Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.Das deutsche Lesebuch gelegt. Welche Bedeutung die Reformation für die Entwicklung der Schule über¬ Bis in das siebzehnte Jahrhundert blieb es aber bei solchen ganz ver¬ Den wirklichen Übergang zur Verwendung weltlichen Lesestoffs in der Wir können über ein Jahrhundert hingehn, ohne irgend einen merklichen Aber überall regten sich nun doch die Versuche, der Schule einen geeig¬ Das deutsche Lesebuch gelegt. Welche Bedeutung die Reformation für die Entwicklung der Schule über¬ Bis in das siebzehnte Jahrhundert blieb es aber bei solchen ganz ver¬ Den wirklichen Übergang zur Verwendung weltlichen Lesestoffs in der Wir können über ein Jahrhundert hingehn, ohne irgend einen merklichen Aber überall regten sich nun doch die Versuche, der Schule einen geeig¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0571" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231741"/> <fw type="header" place="top"> Das deutsche Lesebuch</fw><lb/> <p xml:id="ID_1864" prev="#ID_1863"> gelegt. Welche Bedeutung die Reformation für die Entwicklung der Schule über¬<lb/> haupt gehabt hat, ist bekannt, ebenso auch, daß durch sie Katechismus und Bibel<lb/> als wichtigster und für lange Zeit durchaus herrschender Lesestoff in die Schule<lb/> eingeführt wurden. Aber wir treffen auch sofort an der Schwelle der neuen<lb/> Zeit den ersten Vorläufer des Lesebuchs in dem kleinen Handbüchlein Melanch-<lb/> thons: er unternimmt es zum erstenmale, neben den überkommnen üblichen<lb/> Fibelstoff weltliche Weisheitssprüche und frei gebildete Gebete zu stellen. Und<lb/> so gewiß auch von einer Umbildung der Fibel zum Lesebuch im ganzen sech¬<lb/> zehnten Jahrhundert keine Rede sein kann, so zeigen sich doch schon überall<lb/> die verschiedensten Versuche, weltlichen Lesestoff in die Schule einzuführen.<lb/> Wir finden hier schon Anweisungen zum Briefschreiben und zum Rechnen, die<lb/> ersten Fibelverse stellen sich ein, die Vorläufer der später so viel variierten<lb/> Abcverse, zu denen sich bald auch Bilder gesellen; gegen Ende des Jahr¬<lb/> hunderts treten uns zuerst auch Anstandsregeln im Schulbuch entgegen, ein<lb/> Stoffgebiet, das seine Herrschaft im Schulunterricht lange behauptet und sich<lb/> oft in lächerlicher Weise darin breit gemacht hat. Heute lebt es wohl nur<lb/> noch in kurzen Sprüchlein wie dem allbekannten „Mit dem Hute in der Hand"<lb/> in den Lesebüchern fort.</p><lb/> <p xml:id="ID_1865"> Bis in das siebzehnte Jahrhundert blieb es aber bei solchen ganz ver¬<lb/> einzelten schüchternen Anfängen; im allgemeinen war und blieb der Katechismus<lb/> in engerer oder weiterer Form der einzige Lesestoff der Schule und die Fähig¬<lb/> keit, die Bibel zu lesen, das Hauptziel des Leseunterrichts.</p><lb/> <p xml:id="ID_1866"> Den wirklichen Übergang zur Verwendung weltlichen Lesestoffs in der<lb/> Schule brachte erst der Verlauf des siebzehnten Jahrhunderts. An seiner<lb/> Schwelle stehn Männer wie Bacon, der Prophet des philosophischen Rea¬<lb/> lismus, und Comenius, der den realistischen Zug in die Pädagogik einführte:<lb/> Erwerbung von Kenntnissen auf möglichst vielen Gebieten! das war die neue<lb/> Forderung, die diese Zeit zuerst an allen Schulunterricht stellte. Der erste,<lb/> der diesen Grundsatz in einem Schulbuche durchzuführen suchte, war Andreas<lb/> Reyher, der unter dem bekannten Herzog Ernst dem Frommen dem Schul¬<lb/> wesen des Landes Gotha Vorstand. Er suchte in seinem „Kurzen Unterricht,"<lb/> der zwar nicht eigentlich ein Lesebuch, aber doch ein Volksschulbuch war,<lb/> namentlich naturgeschichtliche Kenntnisse in die Schule einzuführen, daneben<lb/> auch schon einzelnes über das Wesen des Menschen und des Staatslebens,<lb/> Stoffe, die später auch vielfach einen breiten Raum in den Lesebüchern in An¬<lb/> spruch nahmen. Andre gerieten in dem Bestreben, dem Leselernbuch selbst,<lb/> also der Fibel, Wissensstoff zuzuführen, auf die abenteuerlichsten Gedanken:<lb/> gelehrte Abhandlungen über Entstehung der Buchstaben, Spielereien mit Akro¬<lb/> stichen und Anagrammeu, endlose Reihen fremder Alphabete bis zu denen der<lb/> unglaublichsten asiatischen Völkerschaften hängte man dem Abcbuche an: der<lb/> Geist des barocken Zeitalters verleugnet sich auch auf diesem Gebiete nicht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1867"> Wir können über ein Jahrhundert hingehn, ohne irgend einen merklichen<lb/> Fortschritt über die Versuche Neyhers hinaus wahrzunehmen. Unter der Reihe<lb/> von Lesebüchern, die das preußische Landschulreglement von 1757 aufzählt,<lb/> finden wir neben dem ganz überwiegenden religiösen Lesestoff noch immer nur<lb/> einige trockne Lehrbüchlein, die „das Allgemeine von Gott, von der Welt und<lb/> vom Menschen" und „allerhand nötige und nützliche Dinge" für Kinder auf<lb/> dem Lande enthielten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1868" next="#ID_1869"> Aber überall regten sich nun doch die Versuche, der Schule einen geeig¬<lb/> neten weltlichen Lesestoff zu schaffen, der der Bildung des kindlichen Geists</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0571]
Das deutsche Lesebuch
gelegt. Welche Bedeutung die Reformation für die Entwicklung der Schule über¬
haupt gehabt hat, ist bekannt, ebenso auch, daß durch sie Katechismus und Bibel
als wichtigster und für lange Zeit durchaus herrschender Lesestoff in die Schule
eingeführt wurden. Aber wir treffen auch sofort an der Schwelle der neuen
Zeit den ersten Vorläufer des Lesebuchs in dem kleinen Handbüchlein Melanch-
thons: er unternimmt es zum erstenmale, neben den überkommnen üblichen
Fibelstoff weltliche Weisheitssprüche und frei gebildete Gebete zu stellen. Und
so gewiß auch von einer Umbildung der Fibel zum Lesebuch im ganzen sech¬
zehnten Jahrhundert keine Rede sein kann, so zeigen sich doch schon überall
die verschiedensten Versuche, weltlichen Lesestoff in die Schule einzuführen.
Wir finden hier schon Anweisungen zum Briefschreiben und zum Rechnen, die
ersten Fibelverse stellen sich ein, die Vorläufer der später so viel variierten
Abcverse, zu denen sich bald auch Bilder gesellen; gegen Ende des Jahr¬
hunderts treten uns zuerst auch Anstandsregeln im Schulbuch entgegen, ein
Stoffgebiet, das seine Herrschaft im Schulunterricht lange behauptet und sich
oft in lächerlicher Weise darin breit gemacht hat. Heute lebt es wohl nur
noch in kurzen Sprüchlein wie dem allbekannten „Mit dem Hute in der Hand"
in den Lesebüchern fort.
Bis in das siebzehnte Jahrhundert blieb es aber bei solchen ganz ver¬
einzelten schüchternen Anfängen; im allgemeinen war und blieb der Katechismus
in engerer oder weiterer Form der einzige Lesestoff der Schule und die Fähig¬
keit, die Bibel zu lesen, das Hauptziel des Leseunterrichts.
Den wirklichen Übergang zur Verwendung weltlichen Lesestoffs in der
Schule brachte erst der Verlauf des siebzehnten Jahrhunderts. An seiner
Schwelle stehn Männer wie Bacon, der Prophet des philosophischen Rea¬
lismus, und Comenius, der den realistischen Zug in die Pädagogik einführte:
Erwerbung von Kenntnissen auf möglichst vielen Gebieten! das war die neue
Forderung, die diese Zeit zuerst an allen Schulunterricht stellte. Der erste,
der diesen Grundsatz in einem Schulbuche durchzuführen suchte, war Andreas
Reyher, der unter dem bekannten Herzog Ernst dem Frommen dem Schul¬
wesen des Landes Gotha Vorstand. Er suchte in seinem „Kurzen Unterricht,"
der zwar nicht eigentlich ein Lesebuch, aber doch ein Volksschulbuch war,
namentlich naturgeschichtliche Kenntnisse in die Schule einzuführen, daneben
auch schon einzelnes über das Wesen des Menschen und des Staatslebens,
Stoffe, die später auch vielfach einen breiten Raum in den Lesebüchern in An¬
spruch nahmen. Andre gerieten in dem Bestreben, dem Leselernbuch selbst,
also der Fibel, Wissensstoff zuzuführen, auf die abenteuerlichsten Gedanken:
gelehrte Abhandlungen über Entstehung der Buchstaben, Spielereien mit Akro¬
stichen und Anagrammeu, endlose Reihen fremder Alphabete bis zu denen der
unglaublichsten asiatischen Völkerschaften hängte man dem Abcbuche an: der
Geist des barocken Zeitalters verleugnet sich auch auf diesem Gebiete nicht.
Wir können über ein Jahrhundert hingehn, ohne irgend einen merklichen
Fortschritt über die Versuche Neyhers hinaus wahrzunehmen. Unter der Reihe
von Lesebüchern, die das preußische Landschulreglement von 1757 aufzählt,
finden wir neben dem ganz überwiegenden religiösen Lesestoff noch immer nur
einige trockne Lehrbüchlein, die „das Allgemeine von Gott, von der Welt und
vom Menschen" und „allerhand nötige und nützliche Dinge" für Kinder auf
dem Lande enthielten.
Aber überall regten sich nun doch die Versuche, der Schule einen geeig¬
neten weltlichen Lesestoff zu schaffen, der der Bildung des kindlichen Geists
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