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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Rousseaus Einfluß auf die französische Revolution

Teil seiner pädagogischen Theorien von Locke, dem bekannten englischen Empi¬
riker. Trotzdem haben sie doch auf die Entwicklung der Pädagogik und der
Staatswissenschaften einen gewaltigen Einfluß ausgeübt, zumal seine beiden
Hauptschriften ^uns und Du ooutrxck sooial. Die Wirkungen, die insbesondre
durch die letzte Schrift hervorgerufen worden sind, sind zum erstenmale deutlich zu
Tage getreten in der folgenschweren großen französischen Revolution. Denn
in ihr suchte man die Ideen, die Rousseau darin entwickelt hatte, zu verwirk¬
lichen, nachdem sie sich mit unglaublicher Schnelligkeit im französischen Volke
verbreitet hatten und, man kann sagen, Gemeingut fast aller Franzosen ge¬
worden waren. Hat doch z. V. Marat, der später so gefeierte und gefürchtete
Held der Revolution, im Jahre 1788 Rousseaus vu ooutrat sooig.1 auf der
Promenade zu Paris unter ungeheuerm und begeistertem Beifall der Menge
vorgelesen und erklärt. Mit der Revolution aber sind diese Ideen nicht unter¬
gegangen, sondern sie haben fortgelebt bis in die neuste Zeit. Denn der größte
Teil, ja man kann wohl sagen alle politischen Schriften der Sozialdemokratie
haben ihre Grundgedanken Rousseau entlehnt. Der sozialdemokratische Zukunfts¬
staat entstammt, mit seinen einzelnen Zügen sogar, dem Bilde, das Rousseau
in der genannten Schrift Du eoiitr-i-t, soviel zeichnet.

Es sind vor allem drei Stücke, auf die Rousseau den Hauptnachdruck legt:
Freiheit, Gleichheit und Souveränität des Volkes. Die Souveränität hat
Rousseau am meisten betont; er geht dabei von der Voraussetzung aus, daß
die Freiheit ein unveräußerliches Gut eines jeden Menschen sei. Diese Freiheit
sich zu erhalten, ist darum oberste Pflicht, wie es andrerseits unmöglich ist,
daß ein Volk seine angeborne Freiheit veräußern und sich der Gewalt eines
Herrschers bedingungslos unterwerfen könnte. Eine solche Handlung ist nichtig,
d. h. mit andern Worten: ein Volk, das einem absoluten Herrscher gehorchen
muß, kann seinen angestammten Herrscher absetzen und sich frei machen, um
die einzig berechtigte, weil natürliche Form des Staats einzuführen, und das
ist die, die auf dem "Gesellschaftsvertrag" beruht. Was ist nun der Gesell¬
schaftsvertrag? Es ist "der Vertrag aller mit allen, durch den jeder gemein¬
schaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des
allgemeinen Willens stellt." Der ganze Staat ist so gewissermaßen eine große
Genossenschaft, die aus der Gesamtheit aller Bürger besteht, und in die jeder
einzelne als Mitglied auf Lebenszeit aufgenommen wird, ohne daß er sich je
von ihr trennen oder von ihr getrennt werden kann. Ein solcher Staat hat
als Oberhaupt die Gesamtheit aller Bürger und wird durch den Willen des
ganzen Volkes geleitet, der durch die Regierung ausgeführt wird. Diese wird
vom (ganzen) Volke eingesetzt, um die Freiheit aufrecht zu erhalten und die
vom Volke beschlossenen Gesetze durchzuführen. Deshalb kann sie auch jeder¬
zeit vom Volke wieder abgesetzt werden. Auch die Regierungsform wird vom
Volke bestimmt, und sie richtet sich nach der Größe des Staats, sowie nach


Rousseaus Einfluß auf die französische Revolution

Teil seiner pädagogischen Theorien von Locke, dem bekannten englischen Empi¬
riker. Trotzdem haben sie doch auf die Entwicklung der Pädagogik und der
Staatswissenschaften einen gewaltigen Einfluß ausgeübt, zumal seine beiden
Hauptschriften ^uns und Du ooutrxck sooial. Die Wirkungen, die insbesondre
durch die letzte Schrift hervorgerufen worden sind, sind zum erstenmale deutlich zu
Tage getreten in der folgenschweren großen französischen Revolution. Denn
in ihr suchte man die Ideen, die Rousseau darin entwickelt hatte, zu verwirk¬
lichen, nachdem sie sich mit unglaublicher Schnelligkeit im französischen Volke
verbreitet hatten und, man kann sagen, Gemeingut fast aller Franzosen ge¬
worden waren. Hat doch z. V. Marat, der später so gefeierte und gefürchtete
Held der Revolution, im Jahre 1788 Rousseaus vu ooutrat sooig.1 auf der
Promenade zu Paris unter ungeheuerm und begeistertem Beifall der Menge
vorgelesen und erklärt. Mit der Revolution aber sind diese Ideen nicht unter¬
gegangen, sondern sie haben fortgelebt bis in die neuste Zeit. Denn der größte
Teil, ja man kann wohl sagen alle politischen Schriften der Sozialdemokratie
haben ihre Grundgedanken Rousseau entlehnt. Der sozialdemokratische Zukunfts¬
staat entstammt, mit seinen einzelnen Zügen sogar, dem Bilde, das Rousseau
in der genannten Schrift Du eoiitr-i-t, soviel zeichnet.

Es sind vor allem drei Stücke, auf die Rousseau den Hauptnachdruck legt:
Freiheit, Gleichheit und Souveränität des Volkes. Die Souveränität hat
Rousseau am meisten betont; er geht dabei von der Voraussetzung aus, daß
die Freiheit ein unveräußerliches Gut eines jeden Menschen sei. Diese Freiheit
sich zu erhalten, ist darum oberste Pflicht, wie es andrerseits unmöglich ist,
daß ein Volk seine angeborne Freiheit veräußern und sich der Gewalt eines
Herrschers bedingungslos unterwerfen könnte. Eine solche Handlung ist nichtig,
d. h. mit andern Worten: ein Volk, das einem absoluten Herrscher gehorchen
muß, kann seinen angestammten Herrscher absetzen und sich frei machen, um
die einzig berechtigte, weil natürliche Form des Staats einzuführen, und das
ist die, die auf dem „Gesellschaftsvertrag" beruht. Was ist nun der Gesell¬
schaftsvertrag? Es ist „der Vertrag aller mit allen, durch den jeder gemein¬
schaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des
allgemeinen Willens stellt." Der ganze Staat ist so gewissermaßen eine große
Genossenschaft, die aus der Gesamtheit aller Bürger besteht, und in die jeder
einzelne als Mitglied auf Lebenszeit aufgenommen wird, ohne daß er sich je
von ihr trennen oder von ihr getrennt werden kann. Ein solcher Staat hat
als Oberhaupt die Gesamtheit aller Bürger und wird durch den Willen des
ganzen Volkes geleitet, der durch die Regierung ausgeführt wird. Diese wird
vom (ganzen) Volke eingesetzt, um die Freiheit aufrecht zu erhalten und die
vom Volke beschlossenen Gesetze durchzuführen. Deshalb kann sie auch jeder¬
zeit vom Volke wieder abgesetzt werden. Auch die Regierungsform wird vom
Volke bestimmt, und sie richtet sich nach der Größe des Staats, sowie nach


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[0696] Rousseaus Einfluß auf die französische Revolution Teil seiner pädagogischen Theorien von Locke, dem bekannten englischen Empi¬ riker. Trotzdem haben sie doch auf die Entwicklung der Pädagogik und der Staatswissenschaften einen gewaltigen Einfluß ausgeübt, zumal seine beiden Hauptschriften ^uns und Du ooutrxck sooial. Die Wirkungen, die insbesondre durch die letzte Schrift hervorgerufen worden sind, sind zum erstenmale deutlich zu Tage getreten in der folgenschweren großen französischen Revolution. Denn in ihr suchte man die Ideen, die Rousseau darin entwickelt hatte, zu verwirk¬ lichen, nachdem sie sich mit unglaublicher Schnelligkeit im französischen Volke verbreitet hatten und, man kann sagen, Gemeingut fast aller Franzosen ge¬ worden waren. Hat doch z. V. Marat, der später so gefeierte und gefürchtete Held der Revolution, im Jahre 1788 Rousseaus vu ooutrat sooig.1 auf der Promenade zu Paris unter ungeheuerm und begeistertem Beifall der Menge vorgelesen und erklärt. Mit der Revolution aber sind diese Ideen nicht unter¬ gegangen, sondern sie haben fortgelebt bis in die neuste Zeit. Denn der größte Teil, ja man kann wohl sagen alle politischen Schriften der Sozialdemokratie haben ihre Grundgedanken Rousseau entlehnt. Der sozialdemokratische Zukunfts¬ staat entstammt, mit seinen einzelnen Zügen sogar, dem Bilde, das Rousseau in der genannten Schrift Du eoiitr-i-t, soviel zeichnet. Es sind vor allem drei Stücke, auf die Rousseau den Hauptnachdruck legt: Freiheit, Gleichheit und Souveränität des Volkes. Die Souveränität hat Rousseau am meisten betont; er geht dabei von der Voraussetzung aus, daß die Freiheit ein unveräußerliches Gut eines jeden Menschen sei. Diese Freiheit sich zu erhalten, ist darum oberste Pflicht, wie es andrerseits unmöglich ist, daß ein Volk seine angeborne Freiheit veräußern und sich der Gewalt eines Herrschers bedingungslos unterwerfen könnte. Eine solche Handlung ist nichtig, d. h. mit andern Worten: ein Volk, das einem absoluten Herrscher gehorchen muß, kann seinen angestammten Herrscher absetzen und sich frei machen, um die einzig berechtigte, weil natürliche Form des Staats einzuführen, und das ist die, die auf dem „Gesellschaftsvertrag" beruht. Was ist nun der Gesell¬ schaftsvertrag? Es ist „der Vertrag aller mit allen, durch den jeder gemein¬ schaftlich seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens stellt." Der ganze Staat ist so gewissermaßen eine große Genossenschaft, die aus der Gesamtheit aller Bürger besteht, und in die jeder einzelne als Mitglied auf Lebenszeit aufgenommen wird, ohne daß er sich je von ihr trennen oder von ihr getrennt werden kann. Ein solcher Staat hat als Oberhaupt die Gesamtheit aller Bürger und wird durch den Willen des ganzen Volkes geleitet, der durch die Regierung ausgeführt wird. Diese wird vom (ganzen) Volke eingesetzt, um die Freiheit aufrecht zu erhalten und die vom Volke beschlossenen Gesetze durchzuführen. Deshalb kann sie auch jeder¬ zeit vom Volke wieder abgesetzt werden. Auch die Regierungsform wird vom Volke bestimmt, und sie richtet sich nach der Größe des Staats, sowie nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/696>, abgerufen am 28.09.2024.