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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Wie Bayern ein moderner Staat wurde

dies würde höchstens seine eigne Person entschuldigen --, so war es ihm doch
unmöglich, sich anderswoher Rat zu erholen. Einen deutschen Staat gab es
damals noch nicht, ebenso wenig eine deutsche politische Bildungsschule. Die
Länder und Ländchen des Deutschen Reiches, wenn sie sich ja zum Gedanken
einer Reform ihrer Zustünde aufschwangen, thaten dies samt und sonders
nach französischer Schablone, wie sie sich dnrch Ludwig XIV. allmählich aus¬
gebildet hatte. Von Friedrich dem Großen und Joseph II. an bis herunter
zu den reichsfreicu Grafen und Herren wurde alles, das Gute wie das Uhle,
uach diesem Muster zurecht gemacht. Es bedürfte erst der tiefsten Schmach
der Erniedrigung und einer ohne gleichen dastehenden Wiedererhebung des
deutsche" Volkes, bis sich neues Leben seine Formen aus dem heiligen Born
der eignen Geschichte holte.

Nicht immer schreitet die Entwicklung eines Staatswesens ruhig und
gleichmäßig fort: ist man weiter hinter andern zurückgeblieben, so macht man
wohl auch Sprünge, um sie einzuholen; und ist der Kern gesund, so hat dies
auch niemals geschadet; nur wenn die Fäulnis das Innerste ergriffen hat,
bricht der Körper bei jeder gewaltsamen Anstrengung zusammen, der gesunde
dagegen gerät in eine heilsame Erschütterung, die noch lange angenehm in ihm
nachzittert. Und der Kern Bayerns war zu allen Zeiten gut. Auf der großen
bayrischen Hochebne, die mit breitem Rücken von den Vorbergen der Alpen zu
den Strömen des Niederlandes hinabzieht, wohnt ein kräftiger Menschenschlag.
Aus den braunen Gesichtern der breitschultrigen Gestalten blicken Gutmütigkeit,
schlaue Treuherzigkeit, ein passiver Trotz und eine derbe Sinnlichkeit. Die
Fesseln, die der römische Geist dem geistigen und politischen, ein habsüchtiger
Adel und Beamtenstand dem materiellen Leben anlegten, konnten jeglichen Auf¬
schwung hemmen, aber die Fähigkeit dazu nicht für alle Zeiten vernichten.

Schon Aventin meldet in seiner schlichten und treuherzigen Weise: "Das
bayrische Volk ist geistlich, schlecht und gerecht; es läuft gern wallfahrten, hat
auch viel Kirchfahrt, legt sich mehr auf den Ackerbau und das Vieh, denn auf
den Krieg, bleibt gern daheim, trinkt sehr, hat viele Kinder, ist etwas un¬
freundlich und hartnäckig. Der gemeine Mann, so auf dem Lande sitzet, darf
sich nicht am Geschäft der Obrigkeit unterstehn, wird auch in keinen Rat ge¬
nommen oder zur Landschaft erfordert, doch ist er sonst frei, mag auch frei¬
ledig eigne Güter haben, dient seinem Herrn, der sonst keine Gewalt über ihn
hat, giebt jährlich Geld, Zins und Scharwerk, thut sonst, was er will, sitzt
Tag und Nacht bei dem Wein, schreit, singt, tanzt, kartet, spielt, mag Wehren
tragen, Schwcinspieß und lang Messer, große und überflüssige Hochzeit, Toten¬
mahl und Kirchtag haben, ist ehrlich und unsträflich, reicht keinem zum Nach¬
teil, kommt keinem zum Übel. Der Adel wohnt auf dem Lande, vertreibt seine
Zeit mit Hetzen, Beizen, Jagen und anderen Weidwerk, reitet zu Hof, wenn
er nicht Dienst und Sold hat. Die Bürger regieren ihre Städte und Märkte


Wie Bayern ein moderner Staat wurde

dies würde höchstens seine eigne Person entschuldigen —, so war es ihm doch
unmöglich, sich anderswoher Rat zu erholen. Einen deutschen Staat gab es
damals noch nicht, ebenso wenig eine deutsche politische Bildungsschule. Die
Länder und Ländchen des Deutschen Reiches, wenn sie sich ja zum Gedanken
einer Reform ihrer Zustünde aufschwangen, thaten dies samt und sonders
nach französischer Schablone, wie sie sich dnrch Ludwig XIV. allmählich aus¬
gebildet hatte. Von Friedrich dem Großen und Joseph II. an bis herunter
zu den reichsfreicu Grafen und Herren wurde alles, das Gute wie das Uhle,
uach diesem Muster zurecht gemacht. Es bedürfte erst der tiefsten Schmach
der Erniedrigung und einer ohne gleichen dastehenden Wiedererhebung des
deutsche» Volkes, bis sich neues Leben seine Formen aus dem heiligen Born
der eignen Geschichte holte.

Nicht immer schreitet die Entwicklung eines Staatswesens ruhig und
gleichmäßig fort: ist man weiter hinter andern zurückgeblieben, so macht man
wohl auch Sprünge, um sie einzuholen; und ist der Kern gesund, so hat dies
auch niemals geschadet; nur wenn die Fäulnis das Innerste ergriffen hat,
bricht der Körper bei jeder gewaltsamen Anstrengung zusammen, der gesunde
dagegen gerät in eine heilsame Erschütterung, die noch lange angenehm in ihm
nachzittert. Und der Kern Bayerns war zu allen Zeiten gut. Auf der großen
bayrischen Hochebne, die mit breitem Rücken von den Vorbergen der Alpen zu
den Strömen des Niederlandes hinabzieht, wohnt ein kräftiger Menschenschlag.
Aus den braunen Gesichtern der breitschultrigen Gestalten blicken Gutmütigkeit,
schlaue Treuherzigkeit, ein passiver Trotz und eine derbe Sinnlichkeit. Die
Fesseln, die der römische Geist dem geistigen und politischen, ein habsüchtiger
Adel und Beamtenstand dem materiellen Leben anlegten, konnten jeglichen Auf¬
schwung hemmen, aber die Fähigkeit dazu nicht für alle Zeiten vernichten.

Schon Aventin meldet in seiner schlichten und treuherzigen Weise: „Das
bayrische Volk ist geistlich, schlecht und gerecht; es läuft gern wallfahrten, hat
auch viel Kirchfahrt, legt sich mehr auf den Ackerbau und das Vieh, denn auf
den Krieg, bleibt gern daheim, trinkt sehr, hat viele Kinder, ist etwas un¬
freundlich und hartnäckig. Der gemeine Mann, so auf dem Lande sitzet, darf
sich nicht am Geschäft der Obrigkeit unterstehn, wird auch in keinen Rat ge¬
nommen oder zur Landschaft erfordert, doch ist er sonst frei, mag auch frei¬
ledig eigne Güter haben, dient seinem Herrn, der sonst keine Gewalt über ihn
hat, giebt jährlich Geld, Zins und Scharwerk, thut sonst, was er will, sitzt
Tag und Nacht bei dem Wein, schreit, singt, tanzt, kartet, spielt, mag Wehren
tragen, Schwcinspieß und lang Messer, große und überflüssige Hochzeit, Toten¬
mahl und Kirchtag haben, ist ehrlich und unsträflich, reicht keinem zum Nach¬
teil, kommt keinem zum Übel. Der Adel wohnt auf dem Lande, vertreibt seine
Zeit mit Hetzen, Beizen, Jagen und anderen Weidwerk, reitet zu Hof, wenn
er nicht Dienst und Sold hat. Die Bürger regieren ihre Städte und Märkte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/85>, abgerufen am 28.09.2024.