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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr.

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Vermehrung der Bedürfnisse erklärt er nnr so weit für vorteilhaft, als sie den
Menschen über den Zustand tierischer Roheit erhebt, darüber hinaus aber sei sie
vom Übel, Die Aussprüche Christi über diesen Gegenstand seien klar und un¬
zweideutig; danach sei der Mammon an sich ungerecht, das Streben nach Reich¬
tum sündhaft. Theoretisch sei es ja denkbar, daß man Reichtümer besitze, als
besäße man sie nicht, und dabei im Geiste arm bleibe, praktisch aber kaum
durchführbar. Daß jene Aussprüche heute noch von der Kanzel verkündigt,
aber weder vom Prediger noch von den Zuhörern ernst genommen würden,
dafür sei die soziale Frage die gerechte und unvermeidliche Strafe, Alle Welt
ängstige sich heut, im schroffen Widerspruch gegen das ausdrückliche Verbot
Christi, um das Morgen, und man fürchte sich vorm Verhungern, so lange
man nicht ein Kapital besitze, das nicht bloß die eigne Existenz, sondern auch
die der Kinder und Kindeskinder sicher stelle. Diese Angst sei es, was die
Menschen habsüchtig mache, viel mehr als unverständige Liebe zum Gelde oder
Genußsucht, Bei einer kleinen Pension, die zum Leben vollkommen hinreiche,
verzweifle die Hauptmannswitwe, müsse sie ja doch, wie sie sich einbilde, nicht
als Mensch, sondern eben als Hauptmamrswitwe leben.

Alles richtig; es fragt sich aber, ob es der Einzelne ändern kann, auch
uur für seine Person ändern kann. Daß ein Mensch im Kampfe ums Dasein
nicht durchkommen könne, wenn er nicht hie und dn Mittel anwendet, die ein
zartes Gewissen beschweren, nennt Hills einen Aberglauben, den zu zerstören
eine Hauptaufgabe des Christentums in unsrer Zeit sei; aber darf man Aber¬
glauben nennen, was sich thatsächlich vor unsern Augen ereignet? Kommt es
nicht wirklich vor, daß Me"scheu untergehn, die sich nicht rücksichtslos genug
benehmen im Konkurrenzkampfe? Im Altertum, ja, da war es heldenhaft,
allem zu entsagen, und Hilty hat ganz Recht, wenn er meint, jedes Kind habe
Verständnis für die drei Männer im Feuerofen; aber heute kommt einer, der
sich den Forderungen der Obrigkeit oder der Gesellschaft widersetzt, nicht in den
Feuerofen, sondern in die Sträflingsjacke oder versinkt ins Lumpenproletariat,
und das sieht beides so wenig nach Heroismus aus, daß der Held, wenn er
einer ist, den Glauben um sich verliert, lind wie steht es mit dem standes¬
gemäßen? Gewiß ist das ein ganz heilloser Götze, der furchtbare Übel erzeugt;
aber kann sich der Einzelne seinem Dienste vollständig entziehn? Man darf
doch nicht vergessen, daß das Evangelium in einer Welt verkündigt worden ist,
die den Begriff des standesgemäßen zwar auch kannte, aber weit entfernt
davon war, seine Berechtigung unbedingt anzuerkennen oder sich gar von ihm
tyrannisieren zu lassen. Wo lebt heute der Monarch, der einen Bettelphilo¬
sophen besuchen und nach der Unterredung mit ihm bekennen würde: Wenn
ich nicht Alexander wäre, möchte ich Wohl Diogenes sein? Diogenes würde
heute als Vagabund, wegen Obdachlosigkeit, wegen Verunzierung des Straßen¬
bilds, Verletzung der Schadhaftigkeit und wegen vieler andrer Polizeikontra-
ventionen eingesperrt und als ein Lump behandelt werden, mit dem sich nicht
einmal ein anständiger Handwerker freundschaftlich unterhalten könnte, ohne an


Vermehrung der Bedürfnisse erklärt er nnr so weit für vorteilhaft, als sie den
Menschen über den Zustand tierischer Roheit erhebt, darüber hinaus aber sei sie
vom Übel, Die Aussprüche Christi über diesen Gegenstand seien klar und un¬
zweideutig; danach sei der Mammon an sich ungerecht, das Streben nach Reich¬
tum sündhaft. Theoretisch sei es ja denkbar, daß man Reichtümer besitze, als
besäße man sie nicht, und dabei im Geiste arm bleibe, praktisch aber kaum
durchführbar. Daß jene Aussprüche heute noch von der Kanzel verkündigt,
aber weder vom Prediger noch von den Zuhörern ernst genommen würden,
dafür sei die soziale Frage die gerechte und unvermeidliche Strafe, Alle Welt
ängstige sich heut, im schroffen Widerspruch gegen das ausdrückliche Verbot
Christi, um das Morgen, und man fürchte sich vorm Verhungern, so lange
man nicht ein Kapital besitze, das nicht bloß die eigne Existenz, sondern auch
die der Kinder und Kindeskinder sicher stelle. Diese Angst sei es, was die
Menschen habsüchtig mache, viel mehr als unverständige Liebe zum Gelde oder
Genußsucht, Bei einer kleinen Pension, die zum Leben vollkommen hinreiche,
verzweifle die Hauptmannswitwe, müsse sie ja doch, wie sie sich einbilde, nicht
als Mensch, sondern eben als Hauptmamrswitwe leben.

Alles richtig; es fragt sich aber, ob es der Einzelne ändern kann, auch
uur für seine Person ändern kann. Daß ein Mensch im Kampfe ums Dasein
nicht durchkommen könne, wenn er nicht hie und dn Mittel anwendet, die ein
zartes Gewissen beschweren, nennt Hills einen Aberglauben, den zu zerstören
eine Hauptaufgabe des Christentums in unsrer Zeit sei; aber darf man Aber¬
glauben nennen, was sich thatsächlich vor unsern Augen ereignet? Kommt es
nicht wirklich vor, daß Me»scheu untergehn, die sich nicht rücksichtslos genug
benehmen im Konkurrenzkampfe? Im Altertum, ja, da war es heldenhaft,
allem zu entsagen, und Hilty hat ganz Recht, wenn er meint, jedes Kind habe
Verständnis für die drei Männer im Feuerofen; aber heute kommt einer, der
sich den Forderungen der Obrigkeit oder der Gesellschaft widersetzt, nicht in den
Feuerofen, sondern in die Sträflingsjacke oder versinkt ins Lumpenproletariat,
und das sieht beides so wenig nach Heroismus aus, daß der Held, wenn er
einer ist, den Glauben um sich verliert, lind wie steht es mit dem standes¬
gemäßen? Gewiß ist das ein ganz heilloser Götze, der furchtbare Übel erzeugt;
aber kann sich der Einzelne seinem Dienste vollständig entziehn? Man darf
doch nicht vergessen, daß das Evangelium in einer Welt verkündigt worden ist,
die den Begriff des standesgemäßen zwar auch kannte, aber weit entfernt
davon war, seine Berechtigung unbedingt anzuerkennen oder sich gar von ihm
tyrannisieren zu lassen. Wo lebt heute der Monarch, der einen Bettelphilo¬
sophen besuchen und nach der Unterredung mit ihm bekennen würde: Wenn
ich nicht Alexander wäre, möchte ich Wohl Diogenes sein? Diogenes würde
heute als Vagabund, wegen Obdachlosigkeit, wegen Verunzierung des Straßen¬
bilds, Verletzung der Schadhaftigkeit und wegen vieler andrer Polizeikontra-
ventionen eingesperrt und als ein Lump behandelt werden, mit dem sich nicht
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_232551/133>, abgerufen am 25.08.2024.