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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Möglichkeiten und Notwendigkeiten der auswärtigen
Politik Deutschlands

eltgeschichtliche Wandlungen vollziehen sich mit einer Schnelligkeit,
die die Zeitgenossen so überrascht, daß sie, die vom Flusse der
Ereignisse getragen werden, erst nach längerer Zeit gewahr
werden, welche Wege die Entwicklung eingeschlagen und wie
große Strecken sie schon zurückgelegt hat. Mit Staunen werden
sie dann inne, daß sie sich gewöhnen müssen, die Blicke auf neue Ziele zu
richten. Große Probleme, an deren Lösung ein Volk jahrzehntelang seine Willens¬
kraft und Fähigkeit gesetzt hat, scheinen plötzlich zu versinken, neue gewaltige
Aufgaben, an die früher selbst der politische Wagemut nur schüchtern heran¬
trat, tauchen fast unvermittelt auf und fordern die Einsicht, die Opferwilligkeit
und Thatkraft der Nation heraus. Wir stehen an der Jahrhundertswende
mitten in einer solchen Wandlung des Ganges der Weltgeschichte: "Tönend
wird für Geistesohren schon der neue Tag geboren!" Die europäische
Politik wird verdrängt durch die Weltpolitik, an der Schwelle einer neuen
Zeit öffnet sich die Pforte ein wenig und eröffnet den Blick in unermeßliche
Fernen und Weiten.

Die Einheitsbestrebungen des deutschen und des italienischen Volks hatten
bisher der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ihren Stempel aufgedrückt. Die
Auseinandersetzungen Deutschlands mit Österreich und mit Frankreich, die
Bildung des italienischen Nationalstaats gegen Österreich mit Hilfe Frankreichs,
die äußere Befestigung des mit blutigen Opfern Errungnen im Dreibund,
dem sich dann der russisch-französische Zweibund gegenüberstellte -- dies hatte
bis in die jüngste Vergangenheit den Gang der internationalen Politik bestimmt.
Auf dem Festlande Europa schien endlich ein stabiles Gleichgewicht hergestellt
zu sein, das ernstlich zu stören im Westen und vielleicht im Osten wohl der


Grenzboten III 1899 1


Möglichkeiten und Notwendigkeiten der auswärtigen
Politik Deutschlands

eltgeschichtliche Wandlungen vollziehen sich mit einer Schnelligkeit,
die die Zeitgenossen so überrascht, daß sie, die vom Flusse der
Ereignisse getragen werden, erst nach längerer Zeit gewahr
werden, welche Wege die Entwicklung eingeschlagen und wie
große Strecken sie schon zurückgelegt hat. Mit Staunen werden
sie dann inne, daß sie sich gewöhnen müssen, die Blicke auf neue Ziele zu
richten. Große Probleme, an deren Lösung ein Volk jahrzehntelang seine Willens¬
kraft und Fähigkeit gesetzt hat, scheinen plötzlich zu versinken, neue gewaltige
Aufgaben, an die früher selbst der politische Wagemut nur schüchtern heran¬
trat, tauchen fast unvermittelt auf und fordern die Einsicht, die Opferwilligkeit
und Thatkraft der Nation heraus. Wir stehen an der Jahrhundertswende
mitten in einer solchen Wandlung des Ganges der Weltgeschichte: „Tönend
wird für Geistesohren schon der neue Tag geboren!" Die europäische
Politik wird verdrängt durch die Weltpolitik, an der Schwelle einer neuen
Zeit öffnet sich die Pforte ein wenig und eröffnet den Blick in unermeßliche
Fernen und Weiten.

Die Einheitsbestrebungen des deutschen und des italienischen Volks hatten
bisher der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ihren Stempel aufgedrückt. Die
Auseinandersetzungen Deutschlands mit Österreich und mit Frankreich, die
Bildung des italienischen Nationalstaats gegen Österreich mit Hilfe Frankreichs,
die äußere Befestigung des mit blutigen Opfern Errungnen im Dreibund,
dem sich dann der russisch-französische Zweibund gegenüberstellte — dies hatte
bis in die jüngste Vergangenheit den Gang der internationalen Politik bestimmt.
Auf dem Festlande Europa schien endlich ein stabiles Gleichgewicht hergestellt
zu sein, das ernstlich zu stören im Westen und vielleicht im Osten wohl der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/9>, abgerufen am 15.01.2025.