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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Geheimmittel

des ländlichen Schäfers, Schmiedes, des Scharfrichters, denen ihr Gewerbe
die Beobachtung des Tieres zur Pflicht macht, und die der Landmann auch
in eignen Leibesnöten um Rat fragt. Sie studieren und probieren, sie ziehen
obsolete Mittel ans Tageslicht, sie machen Schule, oft ohne ihren Willen
werden sie berühmt. So erstand das Tollwutmittel, das der große Friedrich,
von dem Gedanken beseelt, für das Wohl seines Volks eintreten zu müssen, unter
ganz denselben Erwägungen anzukaufen keine Bedenken trug, wie sie jetzt den
Staat veranlassen, dafür Sorge zu tragen, daß dem Volke nicht sein Glaube an
das Tuberkulin, sein Recht auf die Heilung durch dieses moderne, von seinem
Entdecker anfangs ebenfalls geheimnisvoll gehütete Mittel, auf die Wutimpfung,
auf Diphtherieheilserum usw. verkümmert werde. "Grau, teurer Freund, ist
alle Theorie!" Zur Erklärung der Heilkraft der Medikamente reicht sie sicher
nicht aus. Medizinische Theoretiker müssen ihr non xossumus stammeln, wenn
sie die Idiosynkrasie mancher Personen gegen sonst wohlstudierte Arzneimittel
erklären sollen, wenn man sie nach dem Grunde der Heilwirkung homöopathischer
Nichtse fragt; und trotz der unendlichen Fortschritte auf dem medizinischen
Wissensgebiet werden Ärzte und Naturwissenschafter, je tiefer sie in die Ge¬
heimnisse der Schöpfung eindringen, vor Gottes unerforschlichen Wundern fort
und fort ihr demütiges iAnorMwus stammeln müssen.

Der kaltblütig rechnende und messende Nationalist belächelt die Kümmer¬
nisse des von Leiden gequälten Menschen. Ihm genügt, daß die Wissenschaft
nicht helfen kann. Stark im Geist, hält ihn der Gedanke aufrecht, daß die
ausgearbeitete oder fehlerhaft konstruierte Körpermaschine keine Reparatur mehr
lohnt, daß sie den Weg des Fleisches gehn, sich in ihre Elemente auflösen
muß. Der treusorgende Menschenfreund freut sich, den Schlußakt aufzuhalten,
dem schwer Leidenden Hoffnung einzusprechen, ihm, gedenkend der Sirachschen
Weisheit, daß Traurigkeit zu nichts nütze ist, Lebensfreude, Mut zu "sugge¬
rieren"; und siehe da: der medizinisch unheilbare, aufgegebne Kranke spottet
der Wissenschaft. Im Frohgefühl der Hoffnung, die nimmer zu Schanden
macht, nehmen die roten Blutkörperchen, medizinisch gesprochen, den Kampf
mit den verderblichen Eindringlingen, klassifizierten und noch unbekannten
Krankheit erregenden Bazillen ans und treiben sie zu Paaren; "der Kranke nimmt
sein Bett und zieht heim," wie der von dem Seelen- und Körperarzt Christus
geheilte Gichtbrüchige. Sollte es nicht Pflicht sein, dem Kranken das Recht
auf Heilung in jeder Art, selbst durch Geheimmittel, wenigstens nicht zu ver¬
kümmern?

Wer "pfusche" außer den schon genannten Gewerbtreibenden im Gebiete
der Heilkunst? Denken wir an die natürliche Entwicklung der Arzneikunst, er¬
innern wir uns, daß der erste Arzt entschieden eine Ärztin war, die fürsorg¬
liche Gefährtin des Mannes, deren geschickte Hand die im Kampfe für sie
davon getragne Wunde mit kühlendem, selbst angefertigten Balsam verband,


Geheimmittel

des ländlichen Schäfers, Schmiedes, des Scharfrichters, denen ihr Gewerbe
die Beobachtung des Tieres zur Pflicht macht, und die der Landmann auch
in eignen Leibesnöten um Rat fragt. Sie studieren und probieren, sie ziehen
obsolete Mittel ans Tageslicht, sie machen Schule, oft ohne ihren Willen
werden sie berühmt. So erstand das Tollwutmittel, das der große Friedrich,
von dem Gedanken beseelt, für das Wohl seines Volks eintreten zu müssen, unter
ganz denselben Erwägungen anzukaufen keine Bedenken trug, wie sie jetzt den
Staat veranlassen, dafür Sorge zu tragen, daß dem Volke nicht sein Glaube an
das Tuberkulin, sein Recht auf die Heilung durch dieses moderne, von seinem
Entdecker anfangs ebenfalls geheimnisvoll gehütete Mittel, auf die Wutimpfung,
auf Diphtherieheilserum usw. verkümmert werde. „Grau, teurer Freund, ist
alle Theorie!" Zur Erklärung der Heilkraft der Medikamente reicht sie sicher
nicht aus. Medizinische Theoretiker müssen ihr non xossumus stammeln, wenn
sie die Idiosynkrasie mancher Personen gegen sonst wohlstudierte Arzneimittel
erklären sollen, wenn man sie nach dem Grunde der Heilwirkung homöopathischer
Nichtse fragt; und trotz der unendlichen Fortschritte auf dem medizinischen
Wissensgebiet werden Ärzte und Naturwissenschafter, je tiefer sie in die Ge¬
heimnisse der Schöpfung eindringen, vor Gottes unerforschlichen Wundern fort
und fort ihr demütiges iAnorMwus stammeln müssen.

Der kaltblütig rechnende und messende Nationalist belächelt die Kümmer¬
nisse des von Leiden gequälten Menschen. Ihm genügt, daß die Wissenschaft
nicht helfen kann. Stark im Geist, hält ihn der Gedanke aufrecht, daß die
ausgearbeitete oder fehlerhaft konstruierte Körpermaschine keine Reparatur mehr
lohnt, daß sie den Weg des Fleisches gehn, sich in ihre Elemente auflösen
muß. Der treusorgende Menschenfreund freut sich, den Schlußakt aufzuhalten,
dem schwer Leidenden Hoffnung einzusprechen, ihm, gedenkend der Sirachschen
Weisheit, daß Traurigkeit zu nichts nütze ist, Lebensfreude, Mut zu „sugge¬
rieren"; und siehe da: der medizinisch unheilbare, aufgegebne Kranke spottet
der Wissenschaft. Im Frohgefühl der Hoffnung, die nimmer zu Schanden
macht, nehmen die roten Blutkörperchen, medizinisch gesprochen, den Kampf
mit den verderblichen Eindringlingen, klassifizierten und noch unbekannten
Krankheit erregenden Bazillen ans und treiben sie zu Paaren; „der Kranke nimmt
sein Bett und zieht heim," wie der von dem Seelen- und Körperarzt Christus
geheilte Gichtbrüchige. Sollte es nicht Pflicht sein, dem Kranken das Recht
auf Heilung in jeder Art, selbst durch Geheimmittel, wenigstens nicht zu ver¬
kümmern?

Wer „pfusche" außer den schon genannten Gewerbtreibenden im Gebiete
der Heilkunst? Denken wir an die natürliche Entwicklung der Arzneikunst, er¬
innern wir uns, daß der erste Arzt entschieden eine Ärztin war, die fürsorg¬
liche Gefährtin des Mannes, deren geschickte Hand die im Kampfe für sie
davon getragne Wunde mit kühlendem, selbst angefertigten Balsam verband,


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[0614] Geheimmittel des ländlichen Schäfers, Schmiedes, des Scharfrichters, denen ihr Gewerbe die Beobachtung des Tieres zur Pflicht macht, und die der Landmann auch in eignen Leibesnöten um Rat fragt. Sie studieren und probieren, sie ziehen obsolete Mittel ans Tageslicht, sie machen Schule, oft ohne ihren Willen werden sie berühmt. So erstand das Tollwutmittel, das der große Friedrich, von dem Gedanken beseelt, für das Wohl seines Volks eintreten zu müssen, unter ganz denselben Erwägungen anzukaufen keine Bedenken trug, wie sie jetzt den Staat veranlassen, dafür Sorge zu tragen, daß dem Volke nicht sein Glaube an das Tuberkulin, sein Recht auf die Heilung durch dieses moderne, von seinem Entdecker anfangs ebenfalls geheimnisvoll gehütete Mittel, auf die Wutimpfung, auf Diphtherieheilserum usw. verkümmert werde. „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie!" Zur Erklärung der Heilkraft der Medikamente reicht sie sicher nicht aus. Medizinische Theoretiker müssen ihr non xossumus stammeln, wenn sie die Idiosynkrasie mancher Personen gegen sonst wohlstudierte Arzneimittel erklären sollen, wenn man sie nach dem Grunde der Heilwirkung homöopathischer Nichtse fragt; und trotz der unendlichen Fortschritte auf dem medizinischen Wissensgebiet werden Ärzte und Naturwissenschafter, je tiefer sie in die Ge¬ heimnisse der Schöpfung eindringen, vor Gottes unerforschlichen Wundern fort und fort ihr demütiges iAnorMwus stammeln müssen. Der kaltblütig rechnende und messende Nationalist belächelt die Kümmer¬ nisse des von Leiden gequälten Menschen. Ihm genügt, daß die Wissenschaft nicht helfen kann. Stark im Geist, hält ihn der Gedanke aufrecht, daß die ausgearbeitete oder fehlerhaft konstruierte Körpermaschine keine Reparatur mehr lohnt, daß sie den Weg des Fleisches gehn, sich in ihre Elemente auflösen muß. Der treusorgende Menschenfreund freut sich, den Schlußakt aufzuhalten, dem schwer Leidenden Hoffnung einzusprechen, ihm, gedenkend der Sirachschen Weisheit, daß Traurigkeit zu nichts nütze ist, Lebensfreude, Mut zu „sugge¬ rieren"; und siehe da: der medizinisch unheilbare, aufgegebne Kranke spottet der Wissenschaft. Im Frohgefühl der Hoffnung, die nimmer zu Schanden macht, nehmen die roten Blutkörperchen, medizinisch gesprochen, den Kampf mit den verderblichen Eindringlingen, klassifizierten und noch unbekannten Krankheit erregenden Bazillen ans und treiben sie zu Paaren; „der Kranke nimmt sein Bett und zieht heim," wie der von dem Seelen- und Körperarzt Christus geheilte Gichtbrüchige. Sollte es nicht Pflicht sein, dem Kranken das Recht auf Heilung in jeder Art, selbst durch Geheimmittel, wenigstens nicht zu ver¬ kümmern? Wer „pfusche" außer den schon genannten Gewerbtreibenden im Gebiete der Heilkunst? Denken wir an die natürliche Entwicklung der Arzneikunst, er¬ innern wir uns, daß der erste Arzt entschieden eine Ärztin war, die fürsorg¬ liche Gefährtin des Mannes, deren geschickte Hand die im Kampfe für sie davon getragne Wunde mit kühlendem, selbst angefertigten Balsam verband,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/614>, abgerufen am 15.01.2025.