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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Ein weinender Bettler, stand am Wege
Das arme Vaterland,
Und flehte dich an um milde Pflege
Mit ausgehöhlter Hand;
Doch wie auch klagte die bittre Klage,
Wie auch die Thräne raun:
Du erlebst mit gellendem Geißelschlage
Vorüber dein Gespann!

Sage deiner verehrten Fron, daß sich über ihrer Geduld ein Gewitter zu¬
sammenziehe; denn nächstens soll sie mit einem langen Briefe von mir heimgesucht
werden.

Nun lebe wohl, lieber, guter Freund, und schreibe mir bald, wie es Euch
geht, und Ihr, die mir das Liebste ist auf Erden. Tausend herzliche Grüße deiner
Frau, deinen Kindern


Niembsch. ewig dein treuer Freund

Ich danke dir und deiner Frau herzlich für die gütige Übersendung meines
Koffers, auf dessen Deckel ich die lieben Schriftzüge fand, die mir schon so viel
Freude gebracht. -- Soeben erhielt ich einen Brief von Klemm aus Paris, worin
er sich dir und deiner Frau dankbarlichst empfehlen läßt; besonders aber die liebe
kleine Mili grüßen läßt.

Wenn man diesen Herzenserguß Lenens liest, wenn man ferner den unten
mitgeteilten Brief Lenaus vom 16. Februar 1832 kennt, dann wird man mir
beistimmen, wenn ich Gustav Schwab den Beichtvater des Dichters in dieser
Zeit nenne. Der Künstler in Lenau erkannte und liebte in Gustav Schwab
seinen Berater: er empfing von ihm -- nach Lenans eignen Worten -- seine
poetische Konfirmation und spürte dessen segnende Hand in jedem spätern Ge¬
dichte; und der Mensch in Lenau liebte und verehrte noch mehr in Gustav
Schwab seinen Beichtvater, dem er die feinsten Regungen lind geheimnisvollen
Tiefen seines Wesens offenbarte. Denn noch immer zitterte seine Seele im
verhaltnen Schmerz um Lotte. Er konnte das entscheidende Wort -- so oder
so -- nicht finden: einerseits fehlte ihm der Mut, durch einen kurzen energischen
Wagesprung vorwärts die Vergangenheit mit ihren trüben Erfahrungen und
ungelösten Dissonanzen hinter sich zu lassen und kühn und frisch ein nach
menschlichen Begriffen freudiges, glückliches Leben an der Seite des geliebten
Wesens zu beginnen, und andrerseits konnte sich seine Seele nicht zu dem
Grad strammer Selbstzucht aufraffen, daß er ebenfalls kurz entschlossen dnrch
Selbstüberwindung dem geliebten Mädchen entsagte. So zeigte seine Seele
eine erschreckende Weichheit, es fehlte ihr ein fester Zusatz, um den Schwan¬
kungen des launischen Schicksals männlich stand halten zu können. Sie zitterte
haltlos, ziellos hin und her, pendelte zwischen Lust und Schmerz; heute be¬
rauschte sie sich an lockenden Zukunftsbildern, an süß beseligenden Hoffnungen
auf kommendes Glück; morgen tauchte sie, vernichtet und aller Seligkeit beraubt,
wieder in die Schmerzensflut der finstern Vergangenheit. Seine Freunde sahen,


Ein weinender Bettler, stand am Wege
Das arme Vaterland,
Und flehte dich an um milde Pflege
Mit ausgehöhlter Hand;
Doch wie auch klagte die bittre Klage,
Wie auch die Thräne raun:
Du erlebst mit gellendem Geißelschlage
Vorüber dein Gespann!

Sage deiner verehrten Fron, daß sich über ihrer Geduld ein Gewitter zu¬
sammenziehe; denn nächstens soll sie mit einem langen Briefe von mir heimgesucht
werden.

Nun lebe wohl, lieber, guter Freund, und schreibe mir bald, wie es Euch
geht, und Ihr, die mir das Liebste ist auf Erden. Tausend herzliche Grüße deiner
Frau, deinen Kindern


Niembsch. ewig dein treuer Freund

Ich danke dir und deiner Frau herzlich für die gütige Übersendung meines
Koffers, auf dessen Deckel ich die lieben Schriftzüge fand, die mir schon so viel
Freude gebracht. — Soeben erhielt ich einen Brief von Klemm aus Paris, worin
er sich dir und deiner Frau dankbarlichst empfehlen läßt; besonders aber die liebe
kleine Mili grüßen läßt.

Wenn man diesen Herzenserguß Lenens liest, wenn man ferner den unten
mitgeteilten Brief Lenaus vom 16. Februar 1832 kennt, dann wird man mir
beistimmen, wenn ich Gustav Schwab den Beichtvater des Dichters in dieser
Zeit nenne. Der Künstler in Lenau erkannte und liebte in Gustav Schwab
seinen Berater: er empfing von ihm — nach Lenans eignen Worten — seine
poetische Konfirmation und spürte dessen segnende Hand in jedem spätern Ge¬
dichte; und der Mensch in Lenau liebte und verehrte noch mehr in Gustav
Schwab seinen Beichtvater, dem er die feinsten Regungen lind geheimnisvollen
Tiefen seines Wesens offenbarte. Denn noch immer zitterte seine Seele im
verhaltnen Schmerz um Lotte. Er konnte das entscheidende Wort — so oder
so — nicht finden: einerseits fehlte ihm der Mut, durch einen kurzen energischen
Wagesprung vorwärts die Vergangenheit mit ihren trüben Erfahrungen und
ungelösten Dissonanzen hinter sich zu lassen und kühn und frisch ein nach
menschlichen Begriffen freudiges, glückliches Leben an der Seite des geliebten
Wesens zu beginnen, und andrerseits konnte sich seine Seele nicht zu dem
Grad strammer Selbstzucht aufraffen, daß er ebenfalls kurz entschlossen dnrch
Selbstüberwindung dem geliebten Mädchen entsagte. So zeigte seine Seele
eine erschreckende Weichheit, es fehlte ihr ein fester Zusatz, um den Schwan¬
kungen des launischen Schicksals männlich stand halten zu können. Sie zitterte
haltlos, ziellos hin und her, pendelte zwischen Lust und Schmerz; heute be¬
rauschte sie sich an lockenden Zukunftsbildern, an süß beseligenden Hoffnungen
auf kommendes Glück; morgen tauchte sie, vernichtet und aller Seligkeit beraubt,
wieder in die Schmerzensflut der finstern Vergangenheit. Seine Freunde sahen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/559>, abgerufen am 15.01.2025.