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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Der Arbeitermangel in der Landwirtschaft,

Die Erntearbeiten dieses
Jahres haben fast überall in Deutschland unter dem Mangel an landwirtschaft¬
lichen Arbeitskräften schwer zu leiden gehabt und vielfach einen Notstand im
schlimmsten Sinne des Worts gezeigt. Wenn auch anzunehmen ist, daß der be¬
sonders hohe Grad der Kalamität in einer übertriebnen und deshalb vorüber¬
gehenden Steigerung der industriellen Produktion seinen Grund hat, so giebt er
doch Veranlassung, das schon seit Jahren gestellte Verlangen, die Erhaltung einer
ausreichenden Arbeiterbevölkerung auf dem Lande zum Gegenstande kräftiger Staats¬
fürsorge mit großen Mitteln zu machen, gerade jetzt auf das dringlichste zu wieder¬
holen. Die Frage ist in den Grenzboten oft genug in diesem Sinne besprochen
worden. Es kaun darauf im allgemeinen verwiesen werden, aber bei der sich
namentlich in Preußen neuerdings aufdrängenden Notwendigkeit, den in der Land¬
wirtschaft vorhandnen wirklichen Notständen schnell und nachdrücklich zu Leibe zu
gehn und so den übertriebnen Forderungen der Agrardemagogie wirksam einen
Damm zu ziehn, erscheint es angebracht, mit einigen Worten auf die Sache zurück¬
zukommen.

Im 20. Heft der Grenzboten (Jahrgang 1899) ist auf Grund der Berufs-
zählung vom 14. Juni 1895 eine Übersicht über den Stand und die Verteilung
der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte im Deutschen Reiche und über die seit 1882
eingetretnen Veränderungen gegeben worden. Es hat sich dabei gezeigt, daß zwar
die Zählung im ganzen genommen keine bedenkliche Verringerung der landwirt¬
schaftlichen Arbeitskräfte erwiesen hat, daß aber ihre Verteilung in hohem Grade un¬
gleichmäßig und unzweckmäßig war, daß es hier eine landwirtschaftliche Entvölkerung,
dort eine landwirtschaftliche Übervölkerung gab. Es ist sehr zu bedauern, daß trotz
der Wichtigkeit der Sache der Bundesrat die mit so ungeheuern Kosten durchge¬
führte Berufszählung vom Juni 1895 zur genauern Erforschung der Arbeiterver¬
hältnisse, soweit eine Zahlung dazu verhelfen konnte, nicht ausgenutzt hat. Nicht
einmal der Umfang der sogenannten Sachsengängerei und der Verwendung aus¬
ländischer Arbeiter in der deutschen Landwirtschaft ist nachgewiesen worden, was
doch nahe genug lag, ohne bedeutende Mehrarbeit geschehen konnte und für die im
Dezember 1895 vorgenommne Volkszählung eine überaus wertvolle Unterlage zu
weitern Feststellungen gegeben hätte.

Wenn man jetzt, wie verlautet, darau geht, Vorbereitungen zu treffen, um bei
der im Dezember 1900 vorzunehmenden Volkszählung der landwirtschaftlichen
Wanderarbeit und überhaupt den Arbeiterwauderungen mehr Aufmerksamkeit zu¬
zuwenden, so wird hoffentlich den Regierungen die Unterlassungssünde von 1895
gehörig aufs Gewissen schlagen, denn bei einer einzigen Volkszählung im Winter,
wo die Sachseugäuger zu Hause auf der Bärenhaut liegen und die ausländischen
Arbeiter meist zurückgewandert sind, kann nicht viel herauskommen. Aber überhaupt
ist, wie schon wiederholt hervorgehoben worden ist, mit solchen großen allgemeinen
Zählungen für unsre Frage wenig gedient. Um den Thatbestand des Arbeiter¬
mangels, seine Ursachen und die durchaus nicht schablonenhaft überall anzuwen¬
denden Mittel dagegen zu erkennen, müssen Spezialerhebung und Enqueten im An¬
schluß an die Zählungsergebnisse der Statistik vorgenommen werden. Dazu aber
ist die Statistik in Preußen ganz ungenügend organisiert, d. h. viel zu sehr zen-


Maßgebliches und Unmaßgebliches
Der Arbeitermangel in der Landwirtschaft,

Die Erntearbeiten dieses
Jahres haben fast überall in Deutschland unter dem Mangel an landwirtschaft¬
lichen Arbeitskräften schwer zu leiden gehabt und vielfach einen Notstand im
schlimmsten Sinne des Worts gezeigt. Wenn auch anzunehmen ist, daß der be¬
sonders hohe Grad der Kalamität in einer übertriebnen und deshalb vorüber¬
gehenden Steigerung der industriellen Produktion seinen Grund hat, so giebt er
doch Veranlassung, das schon seit Jahren gestellte Verlangen, die Erhaltung einer
ausreichenden Arbeiterbevölkerung auf dem Lande zum Gegenstande kräftiger Staats¬
fürsorge mit großen Mitteln zu machen, gerade jetzt auf das dringlichste zu wieder¬
holen. Die Frage ist in den Grenzboten oft genug in diesem Sinne besprochen
worden. Es kaun darauf im allgemeinen verwiesen werden, aber bei der sich
namentlich in Preußen neuerdings aufdrängenden Notwendigkeit, den in der Land¬
wirtschaft vorhandnen wirklichen Notständen schnell und nachdrücklich zu Leibe zu
gehn und so den übertriebnen Forderungen der Agrardemagogie wirksam einen
Damm zu ziehn, erscheint es angebracht, mit einigen Worten auf die Sache zurück¬
zukommen.

Im 20. Heft der Grenzboten (Jahrgang 1899) ist auf Grund der Berufs-
zählung vom 14. Juni 1895 eine Übersicht über den Stand und die Verteilung
der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte im Deutschen Reiche und über die seit 1882
eingetretnen Veränderungen gegeben worden. Es hat sich dabei gezeigt, daß zwar
die Zählung im ganzen genommen keine bedenkliche Verringerung der landwirt¬
schaftlichen Arbeitskräfte erwiesen hat, daß aber ihre Verteilung in hohem Grade un¬
gleichmäßig und unzweckmäßig war, daß es hier eine landwirtschaftliche Entvölkerung,
dort eine landwirtschaftliche Übervölkerung gab. Es ist sehr zu bedauern, daß trotz
der Wichtigkeit der Sache der Bundesrat die mit so ungeheuern Kosten durchge¬
führte Berufszählung vom Juni 1895 zur genauern Erforschung der Arbeiterver¬
hältnisse, soweit eine Zahlung dazu verhelfen konnte, nicht ausgenutzt hat. Nicht
einmal der Umfang der sogenannten Sachsengängerei und der Verwendung aus¬
ländischer Arbeiter in der deutschen Landwirtschaft ist nachgewiesen worden, was
doch nahe genug lag, ohne bedeutende Mehrarbeit geschehen konnte und für die im
Dezember 1895 vorgenommne Volkszählung eine überaus wertvolle Unterlage zu
weitern Feststellungen gegeben hätte.

Wenn man jetzt, wie verlautet, darau geht, Vorbereitungen zu treffen, um bei
der im Dezember 1900 vorzunehmenden Volkszählung der landwirtschaftlichen
Wanderarbeit und überhaupt den Arbeiterwauderungen mehr Aufmerksamkeit zu¬
zuwenden, so wird hoffentlich den Regierungen die Unterlassungssünde von 1895
gehörig aufs Gewissen schlagen, denn bei einer einzigen Volkszählung im Winter,
wo die Sachseugäuger zu Hause auf der Bärenhaut liegen und die ausländischen
Arbeiter meist zurückgewandert sind, kann nicht viel herauskommen. Aber überhaupt
ist, wie schon wiederholt hervorgehoben worden ist, mit solchen großen allgemeinen
Zählungen für unsre Frage wenig gedient. Um den Thatbestand des Arbeiter¬
mangels, seine Ursachen und die durchaus nicht schablonenhaft überall anzuwen¬
denden Mittel dagegen zu erkennen, müssen Spezialerhebung und Enqueten im An¬
schluß an die Zählungsergebnisse der Statistik vorgenommen werden. Dazu aber
ist die Statistik in Preußen ganz ungenügend organisiert, d. h. viel zu sehr zen-


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[0628] Maßgebliches und Unmaßgebliches Der Arbeitermangel in der Landwirtschaft, Die Erntearbeiten dieses Jahres haben fast überall in Deutschland unter dem Mangel an landwirtschaft¬ lichen Arbeitskräften schwer zu leiden gehabt und vielfach einen Notstand im schlimmsten Sinne des Worts gezeigt. Wenn auch anzunehmen ist, daß der be¬ sonders hohe Grad der Kalamität in einer übertriebnen und deshalb vorüber¬ gehenden Steigerung der industriellen Produktion seinen Grund hat, so giebt er doch Veranlassung, das schon seit Jahren gestellte Verlangen, die Erhaltung einer ausreichenden Arbeiterbevölkerung auf dem Lande zum Gegenstande kräftiger Staats¬ fürsorge mit großen Mitteln zu machen, gerade jetzt auf das dringlichste zu wieder¬ holen. Die Frage ist in den Grenzboten oft genug in diesem Sinne besprochen worden. Es kaun darauf im allgemeinen verwiesen werden, aber bei der sich namentlich in Preußen neuerdings aufdrängenden Notwendigkeit, den in der Land¬ wirtschaft vorhandnen wirklichen Notständen schnell und nachdrücklich zu Leibe zu gehn und so den übertriebnen Forderungen der Agrardemagogie wirksam einen Damm zu ziehn, erscheint es angebracht, mit einigen Worten auf die Sache zurück¬ zukommen. Im 20. Heft der Grenzboten (Jahrgang 1899) ist auf Grund der Berufs- zählung vom 14. Juni 1895 eine Übersicht über den Stand und die Verteilung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte im Deutschen Reiche und über die seit 1882 eingetretnen Veränderungen gegeben worden. Es hat sich dabei gezeigt, daß zwar die Zählung im ganzen genommen keine bedenkliche Verringerung der landwirt¬ schaftlichen Arbeitskräfte erwiesen hat, daß aber ihre Verteilung in hohem Grade un¬ gleichmäßig und unzweckmäßig war, daß es hier eine landwirtschaftliche Entvölkerung, dort eine landwirtschaftliche Übervölkerung gab. Es ist sehr zu bedauern, daß trotz der Wichtigkeit der Sache der Bundesrat die mit so ungeheuern Kosten durchge¬ führte Berufszählung vom Juni 1895 zur genauern Erforschung der Arbeiterver¬ hältnisse, soweit eine Zahlung dazu verhelfen konnte, nicht ausgenutzt hat. Nicht einmal der Umfang der sogenannten Sachsengängerei und der Verwendung aus¬ ländischer Arbeiter in der deutschen Landwirtschaft ist nachgewiesen worden, was doch nahe genug lag, ohne bedeutende Mehrarbeit geschehen konnte und für die im Dezember 1895 vorgenommne Volkszählung eine überaus wertvolle Unterlage zu weitern Feststellungen gegeben hätte. Wenn man jetzt, wie verlautet, darau geht, Vorbereitungen zu treffen, um bei der im Dezember 1900 vorzunehmenden Volkszählung der landwirtschaftlichen Wanderarbeit und überhaupt den Arbeiterwauderungen mehr Aufmerksamkeit zu¬ zuwenden, so wird hoffentlich den Regierungen die Unterlassungssünde von 1895 gehörig aufs Gewissen schlagen, denn bei einer einzigen Volkszählung im Winter, wo die Sachseugäuger zu Hause auf der Bärenhaut liegen und die ausländischen Arbeiter meist zurückgewandert sind, kann nicht viel herauskommen. Aber überhaupt ist, wie schon wiederholt hervorgehoben worden ist, mit solchen großen allgemeinen Zählungen für unsre Frage wenig gedient. Um den Thatbestand des Arbeiter¬ mangels, seine Ursachen und die durchaus nicht schablonenhaft überall anzuwen¬ denden Mittel dagegen zu erkennen, müssen Spezialerhebung und Enqueten im An¬ schluß an die Zählungsergebnisse der Statistik vorgenommen werden. Dazu aber ist die Statistik in Preußen ganz ungenügend organisiert, d. h. viel zu sehr zen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/628>, abgerufen am 15.01.2025.