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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Litteratur

christliches Lehrgedicht von Emil Lcibry (Münster i, W,, Capito), das sich mit
Recht als "Eine Gabe für Erwachsene" einführt, denn Kinder bekommen es besser
nicht in die Hände. Petrus wird von dem Herrn auf die Erde entsandt in eine
größere Stadt, etwa Köln, um zu sehen, wie es da zu dieser Frist hergeht. Er
kommt zweimal, zuerst zu Weihnachten, dann um Johannis, Das einemal feiert
er gute Weihnachten bei armen Leuten und unerquickliche bei reichen, hört mit
Mißfallen einen evangelischen Prediger, der gegen die Katholiken wettert, deren
gute Werke doch in der Kranken- und Armenpflege zu Tage liegen, und deren
Gottesdienst auf den heiligen Petrus einen recht vorteilhaften Eindruck macht. Der
Verfasser scheint ein freigerichteter Katholik zu sein, der päpstlichen Unfehlbarkeit
ist er ebenso abgeneigt wie dem strengen protestantischen Kirchentum. Auf seiner
zweiten Wandrung kostet Petrus den dermaligen Zustand jener ungenannten Stadt,
die an Stelle aller als Beispiel dient, nach dem Schema der zehn Gebote durch,
und er lernt, was gut und böse ist, der Reihe nach kennen: Sonntagsruhe, Wirts-
hausleben, Versicherung und freie Wohlthätigkeit, Sünden gegen das sechste Gebot
(sehr eingehend, besonders aufklärend für Kinder, wenn sie das Buch doch einmal
erwischen sollten), Polizei, Handel, Streik, Toleranz ("Herr, sprach Petrus, jedes
Volk hat -- Seine Juden, dies verdienet").

Der vierfüßige Trochäus verlangt zwar keine sehr große formale Begabung,
er bleibt aber bei aller Annäherung an die Prosarede doch immer eine poetische
Form, zu deren Handhabung noch mehr gehört als Auszählen der Silben und die
nötige Menge Apostrophe. "Sollt' dein liebevolles Wirken, Sollt' dein Leiden
und dein Sterben Wohl gewesen sein vergeblich?" Das ist gewiß alles andre als
Poesie! Seit Heine empfinden wir nun ferner diese kurzen Trochäen leicht parodisch,
und ein Dichter, der nicht absichtlich ins Spaßhafte fallen will, hat daher sehr ans
seiner Hut zu sein. Der Verfasser aber parodiert wider Willen, z. B. bei der
Sonntagsruhe:


Vom Genuß des vielen Vieres
Und auch mannigfacher Schnäpse
Ist der Männer Sinn umnebelt.
Und mit überlauter Stimme
Streiten jene miteinander;
Wenn sie zu erhitzt sind, schreiten
Sie noch gar zu Thätlichkeiten.

Oder gelegentlich des Dynamits:


Wenn verhaßt ist ein Minister,
Ist er nie des Lebens sicher,
Und gar mancher ist als Opfer
Dieser Meute schon gefallen.
Selbst Monarchen, die gesetzet
Doch von Gott sind und gesalbet

usw. Wer dabei ernsthaft bleibt, dem muß schon an dem Tage, wo er es liest,
etwas recht Verdrießliches passiert sein. Außer den Kindern wären also mindestens
"och Studenten und andre lose Vögel von der Lektüre auszuschließen. Es ist schade,
de-ß sich nicht zu so vielem Ernst und löblichem Willen der Geschmack als Hüter
des Ausdrucks eingefunden, oder daß nicht ein guter Freund dem Versasser gesagt
hat, wie viel besser sich sein Stoff in eine schlichte, legendenartig gehaltne Prosn-
erzählung hätte einkleiden lassen, während wir jetzt wirklich in Verlegenheit wären,
sollten wir angeben, welche Klasse von erwachsenen Lesern eigentlich an dieser
Dichtung Freude haben möchte.


Litteratur

christliches Lehrgedicht von Emil Lcibry (Münster i, W,, Capito), das sich mit
Recht als „Eine Gabe für Erwachsene" einführt, denn Kinder bekommen es besser
nicht in die Hände. Petrus wird von dem Herrn auf die Erde entsandt in eine
größere Stadt, etwa Köln, um zu sehen, wie es da zu dieser Frist hergeht. Er
kommt zweimal, zuerst zu Weihnachten, dann um Johannis, Das einemal feiert
er gute Weihnachten bei armen Leuten und unerquickliche bei reichen, hört mit
Mißfallen einen evangelischen Prediger, der gegen die Katholiken wettert, deren
gute Werke doch in der Kranken- und Armenpflege zu Tage liegen, und deren
Gottesdienst auf den heiligen Petrus einen recht vorteilhaften Eindruck macht. Der
Verfasser scheint ein freigerichteter Katholik zu sein, der päpstlichen Unfehlbarkeit
ist er ebenso abgeneigt wie dem strengen protestantischen Kirchentum. Auf seiner
zweiten Wandrung kostet Petrus den dermaligen Zustand jener ungenannten Stadt,
die an Stelle aller als Beispiel dient, nach dem Schema der zehn Gebote durch,
und er lernt, was gut und böse ist, der Reihe nach kennen: Sonntagsruhe, Wirts-
hausleben, Versicherung und freie Wohlthätigkeit, Sünden gegen das sechste Gebot
(sehr eingehend, besonders aufklärend für Kinder, wenn sie das Buch doch einmal
erwischen sollten), Polizei, Handel, Streik, Toleranz („Herr, sprach Petrus, jedes
Volk hat — Seine Juden, dies verdienet").

Der vierfüßige Trochäus verlangt zwar keine sehr große formale Begabung,
er bleibt aber bei aller Annäherung an die Prosarede doch immer eine poetische
Form, zu deren Handhabung noch mehr gehört als Auszählen der Silben und die
nötige Menge Apostrophe. „Sollt' dein liebevolles Wirken, Sollt' dein Leiden
und dein Sterben Wohl gewesen sein vergeblich?" Das ist gewiß alles andre als
Poesie! Seit Heine empfinden wir nun ferner diese kurzen Trochäen leicht parodisch,
und ein Dichter, der nicht absichtlich ins Spaßhafte fallen will, hat daher sehr ans
seiner Hut zu sein. Der Verfasser aber parodiert wider Willen, z. B. bei der
Sonntagsruhe:


Vom Genuß des vielen Vieres
Und auch mannigfacher Schnäpse
Ist der Männer Sinn umnebelt.
Und mit überlauter Stimme
Streiten jene miteinander;
Wenn sie zu erhitzt sind, schreiten
Sie noch gar zu Thätlichkeiten.

Oder gelegentlich des Dynamits:


Wenn verhaßt ist ein Minister,
Ist er nie des Lebens sicher,
Und gar mancher ist als Opfer
Dieser Meute schon gefallen.
Selbst Monarchen, die gesetzet
Doch von Gott sind und gesalbet

usw. Wer dabei ernsthaft bleibt, dem muß schon an dem Tage, wo er es liest,
etwas recht Verdrießliches passiert sein. Außer den Kindern wären also mindestens
«och Studenten und andre lose Vögel von der Lektüre auszuschließen. Es ist schade,
de-ß sich nicht zu so vielem Ernst und löblichem Willen der Geschmack als Hüter
des Ausdrucks eingefunden, oder daß nicht ein guter Freund dem Versasser gesagt
hat, wie viel besser sich sein Stoff in eine schlichte, legendenartig gehaltne Prosn-
erzählung hätte einkleiden lassen, während wir jetzt wirklich in Verlegenheit wären,
sollten wir angeben, welche Klasse von erwachsenen Lesern eigentlich an dieser
Dichtung Freude haben möchte.


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[0373] Litteratur christliches Lehrgedicht von Emil Lcibry (Münster i, W,, Capito), das sich mit Recht als „Eine Gabe für Erwachsene" einführt, denn Kinder bekommen es besser nicht in die Hände. Petrus wird von dem Herrn auf die Erde entsandt in eine größere Stadt, etwa Köln, um zu sehen, wie es da zu dieser Frist hergeht. Er kommt zweimal, zuerst zu Weihnachten, dann um Johannis, Das einemal feiert er gute Weihnachten bei armen Leuten und unerquickliche bei reichen, hört mit Mißfallen einen evangelischen Prediger, der gegen die Katholiken wettert, deren gute Werke doch in der Kranken- und Armenpflege zu Tage liegen, und deren Gottesdienst auf den heiligen Petrus einen recht vorteilhaften Eindruck macht. Der Verfasser scheint ein freigerichteter Katholik zu sein, der päpstlichen Unfehlbarkeit ist er ebenso abgeneigt wie dem strengen protestantischen Kirchentum. Auf seiner zweiten Wandrung kostet Petrus den dermaligen Zustand jener ungenannten Stadt, die an Stelle aller als Beispiel dient, nach dem Schema der zehn Gebote durch, und er lernt, was gut und böse ist, der Reihe nach kennen: Sonntagsruhe, Wirts- hausleben, Versicherung und freie Wohlthätigkeit, Sünden gegen das sechste Gebot (sehr eingehend, besonders aufklärend für Kinder, wenn sie das Buch doch einmal erwischen sollten), Polizei, Handel, Streik, Toleranz („Herr, sprach Petrus, jedes Volk hat — Seine Juden, dies verdienet"). Der vierfüßige Trochäus verlangt zwar keine sehr große formale Begabung, er bleibt aber bei aller Annäherung an die Prosarede doch immer eine poetische Form, zu deren Handhabung noch mehr gehört als Auszählen der Silben und die nötige Menge Apostrophe. „Sollt' dein liebevolles Wirken, Sollt' dein Leiden und dein Sterben Wohl gewesen sein vergeblich?" Das ist gewiß alles andre als Poesie! Seit Heine empfinden wir nun ferner diese kurzen Trochäen leicht parodisch, und ein Dichter, der nicht absichtlich ins Spaßhafte fallen will, hat daher sehr ans seiner Hut zu sein. Der Verfasser aber parodiert wider Willen, z. B. bei der Sonntagsruhe: Vom Genuß des vielen Vieres Und auch mannigfacher Schnäpse Ist der Männer Sinn umnebelt. Und mit überlauter Stimme Streiten jene miteinander; Wenn sie zu erhitzt sind, schreiten Sie noch gar zu Thätlichkeiten. Oder gelegentlich des Dynamits: Wenn verhaßt ist ein Minister, Ist er nie des Lebens sicher, Und gar mancher ist als Opfer Dieser Meute schon gefallen. Selbst Monarchen, die gesetzet Doch von Gott sind und gesalbet usw. Wer dabei ernsthaft bleibt, dem muß schon an dem Tage, wo er es liest, etwas recht Verdrießliches passiert sein. Außer den Kindern wären also mindestens «och Studenten und andre lose Vögel von der Lektüre auszuschließen. Es ist schade, de-ß sich nicht zu so vielem Ernst und löblichem Willen der Geschmack als Hüter des Ausdrucks eingefunden, oder daß nicht ein guter Freund dem Versasser gesagt hat, wie viel besser sich sein Stoff in eine schlichte, legendenartig gehaltne Prosn- erzählung hätte einkleiden lassen, während wir jetzt wirklich in Verlegenheit wären, sollten wir angeben, welche Klasse von erwachsenen Lesern eigentlich an dieser Dichtung Freude haben möchte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/373>, abgerufen am 26.06.2024.