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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr.

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Her Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

auf das Gewissen auch der gut konservativen, gut monarchisch gesinnten ge¬
bildeten Zeutrumsmitglieder und Zentrnmswähler in Preußen ausübt. Deu
süddeutschen Ultramontanen ist ja natürlich jede "Hatz" gegen den König von
Preußen eine Herzensfreude. Die katholischen Rittergutsbesitzer in Schlesien,
Posen, Westpreußen, Westfalen und in der altpreußischen Diaspora samt
ihren dem Offizierkorps und dem Beamtentum durch Pflichttreue und Tüchtigkeit
zur Ehre gereichenden Angehörigen sind sich aber doch völlig klar darüber,
daß die schrankenlose Koalitions- und Streikfreiheit des Dr. Lieber ohne eine
überaus kräftige Verschärfung der Polizei- und Strafgewalt des Staats auf
dem Lande der helle Unsinn wäre. Sie wissen, wie wenig namentlich die
polnische Arbeiterschaft noch für sehr lange Zeit befähigt ist, davon einen rechten
Gebrauch zu macheu. Sie sind im Herzen die überzeugtester Gegner der
Liederschen Extreme, und nichts liegt ihren wahren Empfindungen ferner, als
sich an dieser demonstrativen Komödie gegen den Kaiser zu beteiligen. Und
doch lassen diese gebildeten Männer den Entrüstnngsschwindel zu oder macheu
ihn gar mit. Wird nicht endlich ihnen und ihren Angehörigen die Schamröte
ins Gesicht steigen über die unwürdige Statistenrolle, die sie in solchen Komödien
spielen? Dadurch die Geneigtheit der verbündeten Regierungen für die Zu¬
lassung der Jesuiten u. dergl. zu vermehren, können diese konservativen prak¬
tischen Männer doch nicht glauben, und erst recht müssen sie doch endlich ein¬
sehen, daß es gerade die Taktik des Zentrums ist, was die politische Gesetz¬
gebung zur Flickarbeit und zum Stückwerk verdammt, worüber Dr. Lieber so
große Worte gesprochen hat. Wollen die gebildeten Katholiken in Preußen
-- Süddeutschland spricht hier überhaupt nicht mit --, soweit sie als gut
monarchisch gesinnte Männer anerkannt zu werden beanspruchen, in Zukunft
auch als ehrliche Politiker anerkannt werden, so werden sie sich bis zu der
zweiten Lesung der Vorlage mit der Liederschen Zentrumspolitik auseinander¬
zusetzen haben. Das gilt für die gebildeten preußischen Katholiken in Zivil
wie in des Königs Rock und Dienst. Zu diesem Entrüstungsschwindel dürfen
sie sich nicht weiter mißbrauchen lassen.

Bei weitem die größte Bedeutung beansprucht die Teilnahme der National¬
liberalen an der demonstrativen Entrüstungskundgebung der Neichstagsmehrheit,
wenn auch ihr einziger Sprecher, der Abgeordnete Bassermann, die sachlich
unbedeutendste Rede unter allen Entrüsteten gehalten hat. Sie besteht aus
einer Reihe abgebrochner, nirgends origineller Gedankensplitter, die mit einer
gewissen advokatorischen Redegewandtheit äußerlich verbunden sind. Die Ge¬
danken selbst, denen die Splitter entnommen sind, sind, soweit sie scheinbar
sachliche Gründe gegen die Vorlage enthalten, schon früher berührt worden
oder werden bei der Besprechung des kathederpolitischen Anteils an der Ent-
rüstuugskomödie noch gewürdigt werden. Die Thatsache der brüsten Ab¬
lehnung auch jeder Kommissionsberatung, d. h. jedes guten Willens, auf eine


Her Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage

auf das Gewissen auch der gut konservativen, gut monarchisch gesinnten ge¬
bildeten Zeutrumsmitglieder und Zentrnmswähler in Preußen ausübt. Deu
süddeutschen Ultramontanen ist ja natürlich jede „Hatz" gegen den König von
Preußen eine Herzensfreude. Die katholischen Rittergutsbesitzer in Schlesien,
Posen, Westpreußen, Westfalen und in der altpreußischen Diaspora samt
ihren dem Offizierkorps und dem Beamtentum durch Pflichttreue und Tüchtigkeit
zur Ehre gereichenden Angehörigen sind sich aber doch völlig klar darüber,
daß die schrankenlose Koalitions- und Streikfreiheit des Dr. Lieber ohne eine
überaus kräftige Verschärfung der Polizei- und Strafgewalt des Staats auf
dem Lande der helle Unsinn wäre. Sie wissen, wie wenig namentlich die
polnische Arbeiterschaft noch für sehr lange Zeit befähigt ist, davon einen rechten
Gebrauch zu macheu. Sie sind im Herzen die überzeugtester Gegner der
Liederschen Extreme, und nichts liegt ihren wahren Empfindungen ferner, als
sich an dieser demonstrativen Komödie gegen den Kaiser zu beteiligen. Und
doch lassen diese gebildeten Männer den Entrüstnngsschwindel zu oder macheu
ihn gar mit. Wird nicht endlich ihnen und ihren Angehörigen die Schamröte
ins Gesicht steigen über die unwürdige Statistenrolle, die sie in solchen Komödien
spielen? Dadurch die Geneigtheit der verbündeten Regierungen für die Zu¬
lassung der Jesuiten u. dergl. zu vermehren, können diese konservativen prak¬
tischen Männer doch nicht glauben, und erst recht müssen sie doch endlich ein¬
sehen, daß es gerade die Taktik des Zentrums ist, was die politische Gesetz¬
gebung zur Flickarbeit und zum Stückwerk verdammt, worüber Dr. Lieber so
große Worte gesprochen hat. Wollen die gebildeten Katholiken in Preußen
— Süddeutschland spricht hier überhaupt nicht mit —, soweit sie als gut
monarchisch gesinnte Männer anerkannt zu werden beanspruchen, in Zukunft
auch als ehrliche Politiker anerkannt werden, so werden sie sich bis zu der
zweiten Lesung der Vorlage mit der Liederschen Zentrumspolitik auseinander¬
zusetzen haben. Das gilt für die gebildeten preußischen Katholiken in Zivil
wie in des Königs Rock und Dienst. Zu diesem Entrüstungsschwindel dürfen
sie sich nicht weiter mißbrauchen lassen.

Bei weitem die größte Bedeutung beansprucht die Teilnahme der National¬
liberalen an der demonstrativen Entrüstungskundgebung der Neichstagsmehrheit,
wenn auch ihr einziger Sprecher, der Abgeordnete Bassermann, die sachlich
unbedeutendste Rede unter allen Entrüsteten gehalten hat. Sie besteht aus
einer Reihe abgebrochner, nirgends origineller Gedankensplitter, die mit einer
gewissen advokatorischen Redegewandtheit äußerlich verbunden sind. Die Ge¬
danken selbst, denen die Splitter entnommen sind, sind, soweit sie scheinbar
sachliche Gründe gegen die Vorlage enthalten, schon früher berührt worden
oder werden bei der Besprechung des kathederpolitischen Anteils an der Ent-
rüstuugskomödie noch gewürdigt werden. Die Thatsache der brüsten Ab¬
lehnung auch jeder Kommissionsberatung, d. h. jedes guten Willens, auf eine


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[0119] Her Schutz der Arbeitswilligen im Reichstage auf das Gewissen auch der gut konservativen, gut monarchisch gesinnten ge¬ bildeten Zeutrumsmitglieder und Zentrnmswähler in Preußen ausübt. Deu süddeutschen Ultramontanen ist ja natürlich jede „Hatz" gegen den König von Preußen eine Herzensfreude. Die katholischen Rittergutsbesitzer in Schlesien, Posen, Westpreußen, Westfalen und in der altpreußischen Diaspora samt ihren dem Offizierkorps und dem Beamtentum durch Pflichttreue und Tüchtigkeit zur Ehre gereichenden Angehörigen sind sich aber doch völlig klar darüber, daß die schrankenlose Koalitions- und Streikfreiheit des Dr. Lieber ohne eine überaus kräftige Verschärfung der Polizei- und Strafgewalt des Staats auf dem Lande der helle Unsinn wäre. Sie wissen, wie wenig namentlich die polnische Arbeiterschaft noch für sehr lange Zeit befähigt ist, davon einen rechten Gebrauch zu macheu. Sie sind im Herzen die überzeugtester Gegner der Liederschen Extreme, und nichts liegt ihren wahren Empfindungen ferner, als sich an dieser demonstrativen Komödie gegen den Kaiser zu beteiligen. Und doch lassen diese gebildeten Männer den Entrüstnngsschwindel zu oder macheu ihn gar mit. Wird nicht endlich ihnen und ihren Angehörigen die Schamröte ins Gesicht steigen über die unwürdige Statistenrolle, die sie in solchen Komödien spielen? Dadurch die Geneigtheit der verbündeten Regierungen für die Zu¬ lassung der Jesuiten u. dergl. zu vermehren, können diese konservativen prak¬ tischen Männer doch nicht glauben, und erst recht müssen sie doch endlich ein¬ sehen, daß es gerade die Taktik des Zentrums ist, was die politische Gesetz¬ gebung zur Flickarbeit und zum Stückwerk verdammt, worüber Dr. Lieber so große Worte gesprochen hat. Wollen die gebildeten Katholiken in Preußen — Süddeutschland spricht hier überhaupt nicht mit —, soweit sie als gut monarchisch gesinnte Männer anerkannt zu werden beanspruchen, in Zukunft auch als ehrliche Politiker anerkannt werden, so werden sie sich bis zu der zweiten Lesung der Vorlage mit der Liederschen Zentrumspolitik auseinander¬ zusetzen haben. Das gilt für die gebildeten preußischen Katholiken in Zivil wie in des Königs Rock und Dienst. Zu diesem Entrüstungsschwindel dürfen sie sich nicht weiter mißbrauchen lassen. Bei weitem die größte Bedeutung beansprucht die Teilnahme der National¬ liberalen an der demonstrativen Entrüstungskundgebung der Neichstagsmehrheit, wenn auch ihr einziger Sprecher, der Abgeordnete Bassermann, die sachlich unbedeutendste Rede unter allen Entrüsteten gehalten hat. Sie besteht aus einer Reihe abgebrochner, nirgends origineller Gedankensplitter, die mit einer gewissen advokatorischen Redegewandtheit äußerlich verbunden sind. Die Ge¬ danken selbst, denen die Splitter entnommen sind, sind, soweit sie scheinbar sachliche Gründe gegen die Vorlage enthalten, schon früher berührt worden oder werden bei der Besprechung des kathederpolitischen Anteils an der Ent- rüstuugskomödie noch gewürdigt werden. Die Thatsache der brüsten Ab¬ lehnung auch jeder Kommissionsberatung, d. h. jedes guten Willens, auf eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231169/119>, abgerufen am 15.01.2025.