Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

8 3

Wer es sich zum Geschäft macht, Handlungen der in den ZZ 1, 2 bezeichneten
Art zu begehen, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft.

Jedermann von gesundem Verstände, der der Wahrheit die Ehre geben
will, wird auch mit der Lupe nichts finden können, worin hier der Wille des
Gesetzgebers von 1899 im geringsten härter und weniger wohlwollend gegen
die Arbeiter wäre als der Wille des Gesetzgebers von 1891. Eher das Gegen¬
teil ist richtig. Das Strafmaß ist gemildert, die Strafbarkeit der Unternehmer
erweitert worden. Mag die Fassung der Bestimmungen mangelhaft sein, so
sehr sie will, es ist mit aller Bestimmtheit und ohne allen Vorbehalt aus¬
zusprechen: Wer dieser drei Paragraphen wegen die Vorlage den deutschen
Arbeitern als einen Angriff des "neusten Kurses" auf ihre Koalitionsfreiheit
fortan denunziert, der sagt die Unwahrheit.

Aber wie stehts mit den übrigen acht Paragraphen? Wenn im § 4 die
Beschädigung oder Vorenthaltung von Arbeitsgerät, Arbeitsmaterial, Arbeits¬
erzeugnissen oder Kleidungsstücken dem körperlichen Zwange im Sinne der
§Z 1 bis 3 ausdrücklich gleichgestellt, oder wenn ausgesprochen wird, daß eine
Verrufserklärung oder Drohung dann nicht vorliegt, wenn der Thäter eine
Handlung vornimmt, zu der er berechtigt ist, so wird wohl niemand etwas
einwenden. Dagegen ist das gleichfalls hier aufgenommne sogenannte Verbot
des Streikpostenstchcns hart angefochten worden. Die Bestimmung lautet:

Der Drohung im Sinne der Z§ 1 bis 3 wird die planmäßige Überwachung
von Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Arbeitsstätten, Wegen, Straßen, Plätzen, Bahn¬
höfen, Wasserstraßen, Hafen- oder sonstigen Verkehrsanlagen gleichgeachtet.

Daß das Streikpostenstehen in neunzig Fallen von hundert den Zweck
hat, durch Bedrohung, wenn nötig auch durch Thätlichkeiten einen Zwang
auszuüben, weiß jeder, der sich um solche Dinge gekümmert hat. Aber von
dieser Thatfrage ganz abgesehen, hat der Staatssekretär des Reichsjustizamts
ausdrücklich erklärt, daß vom juristischen Standpunkt aus der Vorlage nicht
der Sinn beigelegt werden könne, daß jedes Streikposteustehen strafbar sein
solle, sondern, indem es unter den Begriff der 1 und 2 gebracht sei, nur
dann, wenn die Beteiligten dieses Mittel benutzen wollen, auf die Arbeiter, die
heranziehen, einen Zwang auszuüben und sie dadurch ihrem Willen gefügig zu
machen. "Sobald im Einzelfall -- sagte er wörtlich -- die Sachlage dahin
klar gestellt wird, daß die Streikposten nichts andres bezwecken, als den Leuten
gütlich zuzureden, sobald es sich ergiebt, daß es keinen andern Zweck hat, als
die Leute darüber zu unterrichten, daß ein Streik ausgebrochen sei -- bis zu
dieser Greuze bleibt auch nach der Vorlage das Ausstellen von Streikposten
straflos; es wird erst dann strafbar, wenn es in den Bereich eines unberech¬
tigten Zwangs gegen die zuwandernden Arbeitslnstigen übergreift. Das geht
aus der Begründung der Vorlage hervor, und es ist die zweifellose Absicht


Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

8 3

Wer es sich zum Geschäft macht, Handlungen der in den ZZ 1, 2 bezeichneten
Art zu begehen, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft.

Jedermann von gesundem Verstände, der der Wahrheit die Ehre geben
will, wird auch mit der Lupe nichts finden können, worin hier der Wille des
Gesetzgebers von 1899 im geringsten härter und weniger wohlwollend gegen
die Arbeiter wäre als der Wille des Gesetzgebers von 1891. Eher das Gegen¬
teil ist richtig. Das Strafmaß ist gemildert, die Strafbarkeit der Unternehmer
erweitert worden. Mag die Fassung der Bestimmungen mangelhaft sein, so
sehr sie will, es ist mit aller Bestimmtheit und ohne allen Vorbehalt aus¬
zusprechen: Wer dieser drei Paragraphen wegen die Vorlage den deutschen
Arbeitern als einen Angriff des „neusten Kurses" auf ihre Koalitionsfreiheit
fortan denunziert, der sagt die Unwahrheit.

Aber wie stehts mit den übrigen acht Paragraphen? Wenn im § 4 die
Beschädigung oder Vorenthaltung von Arbeitsgerät, Arbeitsmaterial, Arbeits¬
erzeugnissen oder Kleidungsstücken dem körperlichen Zwange im Sinne der
§Z 1 bis 3 ausdrücklich gleichgestellt, oder wenn ausgesprochen wird, daß eine
Verrufserklärung oder Drohung dann nicht vorliegt, wenn der Thäter eine
Handlung vornimmt, zu der er berechtigt ist, so wird wohl niemand etwas
einwenden. Dagegen ist das gleichfalls hier aufgenommne sogenannte Verbot
des Streikpostenstchcns hart angefochten worden. Die Bestimmung lautet:

Der Drohung im Sinne der Z§ 1 bis 3 wird die planmäßige Überwachung
von Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Arbeitsstätten, Wegen, Straßen, Plätzen, Bahn¬
höfen, Wasserstraßen, Hafen- oder sonstigen Verkehrsanlagen gleichgeachtet.

Daß das Streikpostenstehen in neunzig Fallen von hundert den Zweck
hat, durch Bedrohung, wenn nötig auch durch Thätlichkeiten einen Zwang
auszuüben, weiß jeder, der sich um solche Dinge gekümmert hat. Aber von
dieser Thatfrage ganz abgesehen, hat der Staatssekretär des Reichsjustizamts
ausdrücklich erklärt, daß vom juristischen Standpunkt aus der Vorlage nicht
der Sinn beigelegt werden könne, daß jedes Streikposteustehen strafbar sein
solle, sondern, indem es unter den Begriff der 1 und 2 gebracht sei, nur
dann, wenn die Beteiligten dieses Mittel benutzen wollen, auf die Arbeiter, die
heranziehen, einen Zwang auszuüben und sie dadurch ihrem Willen gefügig zu
machen. „Sobald im Einzelfall — sagte er wörtlich — die Sachlage dahin
klar gestellt wird, daß die Streikposten nichts andres bezwecken, als den Leuten
gütlich zuzureden, sobald es sich ergiebt, daß es keinen andern Zweck hat, als
die Leute darüber zu unterrichten, daß ein Streik ausgebrochen sei — bis zu
dieser Greuze bleibt auch nach der Vorlage das Ausstellen von Streikposten
straflos; es wird erst dann strafbar, wenn es in den Bereich eines unberech¬
tigten Zwangs gegen die zuwandernden Arbeitslnstigen übergreift. Das geht
aus der Begründung der Vorlage hervor, und es ist die zweifellose Absicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0062" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231232"/>
            <fw type="header" place="top"> Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage</fw><lb/>
          </div>
          <div n="2">
            <head> 8 3</head><lb/>
            <p xml:id="ID_156"> Wer es sich zum Geschäft macht, Handlungen der in den ZZ 1, 2 bezeichneten<lb/>
Art zu begehen, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_157"> Jedermann von gesundem Verstände, der der Wahrheit die Ehre geben<lb/>
will, wird auch mit der Lupe nichts finden können, worin hier der Wille des<lb/>
Gesetzgebers von 1899 im geringsten härter und weniger wohlwollend gegen<lb/>
die Arbeiter wäre als der Wille des Gesetzgebers von 1891. Eher das Gegen¬<lb/>
teil ist richtig. Das Strafmaß ist gemildert, die Strafbarkeit der Unternehmer<lb/>
erweitert worden. Mag die Fassung der Bestimmungen mangelhaft sein, so<lb/>
sehr sie will, es ist mit aller Bestimmtheit und ohne allen Vorbehalt aus¬<lb/>
zusprechen: Wer dieser drei Paragraphen wegen die Vorlage den deutschen<lb/>
Arbeitern als einen Angriff des &#x201E;neusten Kurses" auf ihre Koalitionsfreiheit<lb/>
fortan denunziert, der sagt die Unwahrheit.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_158"> Aber wie stehts mit den übrigen acht Paragraphen? Wenn im § 4 die<lb/>
Beschädigung oder Vorenthaltung von Arbeitsgerät, Arbeitsmaterial, Arbeits¬<lb/>
erzeugnissen oder Kleidungsstücken dem körperlichen Zwange im Sinne der<lb/>
§Z 1 bis 3 ausdrücklich gleichgestellt, oder wenn ausgesprochen wird, daß eine<lb/>
Verrufserklärung oder Drohung dann nicht vorliegt, wenn der Thäter eine<lb/>
Handlung vornimmt, zu der er berechtigt ist, so wird wohl niemand etwas<lb/>
einwenden. Dagegen ist das gleichfalls hier aufgenommne sogenannte Verbot<lb/>
des Streikpostenstchcns hart angefochten worden.  Die Bestimmung lautet:</p><lb/>
            <p xml:id="ID_159"> Der Drohung im Sinne der Z§ 1 bis 3 wird die planmäßige Überwachung<lb/>
von Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Arbeitsstätten, Wegen, Straßen, Plätzen, Bahn¬<lb/>
höfen, Wasserstraßen, Hafen- oder sonstigen Verkehrsanlagen gleichgeachtet.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_160" next="#ID_161"> Daß das Streikpostenstehen in neunzig Fallen von hundert den Zweck<lb/>
hat, durch Bedrohung, wenn nötig auch durch Thätlichkeiten einen Zwang<lb/>
auszuüben, weiß jeder, der sich um solche Dinge gekümmert hat. Aber von<lb/>
dieser Thatfrage ganz abgesehen, hat der Staatssekretär des Reichsjustizamts<lb/>
ausdrücklich erklärt, daß vom juristischen Standpunkt aus der Vorlage nicht<lb/>
der Sinn beigelegt werden könne, daß jedes Streikposteustehen strafbar sein<lb/>
solle, sondern, indem es unter den Begriff der 1 und 2 gebracht sei, nur<lb/>
dann, wenn die Beteiligten dieses Mittel benutzen wollen, auf die Arbeiter, die<lb/>
heranziehen, einen Zwang auszuüben und sie dadurch ihrem Willen gefügig zu<lb/>
machen. &#x201E;Sobald im Einzelfall &#x2014; sagte er wörtlich &#x2014; die Sachlage dahin<lb/>
klar gestellt wird, daß die Streikposten nichts andres bezwecken, als den Leuten<lb/>
gütlich zuzureden, sobald es sich ergiebt, daß es keinen andern Zweck hat, als<lb/>
die Leute darüber zu unterrichten, daß ein Streik ausgebrochen sei &#x2014; bis zu<lb/>
dieser Greuze bleibt auch nach der Vorlage das Ausstellen von Streikposten<lb/>
straflos; es wird erst dann strafbar, wenn es in den Bereich eines unberech¬<lb/>
tigten Zwangs gegen die zuwandernden Arbeitslnstigen übergreift. Das geht<lb/>
aus der Begründung der Vorlage hervor, und es ist die zweifellose Absicht</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0062] Der Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage 8 3 Wer es sich zum Geschäft macht, Handlungen der in den ZZ 1, 2 bezeichneten Art zu begehen, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft. Jedermann von gesundem Verstände, der der Wahrheit die Ehre geben will, wird auch mit der Lupe nichts finden können, worin hier der Wille des Gesetzgebers von 1899 im geringsten härter und weniger wohlwollend gegen die Arbeiter wäre als der Wille des Gesetzgebers von 1891. Eher das Gegen¬ teil ist richtig. Das Strafmaß ist gemildert, die Strafbarkeit der Unternehmer erweitert worden. Mag die Fassung der Bestimmungen mangelhaft sein, so sehr sie will, es ist mit aller Bestimmtheit und ohne allen Vorbehalt aus¬ zusprechen: Wer dieser drei Paragraphen wegen die Vorlage den deutschen Arbeitern als einen Angriff des „neusten Kurses" auf ihre Koalitionsfreiheit fortan denunziert, der sagt die Unwahrheit. Aber wie stehts mit den übrigen acht Paragraphen? Wenn im § 4 die Beschädigung oder Vorenthaltung von Arbeitsgerät, Arbeitsmaterial, Arbeits¬ erzeugnissen oder Kleidungsstücken dem körperlichen Zwange im Sinne der §Z 1 bis 3 ausdrücklich gleichgestellt, oder wenn ausgesprochen wird, daß eine Verrufserklärung oder Drohung dann nicht vorliegt, wenn der Thäter eine Handlung vornimmt, zu der er berechtigt ist, so wird wohl niemand etwas einwenden. Dagegen ist das gleichfalls hier aufgenommne sogenannte Verbot des Streikpostenstchcns hart angefochten worden. Die Bestimmung lautet: Der Drohung im Sinne der Z§ 1 bis 3 wird die planmäßige Überwachung von Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Arbeitsstätten, Wegen, Straßen, Plätzen, Bahn¬ höfen, Wasserstraßen, Hafen- oder sonstigen Verkehrsanlagen gleichgeachtet. Daß das Streikpostenstehen in neunzig Fallen von hundert den Zweck hat, durch Bedrohung, wenn nötig auch durch Thätlichkeiten einen Zwang auszuüben, weiß jeder, der sich um solche Dinge gekümmert hat. Aber von dieser Thatfrage ganz abgesehen, hat der Staatssekretär des Reichsjustizamts ausdrücklich erklärt, daß vom juristischen Standpunkt aus der Vorlage nicht der Sinn beigelegt werden könne, daß jedes Streikposteustehen strafbar sein solle, sondern, indem es unter den Begriff der 1 und 2 gebracht sei, nur dann, wenn die Beteiligten dieses Mittel benutzen wollen, auf die Arbeiter, die heranziehen, einen Zwang auszuüben und sie dadurch ihrem Willen gefügig zu machen. „Sobald im Einzelfall — sagte er wörtlich — die Sachlage dahin klar gestellt wird, daß die Streikposten nichts andres bezwecken, als den Leuten gütlich zuzureden, sobald es sich ergiebt, daß es keinen andern Zweck hat, als die Leute darüber zu unterrichten, daß ein Streik ausgebrochen sei — bis zu dieser Greuze bleibt auch nach der Vorlage das Ausstellen von Streikposten straflos; es wird erst dann strafbar, wenn es in den Bereich eines unberech¬ tigten Zwangs gegen die zuwandernden Arbeitslnstigen übergreift. Das geht aus der Begründung der Vorlage hervor, und es ist die zweifellose Absicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/62
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/62>, abgerufen am 15.01.2025.