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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Rinder vor Gericht

sehr beliebter Kunstgriff unehrlicher Gesellen im Baugewerbe, wenn sie irgend
welche "Abfälle" als "gefunden" oder "erspart" verwerten wollen, den Lehr¬
ling damit zu dem betreffenden Händler zu schicken. Ist der Händler nun
ehrlich und zeigt den Lehrling an, so wird dieser schwerlich der Bestrafung
wegen der Teilnahme an dem Diebstahl entgehen können, da er über die Recht¬
lichkeit derartiger Geschäfte nicht im Zweifel sein darf. In solchen Fällen
würden ja auch die oben erwähnten Bestrebungen um die Erhöhung des
strafmündigen Alters keine Hilfe schaffen. Hier würde vielleicht die sogenannte
"bedingte Verurteilung" als die beste gesetzgeberische Maßregel am Platze sein,
die ja auch von der erwähnten Vereinigung angestrebt wird.

Die mangelnde Reife des Willens bei der Jugend bringt uns noch auf
ein andres Gebiet, das wir vorhin erwähnt haben, als von dem Einfluß des
Alters auf das Prozeßverfahren die Rede war: auf die sogenannte Eides¬
mündigkeit. Sie beginnt nach dem heutigen deutschen Recht allgemein, im
Strafverfahren wie im bürgerlichen Rechtsstreit, mit dem vollendeten sech¬
zehnten Lebensjahre. Unter diesem Alter stehende Kinder werden als Zeugen
immer "uneidlich" vernommen, und es hängt vollständig von dem Ermessen
des Gerichts ab, ob es dieser Aussage den Wert eines beschworner Zeugnisses
beilegen oder sie als ganz unglaubwürdig einfach beiseite schieben will. Natür¬
lich hängt dies neben der innern Glaubwürdigkeit der Aussage selbst haupt¬
sächlich von dem Eindruck ab, den das als Zeuge auftretende Kind auf die
Richter macht. Nun ist aber die Form und die Art der Aussage selbst wie
auch das Auftreten des jungen Zeugen in weit höherm Maße, als dies bei
Erwachsenen der Fall ist, davon abhängig, wie er vernommen wird; und zwar
kann hier ein Einfluß ausgeübt werden, der die verhängnisvollsten Folgen
haben kann für den, auf den sich die Aussage dieses "jugendlichen" Zeugen
bezieht. Man denke hier nur an die Verbrechen, die ihrer Natur nach nur
gegen Kinder begangen werden, und bei denen das Opfer so oft der einzige
Zeuge ist. Welche furchtbare Bedeutung hat hier die vermeintliche Wieder-
erkennung des Thäters, ja oft selbst die Aussage von einem Kinde, das bisher
nur gelehrt wurde, das von andern Gedachte nachzusprechen! Eine schwierige
Sache für den vernehmenden oder die Verhandlung leitenden Richter ist hier
schon die Frage der Zulassung oder der Entfernung der den kleinen Zeugen
gewöhnlich begleitenden Angehörigen. Werden diese nicht zugelassen, so kann
sich dadurch bei dem Kinde die schon vorhandne Schüchternheit bis zum
völligen Verstummen steigern. Bleibt der oder die Begleiterin da, so ist die
Gefahr vorhanden, daß bestimmte Suggestionen auch hier fortwirken. Der
Richter wird hier oft erst versuchsweise ein richtiges Mittelmaß herausfinden
müssen; und dasselbe gilt auch von der Befragung selbst. Ist Schüchternheit
und Befangenheit vorhanden, so wird sich der Richter erst durch eine allgemeine
freundliche Unterhaltung mit dem Kinde in geistige Beziehung zu setzen suchen,


Rinder vor Gericht

sehr beliebter Kunstgriff unehrlicher Gesellen im Baugewerbe, wenn sie irgend
welche „Abfälle" als „gefunden" oder „erspart" verwerten wollen, den Lehr¬
ling damit zu dem betreffenden Händler zu schicken. Ist der Händler nun
ehrlich und zeigt den Lehrling an, so wird dieser schwerlich der Bestrafung
wegen der Teilnahme an dem Diebstahl entgehen können, da er über die Recht¬
lichkeit derartiger Geschäfte nicht im Zweifel sein darf. In solchen Fällen
würden ja auch die oben erwähnten Bestrebungen um die Erhöhung des
strafmündigen Alters keine Hilfe schaffen. Hier würde vielleicht die sogenannte
„bedingte Verurteilung" als die beste gesetzgeberische Maßregel am Platze sein,
die ja auch von der erwähnten Vereinigung angestrebt wird.

Die mangelnde Reife des Willens bei der Jugend bringt uns noch auf
ein andres Gebiet, das wir vorhin erwähnt haben, als von dem Einfluß des
Alters auf das Prozeßverfahren die Rede war: auf die sogenannte Eides¬
mündigkeit. Sie beginnt nach dem heutigen deutschen Recht allgemein, im
Strafverfahren wie im bürgerlichen Rechtsstreit, mit dem vollendeten sech¬
zehnten Lebensjahre. Unter diesem Alter stehende Kinder werden als Zeugen
immer „uneidlich" vernommen, und es hängt vollständig von dem Ermessen
des Gerichts ab, ob es dieser Aussage den Wert eines beschworner Zeugnisses
beilegen oder sie als ganz unglaubwürdig einfach beiseite schieben will. Natür¬
lich hängt dies neben der innern Glaubwürdigkeit der Aussage selbst haupt¬
sächlich von dem Eindruck ab, den das als Zeuge auftretende Kind auf die
Richter macht. Nun ist aber die Form und die Art der Aussage selbst wie
auch das Auftreten des jungen Zeugen in weit höherm Maße, als dies bei
Erwachsenen der Fall ist, davon abhängig, wie er vernommen wird; und zwar
kann hier ein Einfluß ausgeübt werden, der die verhängnisvollsten Folgen
haben kann für den, auf den sich die Aussage dieses „jugendlichen" Zeugen
bezieht. Man denke hier nur an die Verbrechen, die ihrer Natur nach nur
gegen Kinder begangen werden, und bei denen das Opfer so oft der einzige
Zeuge ist. Welche furchtbare Bedeutung hat hier die vermeintliche Wieder-
erkennung des Thäters, ja oft selbst die Aussage von einem Kinde, das bisher
nur gelehrt wurde, das von andern Gedachte nachzusprechen! Eine schwierige
Sache für den vernehmenden oder die Verhandlung leitenden Richter ist hier
schon die Frage der Zulassung oder der Entfernung der den kleinen Zeugen
gewöhnlich begleitenden Angehörigen. Werden diese nicht zugelassen, so kann
sich dadurch bei dem Kinde die schon vorhandne Schüchternheit bis zum
völligen Verstummen steigern. Bleibt der oder die Begleiterin da, so ist die
Gefahr vorhanden, daß bestimmte Suggestionen auch hier fortwirken. Der
Richter wird hier oft erst versuchsweise ein richtiges Mittelmaß herausfinden
müssen; und dasselbe gilt auch von der Befragung selbst. Ist Schüchternheit
und Befangenheit vorhanden, so wird sich der Richter erst durch eine allgemeine
freundliche Unterhaltung mit dem Kinde in geistige Beziehung zu setzen suchen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/694>, abgerufen am 28.09.2024.