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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Aus Dichtung und Wahrheit über Shakespeares Leben

Identifizierung mit Mrs. Mary Fitton recht wahrscheinlich erscheinen; das
Bild, das er darin nach dem bemalten Grabmonumente in der Kirche zu
Gawsworth giebt, das die Lady Alice Fitton mit ihren Kindern Edward,
Richard, Anne und Mary darstellt, paßt auffallend zu der Vorstellung einer
stark brünetten, schwarzhaarigen, mehr sinnlich anziehenden als schönen Dame,
wie sie die Sonette schildern. Inzwischen ist jedoch über Mary Fitton, ihre
Familie und ihr Leben weiteres, authentischeres Material zu Tage gekommen in
dem anziehenden Buche der Lady Newdigate-Newdegate: "Geplauder aus
einem Familienarchive, Züge aus dem Leben von Anne und Mary Fitton, 1574
bis 1618."*) Die Herausgeberin ist die Frau des Le.-General Sir Edward
Newdigate-Newdegate, K. C. B. von Arbury, des Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Enkels der
Anne Fitton Lady Newdigate, der ältern Schwester unsrer Mary Fitton. Es
ist dies ein wunderliches Buch, das, auch wenn es gar keine Beziehung zu
unsrer Shakespeare-Pembroke-Fitton-Hypothese hätte, wert ist, gelesen und wieder
gelesen zu werden. Es enthält meist Briefe von und an Anne Fitton, Stammes¬
mutter der heutigen Newdigate-Newdegates, in denen uns nicht nur eine Reihe
wichtiger Züge aus dem Leben ihrer unglücklichen jüngern Schwester enthüllt,
sondern auch recht anziehende Blicke in das Leben der Adlichen auf ihren
Landsitzen wie am Hofe der jungfräulichen Königin gewährt werden.

Einige hundert Jahre später wurde das Briefschreiben immer mehr und
mehr eine Kunst, ja geradezu eine Litteraturgattung, die oft auch für die Öffent¬
lichkeit berechnet war; das Zeitalter der Empfindsamkeit trieb dies dann ja auf
die Spitze, und so bekamen die Briefe etwas Gemachtes, Gekünsteltes. Hier
aber ist noch alles ursprünglich und naiv und daher trotz des vielfach un¬
gelenken Stils und der wunderlichen Orthographie -- die aber in der zweiten
Auflage modernisiert worden ist -- so unmittelbar anschaulich, überzeugend
und anziehend.

Von unserm Dichter Shakespeare steht freilich nichts in den Briefen, wohl
aber ist auch für die Shakespeareforschung mittelbar manches zu lernen, wenn
sich die oben erörterte Vermutung, daß Mr. W. H. mit Pembroke identisch sei,
dereinst bewahrheiten sollte. Dann wäre allerdings die Wahrscheinlichkeit nicht
gering, daß Mary Fitton zugleich Pembrokes und des Dichters Geliebte ge¬
wesen sei, und die Persönlichkeit des dämonischen Weibes, das auf das Gemüts¬
leben und die Phantasie des Dichters einen so nachhaltigen Einfluß ausgeübt
hat, würde uns doppelt interessant erscheinen.

Außer der unseligen Liebesaffaire mit Pembroke, die zu Marys jähem
Falle führte, und außer ihren spätern Erlebnissen ist besonders ihr Verhältnis



*) dossix trou Ä Uunirnsnl-Loven, doing ?g,ssaMs in elf I.loof ol L.uno -uiä Uf.r/
?itton 1574--1618, er-mknriboä ->,ni säitoä I^sa/ No^ciiMts-^svÄSAats, I^onäon,
David Null, 1897 (wörtlich! Klatsch aus einem Urkundenzimmer usw.), zweite Auflage 18S8.
Aus Dichtung und Wahrheit über Shakespeares Leben

Identifizierung mit Mrs. Mary Fitton recht wahrscheinlich erscheinen; das
Bild, das er darin nach dem bemalten Grabmonumente in der Kirche zu
Gawsworth giebt, das die Lady Alice Fitton mit ihren Kindern Edward,
Richard, Anne und Mary darstellt, paßt auffallend zu der Vorstellung einer
stark brünetten, schwarzhaarigen, mehr sinnlich anziehenden als schönen Dame,
wie sie die Sonette schildern. Inzwischen ist jedoch über Mary Fitton, ihre
Familie und ihr Leben weiteres, authentischeres Material zu Tage gekommen in
dem anziehenden Buche der Lady Newdigate-Newdegate: „Geplauder aus
einem Familienarchive, Züge aus dem Leben von Anne und Mary Fitton, 1574
bis 1618."*) Die Herausgeberin ist die Frau des Le.-General Sir Edward
Newdigate-Newdegate, K. C. B. von Arbury, des Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Enkels der
Anne Fitton Lady Newdigate, der ältern Schwester unsrer Mary Fitton. Es
ist dies ein wunderliches Buch, das, auch wenn es gar keine Beziehung zu
unsrer Shakespeare-Pembroke-Fitton-Hypothese hätte, wert ist, gelesen und wieder
gelesen zu werden. Es enthält meist Briefe von und an Anne Fitton, Stammes¬
mutter der heutigen Newdigate-Newdegates, in denen uns nicht nur eine Reihe
wichtiger Züge aus dem Leben ihrer unglücklichen jüngern Schwester enthüllt,
sondern auch recht anziehende Blicke in das Leben der Adlichen auf ihren
Landsitzen wie am Hofe der jungfräulichen Königin gewährt werden.

Einige hundert Jahre später wurde das Briefschreiben immer mehr und
mehr eine Kunst, ja geradezu eine Litteraturgattung, die oft auch für die Öffent¬
lichkeit berechnet war; das Zeitalter der Empfindsamkeit trieb dies dann ja auf
die Spitze, und so bekamen die Briefe etwas Gemachtes, Gekünsteltes. Hier
aber ist noch alles ursprünglich und naiv und daher trotz des vielfach un¬
gelenken Stils und der wunderlichen Orthographie — die aber in der zweiten
Auflage modernisiert worden ist — so unmittelbar anschaulich, überzeugend
und anziehend.

Von unserm Dichter Shakespeare steht freilich nichts in den Briefen, wohl
aber ist auch für die Shakespeareforschung mittelbar manches zu lernen, wenn
sich die oben erörterte Vermutung, daß Mr. W. H. mit Pembroke identisch sei,
dereinst bewahrheiten sollte. Dann wäre allerdings die Wahrscheinlichkeit nicht
gering, daß Mary Fitton zugleich Pembrokes und des Dichters Geliebte ge¬
wesen sei, und die Persönlichkeit des dämonischen Weibes, das auf das Gemüts¬
leben und die Phantasie des Dichters einen so nachhaltigen Einfluß ausgeübt
hat, würde uns doppelt interessant erscheinen.

Außer der unseligen Liebesaffaire mit Pembroke, die zu Marys jähem
Falle führte, und außer ihren spätern Erlebnissen ist besonders ihr Verhältnis



*) dossix trou Ä Uunirnsnl-Loven, doing ?g,ssaMs in elf I.loof ol L.uno -uiä Uf.r/
?itton 1574—1618, er-mknriboä ->,ni säitoä I^sa/ No^ciiMts-^svÄSAats, I^onäon,
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[0083] Aus Dichtung und Wahrheit über Shakespeares Leben Identifizierung mit Mrs. Mary Fitton recht wahrscheinlich erscheinen; das Bild, das er darin nach dem bemalten Grabmonumente in der Kirche zu Gawsworth giebt, das die Lady Alice Fitton mit ihren Kindern Edward, Richard, Anne und Mary darstellt, paßt auffallend zu der Vorstellung einer stark brünetten, schwarzhaarigen, mehr sinnlich anziehenden als schönen Dame, wie sie die Sonette schildern. Inzwischen ist jedoch über Mary Fitton, ihre Familie und ihr Leben weiteres, authentischeres Material zu Tage gekommen in dem anziehenden Buche der Lady Newdigate-Newdegate: „Geplauder aus einem Familienarchive, Züge aus dem Leben von Anne und Mary Fitton, 1574 bis 1618."*) Die Herausgeberin ist die Frau des Le.-General Sir Edward Newdigate-Newdegate, K. C. B. von Arbury, des Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Enkels der Anne Fitton Lady Newdigate, der ältern Schwester unsrer Mary Fitton. Es ist dies ein wunderliches Buch, das, auch wenn es gar keine Beziehung zu unsrer Shakespeare-Pembroke-Fitton-Hypothese hätte, wert ist, gelesen und wieder gelesen zu werden. Es enthält meist Briefe von und an Anne Fitton, Stammes¬ mutter der heutigen Newdigate-Newdegates, in denen uns nicht nur eine Reihe wichtiger Züge aus dem Leben ihrer unglücklichen jüngern Schwester enthüllt, sondern auch recht anziehende Blicke in das Leben der Adlichen auf ihren Landsitzen wie am Hofe der jungfräulichen Königin gewährt werden. Einige hundert Jahre später wurde das Briefschreiben immer mehr und mehr eine Kunst, ja geradezu eine Litteraturgattung, die oft auch für die Öffent¬ lichkeit berechnet war; das Zeitalter der Empfindsamkeit trieb dies dann ja auf die Spitze, und so bekamen die Briefe etwas Gemachtes, Gekünsteltes. Hier aber ist noch alles ursprünglich und naiv und daher trotz des vielfach un¬ gelenken Stils und der wunderlichen Orthographie — die aber in der zweiten Auflage modernisiert worden ist — so unmittelbar anschaulich, überzeugend und anziehend. Von unserm Dichter Shakespeare steht freilich nichts in den Briefen, wohl aber ist auch für die Shakespeareforschung mittelbar manches zu lernen, wenn sich die oben erörterte Vermutung, daß Mr. W. H. mit Pembroke identisch sei, dereinst bewahrheiten sollte. Dann wäre allerdings die Wahrscheinlichkeit nicht gering, daß Mary Fitton zugleich Pembrokes und des Dichters Geliebte ge¬ wesen sei, und die Persönlichkeit des dämonischen Weibes, das auf das Gemüts¬ leben und die Phantasie des Dichters einen so nachhaltigen Einfluß ausgeübt hat, würde uns doppelt interessant erscheinen. Außer der unseligen Liebesaffaire mit Pembroke, die zu Marys jähem Falle führte, und außer ihren spätern Erlebnissen ist besonders ihr Verhältnis *) dossix trou Ä Uunirnsnl-Loven, doing ?g,ssaMs in elf I.loof ol L.uno -uiä Uf.r/ ?itton 1574—1618, er-mknriboä ->,ni säitoä I^sa/ No^ciiMts-^svÄSAats, I^onäon, David Null, 1897 (wörtlich! Klatsch aus einem Urkundenzimmer usw.), zweite Auflage 18S8.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/83>, abgerufen am 15.01.2025.