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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Böhmische Wirren

Seit mehr als anderthalb Jahrhunderten hat sich österreichisches Wesen und
Empfinden wie das Wurzelwerk eines stattlichen Baums entwickelt und aus¬
gebreitet. Wie hätte von den Tausenden und aber Tausenden von Beamten
und Offizieren, die seit Maria Theresias Regierungsantritt für das Heer und
den Staatsdienst ausgebildet worden sind, und denen ihre Dienstzeit mit den
davon unzertrennlichen loyalen Gefühlen für das Kaiserhaus und den dvppel-
töpfigen Adler zum Mittel- und Brennpunkt ihrer Existenz geworden ist, sich
nichts auf ihre nächste Umgebung übertragen haben und auf die Nachwelt vererbt
sein sollen? Himmelweit verschieden von dem Straßen-, Cafe- und Thcaterlebcn
der lebenslustigen Kaiserstadt an der Donau und ihrem fast kosmopolitischen
Treiben sind die stillen, noch ganz nach früheren Zuschnitt lebenden öster¬
reichischen Familien, mit denen der Fremde wenig in Berührung kommt, nud
in denen sich in rührender Weise die Begeisterung für alles, was das Haus
Habsburg und dessen Erdtaube angeht, lebendig erhalten und vom Vater auf
den Sohn vererbt hat. Allen Ständen ungehörige und in allen Teilen des
Reichs anzutreffende Familien, die trotz ihrer räumlichen Zerstreuung engste
Fühlung untereinander halten und den Kitt abgeben, der neben der Kirche,
dem Beamtentum und dem Heere die heterogenen Teile des auseinanderstrebenden
Völkergemischs noch einigermaßen zusammenhält.

Daß man von dem Vorhandeusein dieser wichtigsten Grundlage eines
nationalen Gesamtbewußtseins so wenig merkt, und daß von dem Einflusse
einer so zahlreichen und stetigen Bevölkcruugsklasse auf die innere Politik des
Staats so wenig die Rede ist, davon liegt der Grund vornehmlich um der
Zurückgezogenheit, in der sich ihre Mitglieder gefallen, und in der Passivität
dieser Kreise. Zunächst erklärt sich diese einer regen Beteiligung am politischen
Leben der Nation widerstrebende Abgeschlossenheit dnrch das in den meisten
öffentlichen und privaten Lehranstalten herrschende Erziehnngsprinzip der Väter
von der Gesellschaft Jesu. Es ist, als ob es darin bestünde, daß sie den
Menschen auscinandernähmen und ihn nach gründlicher Beseitigung seiner an-
gebornen Gaben und Triebe und nach deren Ersetzung durch ein uniformes
Muster wohlanständiger Mittelmäßigkeit wieder zusammenfügten. Sogar Wallen¬
stein, der für sie zu hart gewesen war, und dein sie in Ingolstadt nicht ganz
hatten beikommen können, hatte doch schon einen kleinen Kraals bei ihnen
wegbekommen: die Schaffensfreude hatte er eingebüßt. Den Schliff und die
Routine seiner Beamten verdankt der Staat dieser Erziehungsart, aber dem
freien Hervortreten frischer Lebenskeime, dem "Gift der Neuerer," wie Domingo
es nennt, steht sie feindlich gegenüber.

Oft haftet dieser Erziehung der Makel der Schablonenmäßigkcit an; in
vielen Fällen vernichtet sie die Individualität; sie raubt dem Einzelnen, wenn
er nicht von besonders hartem Metall ist, die Originalität und die Initiative,
zwei Erfordernisse, ohne die ein selbständiges politisches Urteil und eine be¬
geisterte Hingebung an Aufgaben mit ferner liegenden Zielen fast undenkbar sind.
Man geht, an behagliches Sichhineinfinden in fertige Berufskreise gewöhnt,


Böhmische Wirren

Seit mehr als anderthalb Jahrhunderten hat sich österreichisches Wesen und
Empfinden wie das Wurzelwerk eines stattlichen Baums entwickelt und aus¬
gebreitet. Wie hätte von den Tausenden und aber Tausenden von Beamten
und Offizieren, die seit Maria Theresias Regierungsantritt für das Heer und
den Staatsdienst ausgebildet worden sind, und denen ihre Dienstzeit mit den
davon unzertrennlichen loyalen Gefühlen für das Kaiserhaus und den dvppel-
töpfigen Adler zum Mittel- und Brennpunkt ihrer Existenz geworden ist, sich
nichts auf ihre nächste Umgebung übertragen haben und auf die Nachwelt vererbt
sein sollen? Himmelweit verschieden von dem Straßen-, Cafe- und Thcaterlebcn
der lebenslustigen Kaiserstadt an der Donau und ihrem fast kosmopolitischen
Treiben sind die stillen, noch ganz nach früheren Zuschnitt lebenden öster¬
reichischen Familien, mit denen der Fremde wenig in Berührung kommt, nud
in denen sich in rührender Weise die Begeisterung für alles, was das Haus
Habsburg und dessen Erdtaube angeht, lebendig erhalten und vom Vater auf
den Sohn vererbt hat. Allen Ständen ungehörige und in allen Teilen des
Reichs anzutreffende Familien, die trotz ihrer räumlichen Zerstreuung engste
Fühlung untereinander halten und den Kitt abgeben, der neben der Kirche,
dem Beamtentum und dem Heere die heterogenen Teile des auseinanderstrebenden
Völkergemischs noch einigermaßen zusammenhält.

Daß man von dem Vorhandeusein dieser wichtigsten Grundlage eines
nationalen Gesamtbewußtseins so wenig merkt, und daß von dem Einflusse
einer so zahlreichen und stetigen Bevölkcruugsklasse auf die innere Politik des
Staats so wenig die Rede ist, davon liegt der Grund vornehmlich um der
Zurückgezogenheit, in der sich ihre Mitglieder gefallen, und in der Passivität
dieser Kreise. Zunächst erklärt sich diese einer regen Beteiligung am politischen
Leben der Nation widerstrebende Abgeschlossenheit dnrch das in den meisten
öffentlichen und privaten Lehranstalten herrschende Erziehnngsprinzip der Väter
von der Gesellschaft Jesu. Es ist, als ob es darin bestünde, daß sie den
Menschen auscinandernähmen und ihn nach gründlicher Beseitigung seiner an-
gebornen Gaben und Triebe und nach deren Ersetzung durch ein uniformes
Muster wohlanständiger Mittelmäßigkeit wieder zusammenfügten. Sogar Wallen¬
stein, der für sie zu hart gewesen war, und dein sie in Ingolstadt nicht ganz
hatten beikommen können, hatte doch schon einen kleinen Kraals bei ihnen
wegbekommen: die Schaffensfreude hatte er eingebüßt. Den Schliff und die
Routine seiner Beamten verdankt der Staat dieser Erziehungsart, aber dem
freien Hervortreten frischer Lebenskeime, dem „Gift der Neuerer," wie Domingo
es nennt, steht sie feindlich gegenüber.

Oft haftet dieser Erziehung der Makel der Schablonenmäßigkcit an; in
vielen Fällen vernichtet sie die Individualität; sie raubt dem Einzelnen, wenn
er nicht von besonders hartem Metall ist, die Originalität und die Initiative,
zwei Erfordernisse, ohne die ein selbständiges politisches Urteil und eine be¬
geisterte Hingebung an Aufgaben mit ferner liegenden Zielen fast undenkbar sind.
Man geht, an behagliches Sichhineinfinden in fertige Berufskreise gewöhnt,


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[0292] Böhmische Wirren Seit mehr als anderthalb Jahrhunderten hat sich österreichisches Wesen und Empfinden wie das Wurzelwerk eines stattlichen Baums entwickelt und aus¬ gebreitet. Wie hätte von den Tausenden und aber Tausenden von Beamten und Offizieren, die seit Maria Theresias Regierungsantritt für das Heer und den Staatsdienst ausgebildet worden sind, und denen ihre Dienstzeit mit den davon unzertrennlichen loyalen Gefühlen für das Kaiserhaus und den dvppel- töpfigen Adler zum Mittel- und Brennpunkt ihrer Existenz geworden ist, sich nichts auf ihre nächste Umgebung übertragen haben und auf die Nachwelt vererbt sein sollen? Himmelweit verschieden von dem Straßen-, Cafe- und Thcaterlebcn der lebenslustigen Kaiserstadt an der Donau und ihrem fast kosmopolitischen Treiben sind die stillen, noch ganz nach früheren Zuschnitt lebenden öster¬ reichischen Familien, mit denen der Fremde wenig in Berührung kommt, nud in denen sich in rührender Weise die Begeisterung für alles, was das Haus Habsburg und dessen Erdtaube angeht, lebendig erhalten und vom Vater auf den Sohn vererbt hat. Allen Ständen ungehörige und in allen Teilen des Reichs anzutreffende Familien, die trotz ihrer räumlichen Zerstreuung engste Fühlung untereinander halten und den Kitt abgeben, der neben der Kirche, dem Beamtentum und dem Heere die heterogenen Teile des auseinanderstrebenden Völkergemischs noch einigermaßen zusammenhält. Daß man von dem Vorhandeusein dieser wichtigsten Grundlage eines nationalen Gesamtbewußtseins so wenig merkt, und daß von dem Einflusse einer so zahlreichen und stetigen Bevölkcruugsklasse auf die innere Politik des Staats so wenig die Rede ist, davon liegt der Grund vornehmlich um der Zurückgezogenheit, in der sich ihre Mitglieder gefallen, und in der Passivität dieser Kreise. Zunächst erklärt sich diese einer regen Beteiligung am politischen Leben der Nation widerstrebende Abgeschlossenheit dnrch das in den meisten öffentlichen und privaten Lehranstalten herrschende Erziehnngsprinzip der Väter von der Gesellschaft Jesu. Es ist, als ob es darin bestünde, daß sie den Menschen auscinandernähmen und ihn nach gründlicher Beseitigung seiner an- gebornen Gaben und Triebe und nach deren Ersetzung durch ein uniformes Muster wohlanständiger Mittelmäßigkeit wieder zusammenfügten. Sogar Wallen¬ stein, der für sie zu hart gewesen war, und dein sie in Ingolstadt nicht ganz hatten beikommen können, hatte doch schon einen kleinen Kraals bei ihnen wegbekommen: die Schaffensfreude hatte er eingebüßt. Den Schliff und die Routine seiner Beamten verdankt der Staat dieser Erziehungsart, aber dem freien Hervortreten frischer Lebenskeime, dem „Gift der Neuerer," wie Domingo es nennt, steht sie feindlich gegenüber. Oft haftet dieser Erziehung der Makel der Schablonenmäßigkcit an; in vielen Fällen vernichtet sie die Individualität; sie raubt dem Einzelnen, wenn er nicht von besonders hartem Metall ist, die Originalität und die Initiative, zwei Erfordernisse, ohne die ein selbständiges politisches Urteil und eine be¬ geisterte Hingebung an Aufgaben mit ferner liegenden Zielen fast undenkbar sind. Man geht, an behagliches Sichhineinfinden in fertige Berufskreise gewöhnt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/292>, abgerufen am 04.07.2024.