Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Briefe eines Zurückgekehrten

Anlage verwandeln. Man sieht, wie das Antlitz der Stadt umgewandt worden
ist. Man betritt sie jetzt von hinten. Daher der merkwürdige Gegensatz der
hohen Neubauten am Bahnhof zu den kleinen Häuschen dahinter. Erst nach
diesen folgt der Markt, der alle Anzeichen des Mittelpunktes einer kleinen
Stadt trägt.

Hildesheim wird das niederdeutsche Nürnberg genannt. Ich finde diese
Bezeichnung ganz ungeeignet. Hildesheim ist geschichtlich älter und hat zwei
große Blütezeiten gehabt. Schon für den einfach Durchwandernden ist die Zahl
hervorragender bürgerlicher Häuser in Hildesheim viel größer als in Nürn¬
berg. Kein Dürer und kein Bischer haben hier gewirkt, aber die Hildesheimer
Kunstblüte ragt in dem kirchlichen Werke viel weiter zurück, und die Blüte der
Profanarchitektur in der Renaissance ist viel reicher, bunter; ich möchte sagen,
und das Bild liegt in der Stadt des tausendjährigen Rosenstocks nicht weit,
diese Rose hat viel mehr Blätter. Es ist gerade das Merkwürdige bei
Hildesheim, daß die Kunstübung so um sich griff, daß im sechzehnten und
siebzehnten Jahrhundert kein Haus gebaut oder renoviert wurde, dem nicht
künstlerischer Schmuck zugefügt wurde. Das ist eins von den diesseits der
Alpen seltnen Beispiele, wo die Baukunst und Bildhauerei als Kunst kein
Luxus, sondern etwas Selbstverständliches geworden war. Nur darin erinnert
Hildesheim an Nürnberg. Wenn man sieht, wie sich die Kunst dann auch in
der Gegenwart wieder ausgerungen hat, und wie weit das neue, nach dem
Bahnhof zu gewachsene Hildesheim von der Banalität der modernen Städte
entfernt ist, dann erscheint uns das vom alten Bischof Bernward und seinen
Gefährten eingesenkte Samenkorn als ein unvergängliches. Die Kunst ist einmal
an diesem Orte groß gewesen, sie ist es wieder geworden und wird nie ganz
verdorren. Und so ist Hildesheim für die Kunst geheiligt. Wenn ich zu be¬
stimmen hätte, empfinge Hildesheim seinen aus dem jungen Schoß des ab¬
sterbenden verjüngten tausendjährigen Rosenstock zum Siegel und zum Zeichen
seiner tausendjährigen Kunstblüte.

Als Deutschamerikaner fühlte ich auf diesen Stätten den ganzen Segen einer
alten ruhmreichen Geschichte. Um diesen Segen muß jeder unbornierte Trans-
atlantiker die Alte Welt beneiden. Und gerade um diese Geschichte kraftvoller
Herrscher, die im einzelnen tüchtig zu verwalten und des Ganzen zugleich in großem
Sinne zu walten gewußt haben, müßte er eigentlich Deutschland besonders be¬
neiden. Als Zurückgekehrter muß ich aber auch den Vergleich ziehen zwischen
dem wenigen, was der Deutsche aus dieser großen alten Geschichte macht, und
dem vielen, was der Amerikaner aus seinem bischen Geschichte zu macheu weiß.
Ich habe gebildete Mitbesucher der Harzstädte klüglich unwissend gefunden.
Ich werde darüber keine pädagogische Abhandlung zum besten geben, sondern
nur meine Meinung aussprechen, daß die Schule zuviel von Themistokles und
Cäsar, zu wenig von Heinrich dem Ersten und Otto dem Großen sagt, und


Briefe eines Zurückgekehrten

Anlage verwandeln. Man sieht, wie das Antlitz der Stadt umgewandt worden
ist. Man betritt sie jetzt von hinten. Daher der merkwürdige Gegensatz der
hohen Neubauten am Bahnhof zu den kleinen Häuschen dahinter. Erst nach
diesen folgt der Markt, der alle Anzeichen des Mittelpunktes einer kleinen
Stadt trägt.

Hildesheim wird das niederdeutsche Nürnberg genannt. Ich finde diese
Bezeichnung ganz ungeeignet. Hildesheim ist geschichtlich älter und hat zwei
große Blütezeiten gehabt. Schon für den einfach Durchwandernden ist die Zahl
hervorragender bürgerlicher Häuser in Hildesheim viel größer als in Nürn¬
berg. Kein Dürer und kein Bischer haben hier gewirkt, aber die Hildesheimer
Kunstblüte ragt in dem kirchlichen Werke viel weiter zurück, und die Blüte der
Profanarchitektur in der Renaissance ist viel reicher, bunter; ich möchte sagen,
und das Bild liegt in der Stadt des tausendjährigen Rosenstocks nicht weit,
diese Rose hat viel mehr Blätter. Es ist gerade das Merkwürdige bei
Hildesheim, daß die Kunstübung so um sich griff, daß im sechzehnten und
siebzehnten Jahrhundert kein Haus gebaut oder renoviert wurde, dem nicht
künstlerischer Schmuck zugefügt wurde. Das ist eins von den diesseits der
Alpen seltnen Beispiele, wo die Baukunst und Bildhauerei als Kunst kein
Luxus, sondern etwas Selbstverständliches geworden war. Nur darin erinnert
Hildesheim an Nürnberg. Wenn man sieht, wie sich die Kunst dann auch in
der Gegenwart wieder ausgerungen hat, und wie weit das neue, nach dem
Bahnhof zu gewachsene Hildesheim von der Banalität der modernen Städte
entfernt ist, dann erscheint uns das vom alten Bischof Bernward und seinen
Gefährten eingesenkte Samenkorn als ein unvergängliches. Die Kunst ist einmal
an diesem Orte groß gewesen, sie ist es wieder geworden und wird nie ganz
verdorren. Und so ist Hildesheim für die Kunst geheiligt. Wenn ich zu be¬
stimmen hätte, empfinge Hildesheim seinen aus dem jungen Schoß des ab¬
sterbenden verjüngten tausendjährigen Rosenstock zum Siegel und zum Zeichen
seiner tausendjährigen Kunstblüte.

Als Deutschamerikaner fühlte ich auf diesen Stätten den ganzen Segen einer
alten ruhmreichen Geschichte. Um diesen Segen muß jeder unbornierte Trans-
atlantiker die Alte Welt beneiden. Und gerade um diese Geschichte kraftvoller
Herrscher, die im einzelnen tüchtig zu verwalten und des Ganzen zugleich in großem
Sinne zu walten gewußt haben, müßte er eigentlich Deutschland besonders be¬
neiden. Als Zurückgekehrter muß ich aber auch den Vergleich ziehen zwischen
dem wenigen, was der Deutsche aus dieser großen alten Geschichte macht, und
dem vielen, was der Amerikaner aus seinem bischen Geschichte zu macheu weiß.
Ich habe gebildete Mitbesucher der Harzstädte klüglich unwissend gefunden.
Ich werde darüber keine pädagogische Abhandlung zum besten geben, sondern
nur meine Meinung aussprechen, daß die Schule zuviel von Themistokles und
Cäsar, zu wenig von Heinrich dem Ersten und Otto dem Großen sagt, und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0608" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231778"/>
          <fw type="header" place="top"> Briefe eines Zurückgekehrten</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1978" prev="#ID_1977"> Anlage verwandeln. Man sieht, wie das Antlitz der Stadt umgewandt worden<lb/>
ist. Man betritt sie jetzt von hinten. Daher der merkwürdige Gegensatz der<lb/>
hohen Neubauten am Bahnhof zu den kleinen Häuschen dahinter. Erst nach<lb/>
diesen folgt der Markt, der alle Anzeichen des Mittelpunktes einer kleinen<lb/>
Stadt trägt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1979"> Hildesheim wird das niederdeutsche Nürnberg genannt. Ich finde diese<lb/>
Bezeichnung ganz ungeeignet. Hildesheim ist geschichtlich älter und hat zwei<lb/>
große Blütezeiten gehabt. Schon für den einfach Durchwandernden ist die Zahl<lb/>
hervorragender bürgerlicher Häuser in Hildesheim viel größer als in Nürn¬<lb/>
berg. Kein Dürer und kein Bischer haben hier gewirkt, aber die Hildesheimer<lb/>
Kunstblüte ragt in dem kirchlichen Werke viel weiter zurück, und die Blüte der<lb/>
Profanarchitektur in der Renaissance ist viel reicher, bunter; ich möchte sagen,<lb/>
und das Bild liegt in der Stadt des tausendjährigen Rosenstocks nicht weit,<lb/>
diese Rose hat viel mehr Blätter. Es ist gerade das Merkwürdige bei<lb/>
Hildesheim, daß die Kunstübung so um sich griff, daß im sechzehnten und<lb/>
siebzehnten Jahrhundert kein Haus gebaut oder renoviert wurde, dem nicht<lb/>
künstlerischer Schmuck zugefügt wurde. Das ist eins von den diesseits der<lb/>
Alpen seltnen Beispiele, wo die Baukunst und Bildhauerei als Kunst kein<lb/>
Luxus, sondern etwas Selbstverständliches geworden war. Nur darin erinnert<lb/>
Hildesheim an Nürnberg. Wenn man sieht, wie sich die Kunst dann auch in<lb/>
der Gegenwart wieder ausgerungen hat, und wie weit das neue, nach dem<lb/>
Bahnhof zu gewachsene Hildesheim von der Banalität der modernen Städte<lb/>
entfernt ist, dann erscheint uns das vom alten Bischof Bernward und seinen<lb/>
Gefährten eingesenkte Samenkorn als ein unvergängliches. Die Kunst ist einmal<lb/>
an diesem Orte groß gewesen, sie ist es wieder geworden und wird nie ganz<lb/>
verdorren. Und so ist Hildesheim für die Kunst geheiligt. Wenn ich zu be¬<lb/>
stimmen hätte, empfinge Hildesheim seinen aus dem jungen Schoß des ab¬<lb/>
sterbenden verjüngten tausendjährigen Rosenstock zum Siegel und zum Zeichen<lb/>
seiner tausendjährigen Kunstblüte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1980" next="#ID_1981"> Als Deutschamerikaner fühlte ich auf diesen Stätten den ganzen Segen einer<lb/>
alten ruhmreichen Geschichte. Um diesen Segen muß jeder unbornierte Trans-<lb/>
atlantiker die Alte Welt beneiden. Und gerade um diese Geschichte kraftvoller<lb/>
Herrscher, die im einzelnen tüchtig zu verwalten und des Ganzen zugleich in großem<lb/>
Sinne zu walten gewußt haben, müßte er eigentlich Deutschland besonders be¬<lb/>
neiden. Als Zurückgekehrter muß ich aber auch den Vergleich ziehen zwischen<lb/>
dem wenigen, was der Deutsche aus dieser großen alten Geschichte macht, und<lb/>
dem vielen, was der Amerikaner aus seinem bischen Geschichte zu macheu weiß.<lb/>
Ich habe gebildete Mitbesucher der Harzstädte klüglich unwissend gefunden.<lb/>
Ich werde darüber keine pädagogische Abhandlung zum besten geben, sondern<lb/>
nur meine Meinung aussprechen, daß die Schule zuviel von Themistokles und<lb/>
Cäsar, zu wenig von Heinrich dem Ersten und Otto dem Großen sagt, und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0608] Briefe eines Zurückgekehrten Anlage verwandeln. Man sieht, wie das Antlitz der Stadt umgewandt worden ist. Man betritt sie jetzt von hinten. Daher der merkwürdige Gegensatz der hohen Neubauten am Bahnhof zu den kleinen Häuschen dahinter. Erst nach diesen folgt der Markt, der alle Anzeichen des Mittelpunktes einer kleinen Stadt trägt. Hildesheim wird das niederdeutsche Nürnberg genannt. Ich finde diese Bezeichnung ganz ungeeignet. Hildesheim ist geschichtlich älter und hat zwei große Blütezeiten gehabt. Schon für den einfach Durchwandernden ist die Zahl hervorragender bürgerlicher Häuser in Hildesheim viel größer als in Nürn¬ berg. Kein Dürer und kein Bischer haben hier gewirkt, aber die Hildesheimer Kunstblüte ragt in dem kirchlichen Werke viel weiter zurück, und die Blüte der Profanarchitektur in der Renaissance ist viel reicher, bunter; ich möchte sagen, und das Bild liegt in der Stadt des tausendjährigen Rosenstocks nicht weit, diese Rose hat viel mehr Blätter. Es ist gerade das Merkwürdige bei Hildesheim, daß die Kunstübung so um sich griff, daß im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert kein Haus gebaut oder renoviert wurde, dem nicht künstlerischer Schmuck zugefügt wurde. Das ist eins von den diesseits der Alpen seltnen Beispiele, wo die Baukunst und Bildhauerei als Kunst kein Luxus, sondern etwas Selbstverständliches geworden war. Nur darin erinnert Hildesheim an Nürnberg. Wenn man sieht, wie sich die Kunst dann auch in der Gegenwart wieder ausgerungen hat, und wie weit das neue, nach dem Bahnhof zu gewachsene Hildesheim von der Banalität der modernen Städte entfernt ist, dann erscheint uns das vom alten Bischof Bernward und seinen Gefährten eingesenkte Samenkorn als ein unvergängliches. Die Kunst ist einmal an diesem Orte groß gewesen, sie ist es wieder geworden und wird nie ganz verdorren. Und so ist Hildesheim für die Kunst geheiligt. Wenn ich zu be¬ stimmen hätte, empfinge Hildesheim seinen aus dem jungen Schoß des ab¬ sterbenden verjüngten tausendjährigen Rosenstock zum Siegel und zum Zeichen seiner tausendjährigen Kunstblüte. Als Deutschamerikaner fühlte ich auf diesen Stätten den ganzen Segen einer alten ruhmreichen Geschichte. Um diesen Segen muß jeder unbornierte Trans- atlantiker die Alte Welt beneiden. Und gerade um diese Geschichte kraftvoller Herrscher, die im einzelnen tüchtig zu verwalten und des Ganzen zugleich in großem Sinne zu walten gewußt haben, müßte er eigentlich Deutschland besonders be¬ neiden. Als Zurückgekehrter muß ich aber auch den Vergleich ziehen zwischen dem wenigen, was der Deutsche aus dieser großen alten Geschichte macht, und dem vielen, was der Amerikaner aus seinem bischen Geschichte zu macheu weiß. Ich habe gebildete Mitbesucher der Harzstädte klüglich unwissend gefunden. Ich werde darüber keine pädagogische Abhandlung zum besten geben, sondern nur meine Meinung aussprechen, daß die Schule zuviel von Themistokles und Cäsar, zu wenig von Heinrich dem Ersten und Otto dem Großen sagt, und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/608
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/608>, abgerufen am 15.01.2025.