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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Die Rechtsanwaltschaft bei den Amtsgerichten

Rechte, Lohn für ehrliche Arbeit vorenthält."*) Andre Amtsrichter gehn von
der Anschauung aus, daß die Reife juristischer Erwägungen, die Durcharbeitung
des Stoffs den höhern Gerichten obliege, während es bei dem Amtsrichter mehr
auf schnelle Erledigung ankomme, als darauf, wie die Angelegenheit erledigt
wird.**) Wie häufig ist die überaus schlimme Neigung, jeder Sache schon zum
voraus das Richtige ansehen zu können, also durch die freie Beweiswürdigung
zur Willkür geführt zu werden. Stölzel berichtet von einem Richter, der den
Standpunkt hat: "Ich sehe jetzt nach Einführung der Zivilprozeßordnung
den Beklagten nur an; leugnet er und zwinkert er dabei mit den Augen, so
glaube ich ihm nicht, und er wird verurteilt."***) Allen derartigen Gefahren
ist der Amtsrichter aus den oben angegebnen Gründen in weit höherm Maße
ausgesetzt als die Richter andrer Gerichte; erwähnt werden mag noch die ge¬
fährliche Neigung, die Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit gänzlich zu
verkennen und der eignen Nechtsmeinung den Vorzug zu geben vor der durch
ständige Rechtsprechung festgestellten Auslegung des Gesetzes. Wer wird aber
am meisten durch eine derartige unrichtige Amtsführung berührt? Der Rechts-
anwalt, der für die Ausübung seiner Hauptthätigkeit, für den Zivilprozeß, auf
einen einzelnen Beamten angewiesen ist; die Partei ist ja nur zu sehr geneigt,
jeden Mißerfolg auf ein Verschulden des Urwalds zurückzuführen.

Daß sich die allgemeine Lage der Rechtsanwaltschaft seit der Einführung
der freien Advokatur sehr zu Ungunsten des Anwaltstands geändert hat, ist
nicht zu bezweifeln. Einer der hervorragendsten Anwälte der Gegenwart, der
als Verehrer der freien Advokatur jeder Beschränkung der Zahl der Anwälte
durchaus widerspricht, hat es dennoch offen zugegeben, "daß seit der Geltung
der freien Advokatur in die Rechtsanwaltschaft eine große Anzahl von Leuten
eingedrungen sei, deren Fernbleiben im Interesse des Publikums, der Gerichte
und der Rechtsanwälte wünschenswert gewesen wäre," und die "wesentlich
dazu beigetragen haben, das Ansehen des Anwaltstands gegenüber dem Zustande,
wie er namentlich in Preußen bis zum Oktober 1879 bestand, herabzudrücken";
sowie daß die Richter die Anwälte "vielfach als eine untergeordnete, durch¬
schnittlich zum Schlechten geneigte, präsumtiv unwahrhaftige Klasse von Menschen
ansehen." f) Daß unter derartigen abfälligen Urteilen der Schuldige mit dem






*) Vgl. das Werk des preussischen Geheimen Oberjustizrats Stölzel, Schulung für die
Zivilpraxis, S. 54.
Vgl. die Rede des Abgeordneten Laster in der Sitzung des preußischen Abgeordneten¬
hauses vom 20. November 1377, der zutreffend rügte, das; man Ansichten dieser Art sogar in
den Motiven des damals beratnen preußischen Ausführungsgesetzcs zum GcrichtSverfassungs-
gesetz finde.
Stölzel a, n. O,, S. 148.
1') von Wilmowski: "Zur Organisation des Anivaltstnnds" in der Zeitschrift für deutschen
Zivilprozeß, Bd. L0, S. 416 ff.
Die Rechtsanwaltschaft bei den Amtsgerichten

Rechte, Lohn für ehrliche Arbeit vorenthält."*) Andre Amtsrichter gehn von
der Anschauung aus, daß die Reife juristischer Erwägungen, die Durcharbeitung
des Stoffs den höhern Gerichten obliege, während es bei dem Amtsrichter mehr
auf schnelle Erledigung ankomme, als darauf, wie die Angelegenheit erledigt
wird.**) Wie häufig ist die überaus schlimme Neigung, jeder Sache schon zum
voraus das Richtige ansehen zu können, also durch die freie Beweiswürdigung
zur Willkür geführt zu werden. Stölzel berichtet von einem Richter, der den
Standpunkt hat: „Ich sehe jetzt nach Einführung der Zivilprozeßordnung
den Beklagten nur an; leugnet er und zwinkert er dabei mit den Augen, so
glaube ich ihm nicht, und er wird verurteilt."***) Allen derartigen Gefahren
ist der Amtsrichter aus den oben angegebnen Gründen in weit höherm Maße
ausgesetzt als die Richter andrer Gerichte; erwähnt werden mag noch die ge¬
fährliche Neigung, die Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit gänzlich zu
verkennen und der eignen Nechtsmeinung den Vorzug zu geben vor der durch
ständige Rechtsprechung festgestellten Auslegung des Gesetzes. Wer wird aber
am meisten durch eine derartige unrichtige Amtsführung berührt? Der Rechts-
anwalt, der für die Ausübung seiner Hauptthätigkeit, für den Zivilprozeß, auf
einen einzelnen Beamten angewiesen ist; die Partei ist ja nur zu sehr geneigt,
jeden Mißerfolg auf ein Verschulden des Urwalds zurückzuführen.

Daß sich die allgemeine Lage der Rechtsanwaltschaft seit der Einführung
der freien Advokatur sehr zu Ungunsten des Anwaltstands geändert hat, ist
nicht zu bezweifeln. Einer der hervorragendsten Anwälte der Gegenwart, der
als Verehrer der freien Advokatur jeder Beschränkung der Zahl der Anwälte
durchaus widerspricht, hat es dennoch offen zugegeben, „daß seit der Geltung
der freien Advokatur in die Rechtsanwaltschaft eine große Anzahl von Leuten
eingedrungen sei, deren Fernbleiben im Interesse des Publikums, der Gerichte
und der Rechtsanwälte wünschenswert gewesen wäre," und die „wesentlich
dazu beigetragen haben, das Ansehen des Anwaltstands gegenüber dem Zustande,
wie er namentlich in Preußen bis zum Oktober 1879 bestand, herabzudrücken";
sowie daß die Richter die Anwälte „vielfach als eine untergeordnete, durch¬
schnittlich zum Schlechten geneigte, präsumtiv unwahrhaftige Klasse von Menschen
ansehen." f) Daß unter derartigen abfälligen Urteilen der Schuldige mit dem






*) Vgl. das Werk des preussischen Geheimen Oberjustizrats Stölzel, Schulung für die
Zivilpraxis, S. 54.
Vgl. die Rede des Abgeordneten Laster in der Sitzung des preußischen Abgeordneten¬
hauses vom 20. November 1377, der zutreffend rügte, das; man Ansichten dieser Art sogar in
den Motiven des damals beratnen preußischen Ausführungsgesetzcs zum GcrichtSverfassungs-
gesetz finde.
Stölzel a, n. O,, S. 148.
1') von Wilmowski: „Zur Organisation des Anivaltstnnds" in der Zeitschrift für deutschen
Zivilprozeß, Bd. L0, S. 416 ff.
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[0540] Die Rechtsanwaltschaft bei den Amtsgerichten Rechte, Lohn für ehrliche Arbeit vorenthält."*) Andre Amtsrichter gehn von der Anschauung aus, daß die Reife juristischer Erwägungen, die Durcharbeitung des Stoffs den höhern Gerichten obliege, während es bei dem Amtsrichter mehr auf schnelle Erledigung ankomme, als darauf, wie die Angelegenheit erledigt wird.**) Wie häufig ist die überaus schlimme Neigung, jeder Sache schon zum voraus das Richtige ansehen zu können, also durch die freie Beweiswürdigung zur Willkür geführt zu werden. Stölzel berichtet von einem Richter, der den Standpunkt hat: „Ich sehe jetzt nach Einführung der Zivilprozeßordnung den Beklagten nur an; leugnet er und zwinkert er dabei mit den Augen, so glaube ich ihm nicht, und er wird verurteilt."***) Allen derartigen Gefahren ist der Amtsrichter aus den oben angegebnen Gründen in weit höherm Maße ausgesetzt als die Richter andrer Gerichte; erwähnt werden mag noch die ge¬ fährliche Neigung, die Bedeutung der richterlichen Unabhängigkeit gänzlich zu verkennen und der eignen Nechtsmeinung den Vorzug zu geben vor der durch ständige Rechtsprechung festgestellten Auslegung des Gesetzes. Wer wird aber am meisten durch eine derartige unrichtige Amtsführung berührt? Der Rechts- anwalt, der für die Ausübung seiner Hauptthätigkeit, für den Zivilprozeß, auf einen einzelnen Beamten angewiesen ist; die Partei ist ja nur zu sehr geneigt, jeden Mißerfolg auf ein Verschulden des Urwalds zurückzuführen. Daß sich die allgemeine Lage der Rechtsanwaltschaft seit der Einführung der freien Advokatur sehr zu Ungunsten des Anwaltstands geändert hat, ist nicht zu bezweifeln. Einer der hervorragendsten Anwälte der Gegenwart, der als Verehrer der freien Advokatur jeder Beschränkung der Zahl der Anwälte durchaus widerspricht, hat es dennoch offen zugegeben, „daß seit der Geltung der freien Advokatur in die Rechtsanwaltschaft eine große Anzahl von Leuten eingedrungen sei, deren Fernbleiben im Interesse des Publikums, der Gerichte und der Rechtsanwälte wünschenswert gewesen wäre," und die „wesentlich dazu beigetragen haben, das Ansehen des Anwaltstands gegenüber dem Zustande, wie er namentlich in Preußen bis zum Oktober 1879 bestand, herabzudrücken"; sowie daß die Richter die Anwälte „vielfach als eine untergeordnete, durch¬ schnittlich zum Schlechten geneigte, präsumtiv unwahrhaftige Klasse von Menschen ansehen." f) Daß unter derartigen abfälligen Urteilen der Schuldige mit dem *) Vgl. das Werk des preussischen Geheimen Oberjustizrats Stölzel, Schulung für die Zivilpraxis, S. 54. Vgl. die Rede des Abgeordneten Laster in der Sitzung des preußischen Abgeordneten¬ hauses vom 20. November 1377, der zutreffend rügte, das; man Ansichten dieser Art sogar in den Motiven des damals beratnen preußischen Ausführungsgesetzcs zum GcrichtSverfassungs- gesetz finde. Stölzel a, n. O,, S. 148. 1') von Wilmowski: „Zur Organisation des Anivaltstnnds" in der Zeitschrift für deutschen Zivilprozeß, Bd. L0, S. 416 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/540>, abgerufen am 15.01.2025.