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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Ein deutsches Künstlerleben

erbauen und aufzuklären" und machte Versuche, aus seiner lutherischen Bibel
irgend ein Kapitel den Leuten vorzulesen. Da er wenig Glück damit hatte,
stand er bald davon ab und hörte lieber zu, wie die Weiber und Mädchen
Lieder beim Spinnen sangen. Meist waren sie geistlichen Inhalts. Ein schwer¬
mütiges Lied auf Hofers Tod zeigte, wie sein Andenken im Volke fortlebte.
Ein sechsstrophiges Lied "Joseph und Maria in Bethlehem" teilt Wasmann
dem Wortlaute nach mit, das in seinem echt volkstümlichen religiösen
Empfindungsgehalt von hoher Schönheit ist.

Wasmann siedelte bald nach Meran selbst über und verkehrte vor allem
viel mit dem geistvollen und kenntnisreichen P. Veda Weber, der der Mittel¬
punkt eines Meraner Dichterkreiscs war. Als ausgezeichneter Menschen--
beobachter erweist sich Wasmann wieder in der Charakteristik seines neuen
Wirts in Meran; er schildert die Verhältnisse von Altmeran, als es noch nicht
Kurort war und noch "mittags und abends zur Zeit der Tränke die Ochsen
und Kühe laugsam und schwerfällig aus den Thorwegen und Seitengänge"
herauspatschten," und seiner romantischen Neigung für alles Volkstümliche
und Ursprüngliche entsprechend machte er öfters Wanderungen durchs Passeier,
um das Volk näher kennen zu lernen. Die Charakteristik, die er von der
Tiroler Bevölkerung giebt, dürfte noch heute in allen Punkten zutreffen. Aus
dem Munde des Volks oder von seinem poetischen Freunde Beda, bei dem
Görres und Brentano einkehrten, vernahm er kleine Geschichten und Anekdoten
aus dem Passeier Volksleben, die sich meist durch eine großartige Natur¬
wüchsigkeit und Derbheit auszeichnen, wie z. B. so ein alter, schwer bcladner
Kraxeutrüger vor einem Kruzifix am Wege ausruht, und indem er zu ihm
hinaufschaut, sagt: "Gelt, gegen ti bin i woll a rechter Schwanz!" Goethe
sagt: "Kinder und Volk Pflegen das Große, das Erhabne in ein Spiel, ja
in eine Posse umzuwandeln, und wie sollten sie auch sonst imstande sein, es
zu ertragen." Alle Betrachtungen Wasmanns, die den Zuständen in Alt- und
Neutirol gewidmet sind, und die sich mit der Erzählung über die Wandlungen
und Schicksale einzelner Personen und Familien verknüpfen, verdienen als
wichtige Beiträge zur Erforschung der Veränderungen der Kultur jener Zeit
die Aufmerksamkeit und Berücksichtigung des Forschers. Was Wasmann hier
niedergeschrieben hat, sind nicht flüchtige und erstmalige Eindrücke eines
Reisenden, sondern eines gewissenhaften und feinen Kopfes, der mit dem Tiroler
Volkstum und Geistesleben innig vertraut war, ja sich mit ihm schließlich
verwachsen fühlte.

(Schluß folgt)




Ein deutsches Künstlerleben

erbauen und aufzuklären" und machte Versuche, aus seiner lutherischen Bibel
irgend ein Kapitel den Leuten vorzulesen. Da er wenig Glück damit hatte,
stand er bald davon ab und hörte lieber zu, wie die Weiber und Mädchen
Lieder beim Spinnen sangen. Meist waren sie geistlichen Inhalts. Ein schwer¬
mütiges Lied auf Hofers Tod zeigte, wie sein Andenken im Volke fortlebte.
Ein sechsstrophiges Lied „Joseph und Maria in Bethlehem" teilt Wasmann
dem Wortlaute nach mit, das in seinem echt volkstümlichen religiösen
Empfindungsgehalt von hoher Schönheit ist.

Wasmann siedelte bald nach Meran selbst über und verkehrte vor allem
viel mit dem geistvollen und kenntnisreichen P. Veda Weber, der der Mittel¬
punkt eines Meraner Dichterkreiscs war. Als ausgezeichneter Menschen--
beobachter erweist sich Wasmann wieder in der Charakteristik seines neuen
Wirts in Meran; er schildert die Verhältnisse von Altmeran, als es noch nicht
Kurort war und noch „mittags und abends zur Zeit der Tränke die Ochsen
und Kühe laugsam und schwerfällig aus den Thorwegen und Seitengänge»
herauspatschten," und seiner romantischen Neigung für alles Volkstümliche
und Ursprüngliche entsprechend machte er öfters Wanderungen durchs Passeier,
um das Volk näher kennen zu lernen. Die Charakteristik, die er von der
Tiroler Bevölkerung giebt, dürfte noch heute in allen Punkten zutreffen. Aus
dem Munde des Volks oder von seinem poetischen Freunde Beda, bei dem
Görres und Brentano einkehrten, vernahm er kleine Geschichten und Anekdoten
aus dem Passeier Volksleben, die sich meist durch eine großartige Natur¬
wüchsigkeit und Derbheit auszeichnen, wie z. B. so ein alter, schwer bcladner
Kraxeutrüger vor einem Kruzifix am Wege ausruht, und indem er zu ihm
hinaufschaut, sagt: „Gelt, gegen ti bin i woll a rechter Schwanz!" Goethe
sagt: „Kinder und Volk Pflegen das Große, das Erhabne in ein Spiel, ja
in eine Posse umzuwandeln, und wie sollten sie auch sonst imstande sein, es
zu ertragen." Alle Betrachtungen Wasmanns, die den Zuständen in Alt- und
Neutirol gewidmet sind, und die sich mit der Erzählung über die Wandlungen
und Schicksale einzelner Personen und Familien verknüpfen, verdienen als
wichtige Beiträge zur Erforschung der Veränderungen der Kultur jener Zeit
die Aufmerksamkeit und Berücksichtigung des Forschers. Was Wasmann hier
niedergeschrieben hat, sind nicht flüchtige und erstmalige Eindrücke eines
Reisenden, sondern eines gewissenhaften und feinen Kopfes, der mit dem Tiroler
Volkstum und Geistesleben innig vertraut war, ja sich mit ihm schließlich
verwachsen fühlte.

(Schluß folgt)




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[0432] Ein deutsches Künstlerleben erbauen und aufzuklären" und machte Versuche, aus seiner lutherischen Bibel irgend ein Kapitel den Leuten vorzulesen. Da er wenig Glück damit hatte, stand er bald davon ab und hörte lieber zu, wie die Weiber und Mädchen Lieder beim Spinnen sangen. Meist waren sie geistlichen Inhalts. Ein schwer¬ mütiges Lied auf Hofers Tod zeigte, wie sein Andenken im Volke fortlebte. Ein sechsstrophiges Lied „Joseph und Maria in Bethlehem" teilt Wasmann dem Wortlaute nach mit, das in seinem echt volkstümlichen religiösen Empfindungsgehalt von hoher Schönheit ist. Wasmann siedelte bald nach Meran selbst über und verkehrte vor allem viel mit dem geistvollen und kenntnisreichen P. Veda Weber, der der Mittel¬ punkt eines Meraner Dichterkreiscs war. Als ausgezeichneter Menschen-- beobachter erweist sich Wasmann wieder in der Charakteristik seines neuen Wirts in Meran; er schildert die Verhältnisse von Altmeran, als es noch nicht Kurort war und noch „mittags und abends zur Zeit der Tränke die Ochsen und Kühe laugsam und schwerfällig aus den Thorwegen und Seitengänge» herauspatschten," und seiner romantischen Neigung für alles Volkstümliche und Ursprüngliche entsprechend machte er öfters Wanderungen durchs Passeier, um das Volk näher kennen zu lernen. Die Charakteristik, die er von der Tiroler Bevölkerung giebt, dürfte noch heute in allen Punkten zutreffen. Aus dem Munde des Volks oder von seinem poetischen Freunde Beda, bei dem Görres und Brentano einkehrten, vernahm er kleine Geschichten und Anekdoten aus dem Passeier Volksleben, die sich meist durch eine großartige Natur¬ wüchsigkeit und Derbheit auszeichnen, wie z. B. so ein alter, schwer bcladner Kraxeutrüger vor einem Kruzifix am Wege ausruht, und indem er zu ihm hinaufschaut, sagt: „Gelt, gegen ti bin i woll a rechter Schwanz!" Goethe sagt: „Kinder und Volk Pflegen das Große, das Erhabne in ein Spiel, ja in eine Posse umzuwandeln, und wie sollten sie auch sonst imstande sein, es zu ertragen." Alle Betrachtungen Wasmanns, die den Zuständen in Alt- und Neutirol gewidmet sind, und die sich mit der Erzählung über die Wandlungen und Schicksale einzelner Personen und Familien verknüpfen, verdienen als wichtige Beiträge zur Erforschung der Veränderungen der Kultur jener Zeit die Aufmerksamkeit und Berücksichtigung des Forschers. Was Wasmann hier niedergeschrieben hat, sind nicht flüchtige und erstmalige Eindrücke eines Reisenden, sondern eines gewissenhaften und feinen Kopfes, der mit dem Tiroler Volkstum und Geistesleben innig vertraut war, ja sich mit ihm schließlich verwachsen fühlte. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/432>, abgerufen am 15.01.2025.