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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Deutsche Kinderlieder und Rinderspiele

ihre Volksmärchen zum größern Teil von einer Person, einer alten Bauernfrau, er¬
halten haben. Also wird es sich ans Grund von Sammlungen einzelner, mögen
sie auch noch so fleißig sein, nicht ausmachen lassen, ob eine und welche Landschaft
reicher wäre als andre. Und bis man die Arbeit ganz gethan haben wird, die in
einer einzigen von ihnen eben erst, doch in großartiger Weise begonnen ist,^) bis
dahin wird noch viel Zeit vergehn.

Zu ähnlichem Ergebnisse dürfte auch eine andre Betrachtung führen. Es ist
eine Eigentümlichkeit, soviel ich weiß, aller, auch der vielen gelehrten Sammlungen,
einen größern oder geringern Teil des Aufgefnndnen ans verschiednen Gründen für
die betreffende engere Heimat als ursprüngliches, besondres Eigentum in Anspruch
zu nehmen. So hat sogar der Schweizer Rochholz, 2) wohl der gelehrteste Kenner
des Gegenstands, von einem ganzen Abschnitt seiner dickleibigen gründlichen Samm¬
lung, den Rätseln, gemeint, er habe nur aufgenommen, was nach seiner ganzen Art
als auf schweizerischem Boden erwachsen anzusehen sei. Und doch könnte man sich
heutzutage anheischig machen, fast jedes Stück dieses Abschnitts auch aus andern,
oft weit entlegnen Landschaften nachzuweisen; und was dort schweizerisch aussieht,
das hat hier ebenso stark und entschieden meinetwegen niederländisches oder west¬
fälisches Gepräge, schon dnrch die Mundart. Freilich giebt es einzelne Sachen, die
der Annahme, Gemeingut mehrerer Landschaften zu sein, auf deu ersten Anblick
ganz zu spotten scheinen. Nur zwei Beispiele will ich geben. Wenn die Kinder
des Dörfchens Badeborn am Harze sich grimmig ärgern lassen dnrch das in der
Nachbarschaft bekannte Neckverschen:

so ist das wohl begreiflich. Denn was könnte ein solcher Dorfjunge Kränkenderes
erleben, als wenn das Gewässer seines Heimatorts, das ihm Namen und Stolz
verleiht, vom boshaften Nachbar zum Gänsepfuhl herabgewürdigt wird. Und so
scheint der Spott eigens für Badebvrn erfunden. Aber weit gefehlt. In der
Elstergegend bei Zeitz liegt ein Dorf mit dem Namen Podebnls, also eine ur¬
sprünglich slawische Niederlassung, die Leute sprechen dort Bodebils, und von ihm
gilt derselbe Spruch und zwar fast ganz gleichlautend:^

Man könnte in diesem Falle um eine zufällige einzelne Verschleppung denken, aber
die Vermutung scheint doch gewagt, denn wie sollte man sich eine Verbindung






Durch die Mecklenburgischen Volksilberlieferungen. Im Auftrage des Vereins für
mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde gesammelt und herausgegeben von Richard
Wossidlo. ' Erster Band: Rätsel. Wismcir, 1897.
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) Alemannisches Kinderlicd und Kinderspiel. Leipzig, I8S7.
->
) Firmenich, Germaniens Völkerstimmen III, Seite 189 aus der Umgegend von Ballen-
stedt. Ganz ähnlich aus Quedlinburg: Wegener, Volkstümliche Lieder aus' Norddeutschland.
Leipzig, 1879, Ur. 886.
Sporgel, Noch Feierohmds. E Lascbuch in Altenborjscher Mundart. Wenburg, Bombe.
2- Heft. S. 68, 4.
Deutsche Kinderlieder und Rinderspiele

ihre Volksmärchen zum größern Teil von einer Person, einer alten Bauernfrau, er¬
halten haben. Also wird es sich ans Grund von Sammlungen einzelner, mögen
sie auch noch so fleißig sein, nicht ausmachen lassen, ob eine und welche Landschaft
reicher wäre als andre. Und bis man die Arbeit ganz gethan haben wird, die in
einer einzigen von ihnen eben erst, doch in großartiger Weise begonnen ist,^) bis
dahin wird noch viel Zeit vergehn.

Zu ähnlichem Ergebnisse dürfte auch eine andre Betrachtung führen. Es ist
eine Eigentümlichkeit, soviel ich weiß, aller, auch der vielen gelehrten Sammlungen,
einen größern oder geringern Teil des Aufgefnndnen ans verschiednen Gründen für
die betreffende engere Heimat als ursprüngliches, besondres Eigentum in Anspruch
zu nehmen. So hat sogar der Schweizer Rochholz, 2) wohl der gelehrteste Kenner
des Gegenstands, von einem ganzen Abschnitt seiner dickleibigen gründlichen Samm¬
lung, den Rätseln, gemeint, er habe nur aufgenommen, was nach seiner ganzen Art
als auf schweizerischem Boden erwachsen anzusehen sei. Und doch könnte man sich
heutzutage anheischig machen, fast jedes Stück dieses Abschnitts auch aus andern,
oft weit entlegnen Landschaften nachzuweisen; und was dort schweizerisch aussieht,
das hat hier ebenso stark und entschieden meinetwegen niederländisches oder west¬
fälisches Gepräge, schon dnrch die Mundart. Freilich giebt es einzelne Sachen, die
der Annahme, Gemeingut mehrerer Landschaften zu sein, auf deu ersten Anblick
ganz zu spotten scheinen. Nur zwei Beispiele will ich geben. Wenn die Kinder
des Dörfchens Badeborn am Harze sich grimmig ärgern lassen dnrch das in der
Nachbarschaft bekannte Neckverschen:

so ist das wohl begreiflich. Denn was könnte ein solcher Dorfjunge Kränkenderes
erleben, als wenn das Gewässer seines Heimatorts, das ihm Namen und Stolz
verleiht, vom boshaften Nachbar zum Gänsepfuhl herabgewürdigt wird. Und so
scheint der Spott eigens für Badebvrn erfunden. Aber weit gefehlt. In der
Elstergegend bei Zeitz liegt ein Dorf mit dem Namen Podebnls, also eine ur¬
sprünglich slawische Niederlassung, die Leute sprechen dort Bodebils, und von ihm
gilt derselbe Spruch und zwar fast ganz gleichlautend:^

Man könnte in diesem Falle um eine zufällige einzelne Verschleppung denken, aber
die Vermutung scheint doch gewagt, denn wie sollte man sich eine Verbindung






Durch die Mecklenburgischen Volksilberlieferungen. Im Auftrage des Vereins für
mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde gesammelt und herausgegeben von Richard
Wossidlo. ' Erster Band: Rätsel. Wismcir, 1897.
2
) Alemannisches Kinderlicd und Kinderspiel. Leipzig, I8S7.
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) Firmenich, Germaniens Völkerstimmen III, Seite 189 aus der Umgegend von Ballen-
stedt. Ganz ähnlich aus Quedlinburg: Wegener, Volkstümliche Lieder aus' Norddeutschland.
Leipzig, 1879, Ur. 886.
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[0332] Deutsche Kinderlieder und Rinderspiele ihre Volksmärchen zum größern Teil von einer Person, einer alten Bauernfrau, er¬ halten haben. Also wird es sich ans Grund von Sammlungen einzelner, mögen sie auch noch so fleißig sein, nicht ausmachen lassen, ob eine und welche Landschaft reicher wäre als andre. Und bis man die Arbeit ganz gethan haben wird, die in einer einzigen von ihnen eben erst, doch in großartiger Weise begonnen ist,^) bis dahin wird noch viel Zeit vergehn. Zu ähnlichem Ergebnisse dürfte auch eine andre Betrachtung führen. Es ist eine Eigentümlichkeit, soviel ich weiß, aller, auch der vielen gelehrten Sammlungen, einen größern oder geringern Teil des Aufgefnndnen ans verschiednen Gründen für die betreffende engere Heimat als ursprüngliches, besondres Eigentum in Anspruch zu nehmen. So hat sogar der Schweizer Rochholz, 2) wohl der gelehrteste Kenner des Gegenstands, von einem ganzen Abschnitt seiner dickleibigen gründlichen Samm¬ lung, den Rätseln, gemeint, er habe nur aufgenommen, was nach seiner ganzen Art als auf schweizerischem Boden erwachsen anzusehen sei. Und doch könnte man sich heutzutage anheischig machen, fast jedes Stück dieses Abschnitts auch aus andern, oft weit entlegnen Landschaften nachzuweisen; und was dort schweizerisch aussieht, das hat hier ebenso stark und entschieden meinetwegen niederländisches oder west¬ fälisches Gepräge, schon dnrch die Mundart. Freilich giebt es einzelne Sachen, die der Annahme, Gemeingut mehrerer Landschaften zu sein, auf deu ersten Anblick ganz zu spotten scheinen. Nur zwei Beispiele will ich geben. Wenn die Kinder des Dörfchens Badeborn am Harze sich grimmig ärgern lassen dnrch das in der Nachbarschaft bekannte Neckverschen: so ist das wohl begreiflich. Denn was könnte ein solcher Dorfjunge Kränkenderes erleben, als wenn das Gewässer seines Heimatorts, das ihm Namen und Stolz verleiht, vom boshaften Nachbar zum Gänsepfuhl herabgewürdigt wird. Und so scheint der Spott eigens für Badebvrn erfunden. Aber weit gefehlt. In der Elstergegend bei Zeitz liegt ein Dorf mit dem Namen Podebnls, also eine ur¬ sprünglich slawische Niederlassung, die Leute sprechen dort Bodebils, und von ihm gilt derselbe Spruch und zwar fast ganz gleichlautend:^ Man könnte in diesem Falle um eine zufällige einzelne Verschleppung denken, aber die Vermutung scheint doch gewagt, denn wie sollte man sich eine Verbindung Durch die Mecklenburgischen Volksilberlieferungen. Im Auftrage des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde gesammelt und herausgegeben von Richard Wossidlo. ' Erster Band: Rätsel. Wismcir, 1897. 2 ) Alemannisches Kinderlicd und Kinderspiel. Leipzig, I8S7. -> ) Firmenich, Germaniens Völkerstimmen III, Seite 189 aus der Umgegend von Ballen- stedt. Ganz ähnlich aus Quedlinburg: Wegener, Volkstümliche Lieder aus' Norddeutschland. Leipzig, 1879, Ur. 886. Sporgel, Noch Feierohmds. E Lascbuch in Altenborjscher Mundart. Wenburg, Bombe. 2- Heft. S. 68, 4.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/332>, abgerufen am 15.01.2025.