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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Die Ablehnung des Mittellandkanals

besonders betont werden, auf dem Gebiet der Wasserbauverwaltung. Hier ist
durch die Regierung viel gefehlt worden. Nicht nur, daß man den Neu-
forderungen der Gegenwart keine Rechnung trug, man ließ auch verkommen
und verfallen, was die Vorzeit durch fürsorgliche Verwaltung geschaffen,
und wodurch sie den Wohlstand weiter Landstriche begründet hatte. Die
Zustände an der Oder, Spree und Havel spotten feit Jahrzehnten jeder Be¬
schreibung. Ganze Landstriche siud verarmt -- und es geschieht nichts, als
daß von Zeit zu Zeit ein Projekt aufgestellt wird, Verhandlungen geführt
werden, und dann alles beim alten bleibt. Dabei werden den Interessenten
Projekte vorgelegt, die auf gänzlicher Unkenntnis der Verhältnisse beruhen,
ohne daß man sich herbeiläßt, ihren Rat anzunehmen; außerdem werden ihnen
Opfer zugemutet, die ihre Kräfte weit übersteigen. In einem "Die Über¬
schwemmungsschäden und das Landwirtschaftsministerium" überschriebnen Artikel
(Ur. 429 vom 24. August 1899) hat das Berliner Tageblatt, dem man wahr¬
haftig keine Freundschaft für die Landwirtschaft und Ostelbien nachsagen kann,
und auf das ich mich deshalb in diesem Falle berufe, die einschlägigen Ver¬
hältnisse drastisch aber treffend geschildert. Was wunder, daß ein Schrei der
äußersten Entrüstung durch die in Betracht kommenden Provinzen ging, als
die Kanalvorlage das Ansinnen an das Land stellte, mehr als dritthalbhundert
Millionen für Kanalbauten im Westen zu opfern, während, und das war das
schmerzlichste aber auch am meisten zum Widerstand aufreizende, die Negie¬
rung den Notständen auf eben und demselben Gebiet im Osten Auge und Ohr
wieder gänzlich verschloß. Hierin liegt der Kernpunkt, der eigentliche Fehler,
der noch dadurch größer erscheint, wenn man bedenkt, daß dabei auf die Zu¬
sammensetzung des Abgeordnetenhauses, vom Herrenhause ganz zu schweigen,
auch nicht die leiseste Rücksicht genommen wurde. Es fehlte an jeder
Fühlung mit einem wichtigen Teile des Volkes sowohl wie der Volksver¬
tretung. Beide wären leicht zu haben gewesen, wenn man ihnen auch uur
in leisester Weise hätte entgegenkommen wollen, indem man eine Parallelvor¬
lage einbrachte, die die Mißverhältnisse im Oder-, Spree- und Havelgebiet
wenigstens einigermaßen beseitigte. Aber dann hätte man auch dem Osten
Mühe und Arbeit zuwenden müssen, und dazu war an maßgebender Stelle,
nämlich in den Ministerialbüreaus, keine Neigung vorhanden. Nicht die Krone,
nicht die Minister haben die Niederlage verschuldet, sondern das büreaukratische
System, das eigensinnig seinen Theorien nachgehend sich den wirklichen Be¬
dürfnissen verschloß.

Abgesehen von der kurzen Zeit der sogenannten neuen Ära, als bei An¬
tritt der Regentschaft der damalige Prinz von Preußen und nachmalige König
und Kaiser Wilhelm I. das Ministerium Manteuffel entließ, war die konser¬
vative Partei in Preußen niemals in dauernder Opposition gegen die Negierung,
und die "liberalen" Minister dieser neuen Ära würde man heutzutage ganz
gut den Freikonservativen zuzählen können. Bismarck, ursprünglich konser-


Die Ablehnung des Mittellandkanals

besonders betont werden, auf dem Gebiet der Wasserbauverwaltung. Hier ist
durch die Regierung viel gefehlt worden. Nicht nur, daß man den Neu-
forderungen der Gegenwart keine Rechnung trug, man ließ auch verkommen
und verfallen, was die Vorzeit durch fürsorgliche Verwaltung geschaffen,
und wodurch sie den Wohlstand weiter Landstriche begründet hatte. Die
Zustände an der Oder, Spree und Havel spotten feit Jahrzehnten jeder Be¬
schreibung. Ganze Landstriche siud verarmt — und es geschieht nichts, als
daß von Zeit zu Zeit ein Projekt aufgestellt wird, Verhandlungen geführt
werden, und dann alles beim alten bleibt. Dabei werden den Interessenten
Projekte vorgelegt, die auf gänzlicher Unkenntnis der Verhältnisse beruhen,
ohne daß man sich herbeiläßt, ihren Rat anzunehmen; außerdem werden ihnen
Opfer zugemutet, die ihre Kräfte weit übersteigen. In einem „Die Über¬
schwemmungsschäden und das Landwirtschaftsministerium" überschriebnen Artikel
(Ur. 429 vom 24. August 1899) hat das Berliner Tageblatt, dem man wahr¬
haftig keine Freundschaft für die Landwirtschaft und Ostelbien nachsagen kann,
und auf das ich mich deshalb in diesem Falle berufe, die einschlägigen Ver¬
hältnisse drastisch aber treffend geschildert. Was wunder, daß ein Schrei der
äußersten Entrüstung durch die in Betracht kommenden Provinzen ging, als
die Kanalvorlage das Ansinnen an das Land stellte, mehr als dritthalbhundert
Millionen für Kanalbauten im Westen zu opfern, während, und das war das
schmerzlichste aber auch am meisten zum Widerstand aufreizende, die Negie¬
rung den Notständen auf eben und demselben Gebiet im Osten Auge und Ohr
wieder gänzlich verschloß. Hierin liegt der Kernpunkt, der eigentliche Fehler,
der noch dadurch größer erscheint, wenn man bedenkt, daß dabei auf die Zu¬
sammensetzung des Abgeordnetenhauses, vom Herrenhause ganz zu schweigen,
auch nicht die leiseste Rücksicht genommen wurde. Es fehlte an jeder
Fühlung mit einem wichtigen Teile des Volkes sowohl wie der Volksver¬
tretung. Beide wären leicht zu haben gewesen, wenn man ihnen auch uur
in leisester Weise hätte entgegenkommen wollen, indem man eine Parallelvor¬
lage einbrachte, die die Mißverhältnisse im Oder-, Spree- und Havelgebiet
wenigstens einigermaßen beseitigte. Aber dann hätte man auch dem Osten
Mühe und Arbeit zuwenden müssen, und dazu war an maßgebender Stelle,
nämlich in den Ministerialbüreaus, keine Neigung vorhanden. Nicht die Krone,
nicht die Minister haben die Niederlage verschuldet, sondern das büreaukratische
System, das eigensinnig seinen Theorien nachgehend sich den wirklichen Be¬
dürfnissen verschloß.

Abgesehen von der kurzen Zeit der sogenannten neuen Ära, als bei An¬
tritt der Regentschaft der damalige Prinz von Preußen und nachmalige König
und Kaiser Wilhelm I. das Ministerium Manteuffel entließ, war die konser¬
vative Partei in Preußen niemals in dauernder Opposition gegen die Negierung,
und die „liberalen" Minister dieser neuen Ära würde man heutzutage ganz
gut den Freikonservativen zuzählen können. Bismarck, ursprünglich konser-


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[0498] Die Ablehnung des Mittellandkanals besonders betont werden, auf dem Gebiet der Wasserbauverwaltung. Hier ist durch die Regierung viel gefehlt worden. Nicht nur, daß man den Neu- forderungen der Gegenwart keine Rechnung trug, man ließ auch verkommen und verfallen, was die Vorzeit durch fürsorgliche Verwaltung geschaffen, und wodurch sie den Wohlstand weiter Landstriche begründet hatte. Die Zustände an der Oder, Spree und Havel spotten feit Jahrzehnten jeder Be¬ schreibung. Ganze Landstriche siud verarmt — und es geschieht nichts, als daß von Zeit zu Zeit ein Projekt aufgestellt wird, Verhandlungen geführt werden, und dann alles beim alten bleibt. Dabei werden den Interessenten Projekte vorgelegt, die auf gänzlicher Unkenntnis der Verhältnisse beruhen, ohne daß man sich herbeiläßt, ihren Rat anzunehmen; außerdem werden ihnen Opfer zugemutet, die ihre Kräfte weit übersteigen. In einem „Die Über¬ schwemmungsschäden und das Landwirtschaftsministerium" überschriebnen Artikel (Ur. 429 vom 24. August 1899) hat das Berliner Tageblatt, dem man wahr¬ haftig keine Freundschaft für die Landwirtschaft und Ostelbien nachsagen kann, und auf das ich mich deshalb in diesem Falle berufe, die einschlägigen Ver¬ hältnisse drastisch aber treffend geschildert. Was wunder, daß ein Schrei der äußersten Entrüstung durch die in Betracht kommenden Provinzen ging, als die Kanalvorlage das Ansinnen an das Land stellte, mehr als dritthalbhundert Millionen für Kanalbauten im Westen zu opfern, während, und das war das schmerzlichste aber auch am meisten zum Widerstand aufreizende, die Negie¬ rung den Notständen auf eben und demselben Gebiet im Osten Auge und Ohr wieder gänzlich verschloß. Hierin liegt der Kernpunkt, der eigentliche Fehler, der noch dadurch größer erscheint, wenn man bedenkt, daß dabei auf die Zu¬ sammensetzung des Abgeordnetenhauses, vom Herrenhause ganz zu schweigen, auch nicht die leiseste Rücksicht genommen wurde. Es fehlte an jeder Fühlung mit einem wichtigen Teile des Volkes sowohl wie der Volksver¬ tretung. Beide wären leicht zu haben gewesen, wenn man ihnen auch uur in leisester Weise hätte entgegenkommen wollen, indem man eine Parallelvor¬ lage einbrachte, die die Mißverhältnisse im Oder-, Spree- und Havelgebiet wenigstens einigermaßen beseitigte. Aber dann hätte man auch dem Osten Mühe und Arbeit zuwenden müssen, und dazu war an maßgebender Stelle, nämlich in den Ministerialbüreaus, keine Neigung vorhanden. Nicht die Krone, nicht die Minister haben die Niederlage verschuldet, sondern das büreaukratische System, das eigensinnig seinen Theorien nachgehend sich den wirklichen Be¬ dürfnissen verschloß. Abgesehen von der kurzen Zeit der sogenannten neuen Ära, als bei An¬ tritt der Regentschaft der damalige Prinz von Preußen und nachmalige König und Kaiser Wilhelm I. das Ministerium Manteuffel entließ, war die konser¬ vative Partei in Preußen niemals in dauernder Opposition gegen die Negierung, und die „liberalen" Minister dieser neuen Ära würde man heutzutage ganz gut den Freikonservativen zuzählen können. Bismarck, ursprünglich konser-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/498>, abgerufen am 15.01.2025.