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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Brauchen wir fremdes Brotkorn?

sicherungsgesellschaften verdienen heute genau so viel und so wenig xudlicA
liäös wie die agrarischen Interessenvertretungen. Wie es damit aber in
Preußen jetzt thatsächlich gehalten wird, darum sollten sich die Grenzbotenleser
selbst einmal im Ernst kümmern.

Leider hat es Freiherr von der Goltz für richtig gehalten, im schroffen
Gegensatz zu Conrad über die Frage der Vrotversorgung im Kriegsfalle
folgendes vorzutragen: Unter "ganz normalen" Verhältnissen sollte eigentlich
die landwirtschaftliche Produktion innerhalb eines Staatsgebiets auch den Be¬
darf der darin wohnenden Bevölkerung an den notwendigen Bodenerzeugnissen,
insonderheit an den unentbehrlichsten Nahrungsmitteln decken. Andernfalls
gerate man in eine mehr oder minder starke Abhängigkeit von andern Staaten,
die in der Lage seien, mehr menschliche Nahrungsmittel zu erzeugen, als in
ihrem Bezirk gebraucht werden. "Die Abhängigkeit -- sagt er weiter wört¬
lich -- ist besonders bedenklich in Kriegszeiten und für solche Länder, die,
wie das Deutsche Reich, fast von allen Seiten an andre Länder grenzen und
nur einen sehr beschränkten Zugang zum offnen Meere haben. Bei einem
Kriege mit Nußland, Frankreich, England oder mehreren dieser Staaten zugleich
könnte die ausreichende Versorgung der einheimischen Bevölkerung sehr ge¬
fährdet sein. Durch eine starke Flotte, in deren Besitz wir uns hoffentlich nach
wenigen Jahren befinden werden, wird zwar die Gefahr etwas gemildert, aber
doch keineswegs ganz beseitigt."

Es kann diesem neuerdings geflissentlich zur Bedeutung einer KMs von-
vöiuiL beförderten Irrtum nicht entschieden genug entgegengetreten werden.
Kaum ein europäischer Staat ist im Kriegsfall weniger in Bezug auf seiue
Brotversorgung gefährdet als das Deutsche Reich. Gerade für diesen Fall
sind die Verbindungen zu Lande und ihre Vielseitigkeit, wie nur wir sie haben,
vom größten Wert. Wir grenzen zu Land mit Dänemark, Rußland, Öster¬
reich, der Schweiz, Frankreich, Belgien, Holland zusammen. Man betrachte
jedes dieser Länder in Rücksicht auf seinen Wert als Getreidelieserant oder doch
als Vermittler und in Rücksicht auf die Möglichkeit einer allgemeinen Sperrung
unsrer Grenzen durch den Feind. Wie kann man da von einer besonders un¬
günstigen Lage Deutschlands im Vergleich z. V. mit Italien, Spanien, Frank¬
reich, England und den skandinavischen Staaten sprechen! Wie es in Nu߬
land im Kriegsfalle mit der Brotversorgung bestellt sein wird, ist freilich sehr
zweifelhaft, wo mitten im Frieden weite Gebiete Hungersnot leiden, während
andre Überfluß haben. Man müßte mit dem agrarischen Bemühen, die modernen
Verkehrsmittel, Verkehrswege und Verkehrsbeziehungen Deutschlands zu rui¬
nieren, schon einen ganz vollständigen Erfolg erzielen, wenn das Deutsche Reich
bei seiner bevorzugten Lage im Kriegssalle mehr gefährdet sein sollte als die
genannten Länder. Conrad hat unlängst im Handwörterbuch der Staatswissen¬
schaften außerdem noch mit Recht darauf hingewiesen, daß das gewöhnliche
Quantum der im Inland erzeugten Nahrungsmittel uoch wesentlich gesteigert


Brauchen wir fremdes Brotkorn?

sicherungsgesellschaften verdienen heute genau so viel und so wenig xudlicA
liäös wie die agrarischen Interessenvertretungen. Wie es damit aber in
Preußen jetzt thatsächlich gehalten wird, darum sollten sich die Grenzbotenleser
selbst einmal im Ernst kümmern.

Leider hat es Freiherr von der Goltz für richtig gehalten, im schroffen
Gegensatz zu Conrad über die Frage der Vrotversorgung im Kriegsfalle
folgendes vorzutragen: Unter „ganz normalen" Verhältnissen sollte eigentlich
die landwirtschaftliche Produktion innerhalb eines Staatsgebiets auch den Be¬
darf der darin wohnenden Bevölkerung an den notwendigen Bodenerzeugnissen,
insonderheit an den unentbehrlichsten Nahrungsmitteln decken. Andernfalls
gerate man in eine mehr oder minder starke Abhängigkeit von andern Staaten,
die in der Lage seien, mehr menschliche Nahrungsmittel zu erzeugen, als in
ihrem Bezirk gebraucht werden. „Die Abhängigkeit — sagt er weiter wört¬
lich — ist besonders bedenklich in Kriegszeiten und für solche Länder, die,
wie das Deutsche Reich, fast von allen Seiten an andre Länder grenzen und
nur einen sehr beschränkten Zugang zum offnen Meere haben. Bei einem
Kriege mit Nußland, Frankreich, England oder mehreren dieser Staaten zugleich
könnte die ausreichende Versorgung der einheimischen Bevölkerung sehr ge¬
fährdet sein. Durch eine starke Flotte, in deren Besitz wir uns hoffentlich nach
wenigen Jahren befinden werden, wird zwar die Gefahr etwas gemildert, aber
doch keineswegs ganz beseitigt."

Es kann diesem neuerdings geflissentlich zur Bedeutung einer KMs von-
vöiuiL beförderten Irrtum nicht entschieden genug entgegengetreten werden.
Kaum ein europäischer Staat ist im Kriegsfall weniger in Bezug auf seiue
Brotversorgung gefährdet als das Deutsche Reich. Gerade für diesen Fall
sind die Verbindungen zu Lande und ihre Vielseitigkeit, wie nur wir sie haben,
vom größten Wert. Wir grenzen zu Land mit Dänemark, Rußland, Öster¬
reich, der Schweiz, Frankreich, Belgien, Holland zusammen. Man betrachte
jedes dieser Länder in Rücksicht auf seinen Wert als Getreidelieserant oder doch
als Vermittler und in Rücksicht auf die Möglichkeit einer allgemeinen Sperrung
unsrer Grenzen durch den Feind. Wie kann man da von einer besonders un¬
günstigen Lage Deutschlands im Vergleich z. V. mit Italien, Spanien, Frank¬
reich, England und den skandinavischen Staaten sprechen! Wie es in Nu߬
land im Kriegsfalle mit der Brotversorgung bestellt sein wird, ist freilich sehr
zweifelhaft, wo mitten im Frieden weite Gebiete Hungersnot leiden, während
andre Überfluß haben. Man müßte mit dem agrarischen Bemühen, die modernen
Verkehrsmittel, Verkehrswege und Verkehrsbeziehungen Deutschlands zu rui¬
nieren, schon einen ganz vollständigen Erfolg erzielen, wenn das Deutsche Reich
bei seiner bevorzugten Lage im Kriegssalle mehr gefährdet sein sollte als die
genannten Länder. Conrad hat unlängst im Handwörterbuch der Staatswissen¬
schaften außerdem noch mit Recht darauf hingewiesen, daß das gewöhnliche
Quantum der im Inland erzeugten Nahrungsmittel uoch wesentlich gesteigert


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/27>, abgerufen am 15.01.2025.