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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Geheimmittel

Geheimnis des Weltmeers verlockte Kolumbus, sein Leben und das seiner
Gefährten aufs Spiel zu setzen, und mit unheimlicher Gewalt zieht der ge¬
heimnisvolle dunkle Erdteil fort und fort den Menschen in seine gefährlichen
Gebiete.

Von alters her ist der in den dunkeln Tiefen der Seele ruhende Drang
nach dem Geheimnisvoller bekannt, und von alters her hat man diesen Trieb,
im Guten wie im Bösen, ausgenutzt. Ihm entspringen der noch jetzt die
üppigsten Blüten treibende Wunderglaube, der Mystizismus und der Okkultismus
in seinen verschiedensten Gestalten; auf ihm baut sich das Adepten- und Rosen-
kreuzertum aus; das Geheimnis ist das Bindemittel, das die Freimaurerei zu¬
sammenhält; Geheimwissenschaft hieß der Köder, den der bekannte Sänger der
Jobsiade, Kortüm. den Schalk im Nacken, an der Wende des vorigen Jahr¬
hunderts seinen Zeitgenossen vorhielt, um sie durch eine zu gründende gold-
machendc Gesellschaft auf den Leim zu locken.

Auf dieselben Instinkte pochten und spekulierten die Magier des Alter¬
tums, das lichtscheue Ärzteproletariat des klassischen Roms, noch mehr aber
die vor keiner Unthat zurückschreckenden Helferinnen in den Noten des Lebens,
die durch Horaz unsterblich gemachte

Selbst im Zeitalter der Aufklärung zwangen Abenteurer wie die Grafen
Se. Germain und Cagliostro die Elite ihrer Zeitgenossen in ihren Bann. Und
obgleich die moderne Zeit in der wissenschaftlichen Deutung der wunderbaren
Irrwege des menschlichen Geistes bedeutsame Schritte gethan hat, obgleich
sie das Wesen des Hypnotismus, die unheimliche Macht der Suggestion
systematisiert und rubriziert hat, obgleich es andrerseits der nüchternen Be¬
obachtung gelungen ist, den Spiritismus als Unsinn, als Betrug zu ent¬
larven, dem selbst geistige Größen wie Zöllner und Crookes zum Opfer fallen
konnten, und an dem Männer wie du Pret mit Zähigkeit festhalten, trotzdem
oder gerade deshalb werden tagtäglich Geister zitiert, die in harmlosen Spuk
mit Guitarren bombardieren oder nichtige Nachrichten aus dem Schattenreich
übermitteln; und trotz der Aufklärungen, durch die sich in medizinischer Hinsicht
Männer wie Bock, Niemeyer und zahlreiche Vereine und Behörden verdient
gemacht haben, finden kluge Frauen, mit Wasser und Lehm kurierende Geistliche,
Schäfer und andre Kurpfuscher ungeheuern Zulauf, nicht nur aus den Reihen
der llüsöi-A MW, sondern auch aus den Kreisen der geld- und geistgesegneten
obern Zehntausend. Es ist unzweifelhaft die Aufgabe eines treusorgenden
Staats, solchen Erscheinungen sein Augenmerk zuzuwenden und darauf zu
sinnen, daß unter ihnen die sg.1u8 put>1i<n nicht Schaden leide. In Bezug


Geheimmittel

Geheimnis des Weltmeers verlockte Kolumbus, sein Leben und das seiner
Gefährten aufs Spiel zu setzen, und mit unheimlicher Gewalt zieht der ge¬
heimnisvolle dunkle Erdteil fort und fort den Menschen in seine gefährlichen
Gebiete.

Von alters her ist der in den dunkeln Tiefen der Seele ruhende Drang
nach dem Geheimnisvoller bekannt, und von alters her hat man diesen Trieb,
im Guten wie im Bösen, ausgenutzt. Ihm entspringen der noch jetzt die
üppigsten Blüten treibende Wunderglaube, der Mystizismus und der Okkultismus
in seinen verschiedensten Gestalten; auf ihm baut sich das Adepten- und Rosen-
kreuzertum aus; das Geheimnis ist das Bindemittel, das die Freimaurerei zu¬
sammenhält; Geheimwissenschaft hieß der Köder, den der bekannte Sänger der
Jobsiade, Kortüm. den Schalk im Nacken, an der Wende des vorigen Jahr¬
hunderts seinen Zeitgenossen vorhielt, um sie durch eine zu gründende gold-
machendc Gesellschaft auf den Leim zu locken.

Auf dieselben Instinkte pochten und spekulierten die Magier des Alter¬
tums, das lichtscheue Ärzteproletariat des klassischen Roms, noch mehr aber
die vor keiner Unthat zurückschreckenden Helferinnen in den Noten des Lebens,
die durch Horaz unsterblich gemachte

Selbst im Zeitalter der Aufklärung zwangen Abenteurer wie die Grafen
Se. Germain und Cagliostro die Elite ihrer Zeitgenossen in ihren Bann. Und
obgleich die moderne Zeit in der wissenschaftlichen Deutung der wunderbaren
Irrwege des menschlichen Geistes bedeutsame Schritte gethan hat, obgleich
sie das Wesen des Hypnotismus, die unheimliche Macht der Suggestion
systematisiert und rubriziert hat, obgleich es andrerseits der nüchternen Be¬
obachtung gelungen ist, den Spiritismus als Unsinn, als Betrug zu ent¬
larven, dem selbst geistige Größen wie Zöllner und Crookes zum Opfer fallen
konnten, und an dem Männer wie du Pret mit Zähigkeit festhalten, trotzdem
oder gerade deshalb werden tagtäglich Geister zitiert, die in harmlosen Spuk
mit Guitarren bombardieren oder nichtige Nachrichten aus dem Schattenreich
übermitteln; und trotz der Aufklärungen, durch die sich in medizinischer Hinsicht
Männer wie Bock, Niemeyer und zahlreiche Vereine und Behörden verdient
gemacht haben, finden kluge Frauen, mit Wasser und Lehm kurierende Geistliche,
Schäfer und andre Kurpfuscher ungeheuern Zulauf, nicht nur aus den Reihen
der llüsöi-A MW, sondern auch aus den Kreisen der geld- und geistgesegneten
obern Zehntausend. Es ist unzweifelhaft die Aufgabe eines treusorgenden
Staats, solchen Erscheinungen sein Augenmerk zuzuwenden und darauf zu
sinnen, daß unter ihnen die sg.1u8 put>1i<n nicht Schaden leide. In Bezug


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[0611] Geheimmittel Geheimnis des Weltmeers verlockte Kolumbus, sein Leben und das seiner Gefährten aufs Spiel zu setzen, und mit unheimlicher Gewalt zieht der ge¬ heimnisvolle dunkle Erdteil fort und fort den Menschen in seine gefährlichen Gebiete. Von alters her ist der in den dunkeln Tiefen der Seele ruhende Drang nach dem Geheimnisvoller bekannt, und von alters her hat man diesen Trieb, im Guten wie im Bösen, ausgenutzt. Ihm entspringen der noch jetzt die üppigsten Blüten treibende Wunderglaube, der Mystizismus und der Okkultismus in seinen verschiedensten Gestalten; auf ihm baut sich das Adepten- und Rosen- kreuzertum aus; das Geheimnis ist das Bindemittel, das die Freimaurerei zu¬ sammenhält; Geheimwissenschaft hieß der Köder, den der bekannte Sänger der Jobsiade, Kortüm. den Schalk im Nacken, an der Wende des vorigen Jahr¬ hunderts seinen Zeitgenossen vorhielt, um sie durch eine zu gründende gold- machendc Gesellschaft auf den Leim zu locken. Auf dieselben Instinkte pochten und spekulierten die Magier des Alter¬ tums, das lichtscheue Ärzteproletariat des klassischen Roms, noch mehr aber die vor keiner Unthat zurückschreckenden Helferinnen in den Noten des Lebens, die durch Horaz unsterblich gemachte Selbst im Zeitalter der Aufklärung zwangen Abenteurer wie die Grafen Se. Germain und Cagliostro die Elite ihrer Zeitgenossen in ihren Bann. Und obgleich die moderne Zeit in der wissenschaftlichen Deutung der wunderbaren Irrwege des menschlichen Geistes bedeutsame Schritte gethan hat, obgleich sie das Wesen des Hypnotismus, die unheimliche Macht der Suggestion systematisiert und rubriziert hat, obgleich es andrerseits der nüchternen Be¬ obachtung gelungen ist, den Spiritismus als Unsinn, als Betrug zu ent¬ larven, dem selbst geistige Größen wie Zöllner und Crookes zum Opfer fallen konnten, und an dem Männer wie du Pret mit Zähigkeit festhalten, trotzdem oder gerade deshalb werden tagtäglich Geister zitiert, die in harmlosen Spuk mit Guitarren bombardieren oder nichtige Nachrichten aus dem Schattenreich übermitteln; und trotz der Aufklärungen, durch die sich in medizinischer Hinsicht Männer wie Bock, Niemeyer und zahlreiche Vereine und Behörden verdient gemacht haben, finden kluge Frauen, mit Wasser und Lehm kurierende Geistliche, Schäfer und andre Kurpfuscher ungeheuern Zulauf, nicht nur aus den Reihen der llüsöi-A MW, sondern auch aus den Kreisen der geld- und geistgesegneten obern Zehntausend. Es ist unzweifelhaft die Aufgabe eines treusorgenden Staats, solchen Erscheinungen sein Augenmerk zuzuwenden und darauf zu sinnen, daß unter ihnen die sg.1u8 put>1i<n nicht Schaden leide. In Bezug

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/611>, abgerufen am 15.01.2025.