Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.Litteratur enthalten als ein dürres Gerippe, das der Knabe dann selbst mit dem vom Lehrer Dem Franziisischen ist der Reformator ebenso abgeneigt wie dem Lateinischen. Herausgegeben von Johannes Gruyow in Leipzig Verlag non Fr. Wilh, Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig Litteratur enthalten als ein dürres Gerippe, das der Knabe dann selbst mit dem vom Lehrer Dem Franziisischen ist der Reformator ebenso abgeneigt wie dem Lateinischen. Herausgegeben von Johannes Gruyow in Leipzig Verlag non Fr. Wilh, Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0344" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/231514"/> <fw type="header" place="top"> Litteratur</fw><lb/> <p xml:id="ID_1111" prev="#ID_1110"> enthalten als ein dürres Gerippe, das der Knabe dann selbst mit dem vom Lehrer<lb/> gelieferten Fleisch und Blut zu bekleiden hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_1112"> Dem Franziisischen ist der Reformator ebenso abgeneigt wie dem Lateinischen.<lb/> Die neuern Sprachen, die der Gymnasiast zu lernen hat, sollen germanische fein,<lb/> zunächst die niederländische, dann die englische; die englische Litteratur müßte „allen<lb/> Gebildeten vollständig bekannt und geläufig sein von den Canterbury Tales bis<lb/> zum Little Lord Fauutleroy." Dann die Sprachen, die im Staate gesprochen<lb/> werden. „Wenn Preußen fremdsprachliches Land annektiert, soll es auch die Kon¬<lb/> sequenzen tragen. Der Pole kann verlangen, daß die Beamten, von denen er<lb/> regiert wird, seine Muttersprache verstehn, der Beamte kann beanspruchen, daß ihm<lb/> der Staat Gelegenheit gebe, diese zu erlernen." Ich unterdrücke die pädagogischen<lb/> und sonstigen Bedenken, die sich gegen diese Vorschläge erheben lassen, und bemerke<lb/> nur, daß schon diese wenigen Proben recht deutlich zeigen, worin die Hauptschwierig-<lb/> keit der Unterrichtsreform besteht, nämlich in der ungeheuer» Fülle und Mannig¬<lb/> faltigkeit nicht allein des vorhandnen Stoffs, fondern auch der Meinungen und<lb/> geistigen Strömungen. Der Versasser möge eine Konferenz von hundert Männern<lb/> einberufen, die, gleich ihm, Gegner der alten Klassiker und christlich-germanischen<lb/> Patrioten sind, und er wird vielleicht nicht einen von diesen hundert sür seinen<lb/> Lehrplan gewinnen. Noch eine Probe! „Jeder Student müßte die Le-mäa-ra Vorics<lb/> gelesen haben von Lapruge, Kitt, Gobineau, Ammon, Le Bon, Buckle, nicht u. a."<lb/> Ich könnte leicht zwanzig Autoren aufzählen, die ich für wichtiger halte als Gobineau,<lb/> Buckle und Riehl, von den andern, die ich ziemlich niedrig taxiere, gar nicht zu<lb/> reden, und so würde sich Arjnna in der vorgeschlagnen Konferenz auch vergebens<lb/> abmühn, eine Einigung der Hundert über die Ltimäg,ra Vorlcs zu erzielen. „Warum<lb/> erklärt mau nicht in den Schulen die erhabnen Schöpfungen Richard Wagners?<lb/> Was heißt denn »nationale« Erziehung, wenn man das Nationalste gar nicht be¬<lb/> rücksichtigt? Aber freilich, er ist noch kein Klassiker, hat nicht die Weihe der<lb/> Akademien und Zunftgenossen." Es ist doch wohl ein andrer Grund vorhanden.<lb/> Es giebt noch sehr viel Leute, vielleicht ist es die Mehrheit, die, ohne irgend einer<lb/> Akademie oder Zunft anzugehören und bloß nach ihrer persönlichen Empfindung<lb/> urteilend, Mozarts Musikstil und Schillers sprachst«! dem Musik- und Sprachstil<lb/> Wagners vorziehn; wenn die Welt so verrückt würde, daß sich die Mehrheit für<lb/> Wagner entschiede, würden auch die Akademien nachfolgen. Und so in allem<lb/> übrigen. Eine grundstürzende Unterrichtsreform wird nicht eher möglich sein, als<lb/> bis Wir wieder ein einheitliches nationales Volksleben haben werden. Bis dahin<lb/> werden wir uns mit Flickarbeit begnügen müssen; für eine solche giebt aber auch<lb/> die vorliegende Schrift schätzenswerte Fingerzeige. Mit einem solchen wollen wir<lb/> unser Referat schließen: „Überhaupt müßte mit der ganzen pedantischen Methode,<lb/> die auf dem Gymnasium herrscht, möglichst gebrochen werden. Wie wir im echten,<lb/> guten, deutschen Ausdruck zurückgegangen sind, sieht man deutlich an der geschraubten,<lb/> vorsichtigen Ausdrucksweise, die immer mehr aufkommt. Wenn einer hente reden<lb/> wollte mit der göttlichen Grobheit eines Luther, würde es ihm schlecht gehn. Unsre<lb/> heutigen Redner sind uicht mehr volkstümlich und machen auf das Volk keinen<lb/> Eindruck. Das Volk liebt Kraft und Saft in der Rede, aber kein parfümiertes<lb/> Zuckerwasser. Aber wie soll ein Redner frei von der Leber weg seine Meinung<lb/> sagen, wenn er Furcht hat, irgendwo und irgendwie anzustoßen, sei es nach oben,<lb/> s<note type="byline"> I-</note> ei es nach unten?" </p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <note type="byline"> Herausgegeben von Johannes Gruyow in Leipzig<lb/> Verlag non Fr. Wilh, Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig</note><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0344]
Litteratur
enthalten als ein dürres Gerippe, das der Knabe dann selbst mit dem vom Lehrer
gelieferten Fleisch und Blut zu bekleiden hat.
Dem Franziisischen ist der Reformator ebenso abgeneigt wie dem Lateinischen.
Die neuern Sprachen, die der Gymnasiast zu lernen hat, sollen germanische fein,
zunächst die niederländische, dann die englische; die englische Litteratur müßte „allen
Gebildeten vollständig bekannt und geläufig sein von den Canterbury Tales bis
zum Little Lord Fauutleroy." Dann die Sprachen, die im Staate gesprochen
werden. „Wenn Preußen fremdsprachliches Land annektiert, soll es auch die Kon¬
sequenzen tragen. Der Pole kann verlangen, daß die Beamten, von denen er
regiert wird, seine Muttersprache verstehn, der Beamte kann beanspruchen, daß ihm
der Staat Gelegenheit gebe, diese zu erlernen." Ich unterdrücke die pädagogischen
und sonstigen Bedenken, die sich gegen diese Vorschläge erheben lassen, und bemerke
nur, daß schon diese wenigen Proben recht deutlich zeigen, worin die Hauptschwierig-
keit der Unterrichtsreform besteht, nämlich in der ungeheuer» Fülle und Mannig¬
faltigkeit nicht allein des vorhandnen Stoffs, fondern auch der Meinungen und
geistigen Strömungen. Der Versasser möge eine Konferenz von hundert Männern
einberufen, die, gleich ihm, Gegner der alten Klassiker und christlich-germanischen
Patrioten sind, und er wird vielleicht nicht einen von diesen hundert sür seinen
Lehrplan gewinnen. Noch eine Probe! „Jeder Student müßte die Le-mäa-ra Vorics
gelesen haben von Lapruge, Kitt, Gobineau, Ammon, Le Bon, Buckle, nicht u. a."
Ich könnte leicht zwanzig Autoren aufzählen, die ich für wichtiger halte als Gobineau,
Buckle und Riehl, von den andern, die ich ziemlich niedrig taxiere, gar nicht zu
reden, und so würde sich Arjnna in der vorgeschlagnen Konferenz auch vergebens
abmühn, eine Einigung der Hundert über die Ltimäg,ra Vorlcs zu erzielen. „Warum
erklärt mau nicht in den Schulen die erhabnen Schöpfungen Richard Wagners?
Was heißt denn »nationale« Erziehung, wenn man das Nationalste gar nicht be¬
rücksichtigt? Aber freilich, er ist noch kein Klassiker, hat nicht die Weihe der
Akademien und Zunftgenossen." Es ist doch wohl ein andrer Grund vorhanden.
Es giebt noch sehr viel Leute, vielleicht ist es die Mehrheit, die, ohne irgend einer
Akademie oder Zunft anzugehören und bloß nach ihrer persönlichen Empfindung
urteilend, Mozarts Musikstil und Schillers sprachst«! dem Musik- und Sprachstil
Wagners vorziehn; wenn die Welt so verrückt würde, daß sich die Mehrheit für
Wagner entschiede, würden auch die Akademien nachfolgen. Und so in allem
übrigen. Eine grundstürzende Unterrichtsreform wird nicht eher möglich sein, als
bis Wir wieder ein einheitliches nationales Volksleben haben werden. Bis dahin
werden wir uns mit Flickarbeit begnügen müssen; für eine solche giebt aber auch
die vorliegende Schrift schätzenswerte Fingerzeige. Mit einem solchen wollen wir
unser Referat schließen: „Überhaupt müßte mit der ganzen pedantischen Methode,
die auf dem Gymnasium herrscht, möglichst gebrochen werden. Wie wir im echten,
guten, deutschen Ausdruck zurückgegangen sind, sieht man deutlich an der geschraubten,
vorsichtigen Ausdrucksweise, die immer mehr aufkommt. Wenn einer hente reden
wollte mit der göttlichen Grobheit eines Luther, würde es ihm schlecht gehn. Unsre
heutigen Redner sind uicht mehr volkstümlich und machen auf das Volk keinen
Eindruck. Das Volk liebt Kraft und Saft in der Rede, aber kein parfümiertes
Zuckerwasser. Aber wie soll ein Redner frei von der Leber weg seine Meinung
sagen, wenn er Furcht hat, irgendwo und irgendwie anzustoßen, sei es nach oben,
s I- ei es nach unten?"
Herausgegeben von Johannes Gruyow in Leipzig
Verlag non Fr. Wilh, Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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