für die Beobach¬
tung nicht so bequem liegen wie die wirtschaftlichen Verhältnisse. Wer in die
geheime Gedankenwelt des Bauern eindringen will, muß in einem Vertrauens¬
verhältnis zu ihm stehn. Das Vertrauen kann durch keine bloß amtliche
Stellung erlangt, es kann nur durch persönlichen Umgang erworben werden,
und daß das nicht leicht ist, weiß jeder, der ans dem Lande lebt. In gewissem
Sinne ist es gerade der Pfarrer, der die meiste Mühe hat, bis er sich das
geheime Gebiet des bäuerlichen Seelenlebens zu eigen macht. Man sollte das
Gegenteil erwarten, daß sich dem Seelsorger mit einemmale die innere Welt
des Bauern aufthun müßte, eben weil er zum Pfleger des sittlichen und reli¬
giösen Lebens bestellt ist. In Wahrheit liegt die Sache ganz anders. Ich sehe
von dem Falle ab, daß der Pfarrer selber auf dem Lande geboren und groß
geworden ist. Ist aber der Pfarrer ein Stadtkind und in städtischen An¬
schauungen aufgewachsen, so hat er einen langjährigen und schweren Streit
mit seinen hergebrachten Anschauungen über Menschen und Welt, bis er sich
in der eigentiimlichen Gedankenwelt des Bauern zurechtfindet, und auch wenn


Unser Landvolk und die Kirche

und hat daran eine ähnliche Freude, wie auf. dem bekannten Defreggcrschen Bilde
die Tiroler Bauern an dem Salontiroler. Es versteht sich weiter von selber,
daß die ungeheure Verschiedenheit des geselligen und des wirtschaftlichen Lebens
in der Großstadt und auf dem Lande den Großstädter hindern muß, das
Bauernleben mit Verständnis und — was mehr sagen will — mit Teilnahme
zu beobachten. Die Bedingungen dieses Verständnisses und dieser Teilnahme
werden bei den erdrückenden Interessen des Großhandels und der Großindustrie,
bei dem ganzen Betriebe moderner Kunst und Litteratur immer schwieriger.

Leichter als der Großstädter hat es der Bewohner der Mittel- und Klein¬
stadt, wenn er den Bauern in seinem eigentümlichen Wesen kennen lernen will.
Zwischen der Mittel- und Kleinstadt einerseits und dem Lande andrerseits be-
stehn eben mehr Verbindungen als zwischen der Großstadt und dem Lande.
Aber diese Verbindungen sind vorwiegend geschäftlicher Art. Was außerhalb
dieser geschäftlichen Verbindungen liegt, dafür hat auch der Bewohner kleinerer
Städte selten ein Verständnis. Seine Aufmerksamkeit wendet sich unwillkürlich
mehr und mehr den großen Mittelpunkten des geschäftlichen und geselligen
Lebens zu. Auf das Landleben als solches achtet er nicht weiter; er findet
es sogar — im Unterschiede vom Großstädter — langweilig. Merkwürdig,
wie oft man dieser Ansicht gerade in kleinern Städten begegnet; ein Beweis,
daß man much da das Landleben eben nicht wirklich kennt.

Ist aber das Landleben im allgemeinen für die weitaus meisten Städter
etwas Fremdes, so ist ihnen der Ausschnitt aus dem ländlichen Leben, von
dem im folgenden die Rede sein soll, womöglich noch fremder.

Das wirtschaftliche Leben des Bauern läßt sich allenfalls durch bestimmte
Zahlenangaben umschreiben. Die Lebenshaltung des Bauern, seine Einnahmen,
seine Ausgaben, sein ganzer Wirtschaftsbetrieb lassen sich statistisch feststellen.
Aber ganz anders liegt der Fall beim religiösen und sittlichen Leben des
Bauern. Es handelt sich da um geistige Erscheinungen, die für die Beobach¬
tung nicht so bequem liegen wie die wirtschaftlichen Verhältnisse. Wer in die
geheime Gedankenwelt des Bauern eindringen will, muß in einem Vertrauens¬
verhältnis zu ihm stehn. Das Vertrauen kann durch keine bloß amtliche
Stellung erlangt, es kann nur durch persönlichen Umgang erworben werden,
und daß das nicht leicht ist, weiß jeder, der ans dem Lande lebt. In gewissem
Sinne ist es gerade der Pfarrer, der die meiste Mühe hat, bis er sich das
geheime Gebiet des bäuerlichen Seelenlebens zu eigen macht. Man sollte das
Gegenteil erwarten, daß sich dem Seelsorger mit einemmale die innere Welt
des Bauern aufthun müßte, eben weil er zum Pfleger des sittlichen und reli¬
giösen Lebens bestellt ist. In Wahrheit liegt die Sache ganz anders. Ich sehe
von dem Falle ab, daß der Pfarrer selber auf dem Lande geboren und groß
geworden ist. Ist aber der Pfarrer ein Stadtkind und in städtischen An¬
schauungen aufgewachsen, so hat er einen langjährigen und schweren Streit
mit seinen hergebrachten Anschauungen über Menschen und Welt, bis er sich
in der eigentiimlichen Gedankenwelt des Bauern zurechtfindet, und auch wenn


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0474" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/233026"/>
          <fw type="header" place="top"> Unser Landvolk und die Kirche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1547" prev="#ID_1546"> und hat daran eine ähnliche Freude, wie auf. dem bekannten Defreggcrschen Bilde<lb/>
die Tiroler Bauern an dem Salontiroler. Es versteht sich weiter von selber,<lb/>
daß die ungeheure Verschiedenheit des geselligen und des wirtschaftlichen Lebens<lb/>
in der Großstadt und auf dem Lande den Großstädter hindern muß, das<lb/>
Bauernleben mit Verständnis und &#x2014; was mehr sagen will &#x2014; mit Teilnahme<lb/>
zu beobachten. Die Bedingungen dieses Verständnisses und dieser Teilnahme<lb/>
werden bei den erdrückenden Interessen des Großhandels und der Großindustrie,<lb/>
bei dem ganzen Betriebe moderner Kunst und Litteratur immer schwieriger.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1548"> Leichter als der Großstädter hat es der Bewohner der Mittel- und Klein¬<lb/>
stadt, wenn er den Bauern in seinem eigentümlichen Wesen kennen lernen will.<lb/>
Zwischen der Mittel- und Kleinstadt einerseits und dem Lande andrerseits be-<lb/>
stehn eben mehr Verbindungen als zwischen der Großstadt und dem Lande.<lb/>
Aber diese Verbindungen sind vorwiegend geschäftlicher Art. Was außerhalb<lb/>
dieser geschäftlichen Verbindungen liegt, dafür hat auch der Bewohner kleinerer<lb/>
Städte selten ein Verständnis. Seine Aufmerksamkeit wendet sich unwillkürlich<lb/>
mehr und mehr den großen Mittelpunkten des geschäftlichen und geselligen<lb/>
Lebens zu. Auf das Landleben als solches achtet er nicht weiter; er findet<lb/>
es sogar &#x2014; im Unterschiede vom Großstädter &#x2014; langweilig. Merkwürdig,<lb/>
wie oft man dieser Ansicht gerade in kleinern Städten begegnet; ein Beweis,<lb/>
daß man much da das Landleben eben nicht wirklich kennt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1549"> Ist aber das Landleben im allgemeinen für die weitaus meisten Städter<lb/>
etwas Fremdes, so ist ihnen der Ausschnitt aus dem ländlichen Leben, von<lb/>
dem im folgenden die Rede sein soll, womöglich noch fremder.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1550" next="#ID_1551"> Das wirtschaftliche Leben des Bauern läßt sich allenfalls durch bestimmte<lb/>
Zahlenangaben umschreiben. Die Lebenshaltung des Bauern, seine Einnahmen,<lb/>
seine Ausgaben, sein ganzer Wirtschaftsbetrieb lassen sich statistisch feststellen.<lb/>
Aber ganz anders liegt der Fall beim religiösen und sittlichen Leben des<lb/>
Bauern. Es handelt sich da um geistige Erscheinungen, die für die Beobach¬<lb/>
tung nicht so bequem liegen wie die wirtschaftlichen Verhältnisse. Wer in die<lb/>
geheime Gedankenwelt des Bauern eindringen will, muß in einem Vertrauens¬<lb/>
verhältnis zu ihm stehn. Das Vertrauen kann durch keine bloß amtliche<lb/>
Stellung erlangt, es kann nur durch persönlichen Umgang erworben werden,<lb/>
und daß das nicht leicht ist, weiß jeder, der ans dem Lande lebt. In gewissem<lb/>
Sinne ist es gerade der Pfarrer, der die meiste Mühe hat, bis er sich das<lb/>
geheime Gebiet des bäuerlichen Seelenlebens zu eigen macht. Man sollte das<lb/>
Gegenteil erwarten, daß sich dem Seelsorger mit einemmale die innere Welt<lb/>
des Bauern aufthun müßte, eben weil er zum Pfleger des sittlichen und reli¬<lb/>
giösen Lebens bestellt ist. In Wahrheit liegt die Sache ganz anders. Ich sehe<lb/>
von dem Falle ab, daß der Pfarrer selber auf dem Lande geboren und groß<lb/>
geworden ist. Ist aber der Pfarrer ein Stadtkind und in städtischen An¬<lb/>
schauungen aufgewachsen, so hat er einen langjährigen und schweren Streit<lb/>
mit seinen hergebrachten Anschauungen über Menschen und Welt, bis er sich<lb/>
in der eigentiimlichen Gedankenwelt des Bauern zurechtfindet, und auch wenn</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0474] Unser Landvolk und die Kirche und hat daran eine ähnliche Freude, wie auf. dem bekannten Defreggcrschen Bilde die Tiroler Bauern an dem Salontiroler. Es versteht sich weiter von selber, daß die ungeheure Verschiedenheit des geselligen und des wirtschaftlichen Lebens in der Großstadt und auf dem Lande den Großstädter hindern muß, das Bauernleben mit Verständnis und — was mehr sagen will — mit Teilnahme zu beobachten. Die Bedingungen dieses Verständnisses und dieser Teilnahme werden bei den erdrückenden Interessen des Großhandels und der Großindustrie, bei dem ganzen Betriebe moderner Kunst und Litteratur immer schwieriger. Leichter als der Großstädter hat es der Bewohner der Mittel- und Klein¬ stadt, wenn er den Bauern in seinem eigentümlichen Wesen kennen lernen will. Zwischen der Mittel- und Kleinstadt einerseits und dem Lande andrerseits be- stehn eben mehr Verbindungen als zwischen der Großstadt und dem Lande. Aber diese Verbindungen sind vorwiegend geschäftlicher Art. Was außerhalb dieser geschäftlichen Verbindungen liegt, dafür hat auch der Bewohner kleinerer Städte selten ein Verständnis. Seine Aufmerksamkeit wendet sich unwillkürlich mehr und mehr den großen Mittelpunkten des geschäftlichen und geselligen Lebens zu. Auf das Landleben als solches achtet er nicht weiter; er findet es sogar — im Unterschiede vom Großstädter — langweilig. Merkwürdig, wie oft man dieser Ansicht gerade in kleinern Städten begegnet; ein Beweis, daß man much da das Landleben eben nicht wirklich kennt. Ist aber das Landleben im allgemeinen für die weitaus meisten Städter etwas Fremdes, so ist ihnen der Ausschnitt aus dem ländlichen Leben, von dem im folgenden die Rede sein soll, womöglich noch fremder. Das wirtschaftliche Leben des Bauern läßt sich allenfalls durch bestimmte Zahlenangaben umschreiben. Die Lebenshaltung des Bauern, seine Einnahmen, seine Ausgaben, sein ganzer Wirtschaftsbetrieb lassen sich statistisch feststellen. Aber ganz anders liegt der Fall beim religiösen und sittlichen Leben des Bauern. Es handelt sich da um geistige Erscheinungen, die für die Beobach¬ tung nicht so bequem liegen wie die wirtschaftlichen Verhältnisse. Wer in die geheime Gedankenwelt des Bauern eindringen will, muß in einem Vertrauens¬ verhältnis zu ihm stehn. Das Vertrauen kann durch keine bloß amtliche Stellung erlangt, es kann nur durch persönlichen Umgang erworben werden, und daß das nicht leicht ist, weiß jeder, der ans dem Lande lebt. In gewissem Sinne ist es gerade der Pfarrer, der die meiste Mühe hat, bis er sich das geheime Gebiet des bäuerlichen Seelenlebens zu eigen macht. Man sollte das Gegenteil erwarten, daß sich dem Seelsorger mit einemmale die innere Welt des Bauern aufthun müßte, eben weil er zum Pfleger des sittlichen und reli¬ giösen Lebens bestellt ist. In Wahrheit liegt die Sache ganz anders. Ich sehe von dem Falle ab, daß der Pfarrer selber auf dem Lande geboren und groß geworden ist. Ist aber der Pfarrer ein Stadtkind und in städtischen An¬ schauungen aufgewachsen, so hat er einen langjährigen und schweren Streit mit seinen hergebrachten Anschauungen über Menschen und Welt, bis er sich in der eigentiimlichen Gedankenwelt des Bauern zurechtfindet, und auch wenn

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/474
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/474>, abgerufen am 04.07.2024.