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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur

In der Kirche; nicht ein Mangel an jener Freiheit für die Kirche, die die Röm-
linge fordern, damit die Kirche die Freiheit in ihr recht sicher niederhalten könne.
Solange diese Freiheit in der Kirche immer noch "genommen" werden muß, statt
daß sie "gegeben" sein sollte, solange wird ihre Einung mit dem gesamtprotestan¬
tischen Geistesleben nicht vollzogen, und sie gehn aus einander oder gar gegen ein¬
ander: religiöser und weltlicher Protestantismus."

Das ist eben das Unglück und die beschämende Nückstttndigkeit im altpreußischen
Protestantismus, daß heute, hundert Jahre nach Friedrich dem Großen, hundert
Jahre nach Schleiermacher, in ihm die Freiheit zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit
nicht "gegeben" ist, sondern daß sie "genommen" werden muß auf die Gefahr hin,
nach dem mit Kirchengesetzeskraft ausgestatteten Buchstaben des starren orthodoxen
Dogmas dem Ketzergericht zu verfallen, wenn nicht gerade ein friedliebendes Kirchen¬
regiment es für gut hält, ein Auge zuzudrücken und sich dem Drängen der evan¬
gelischen Inquisition, die Brief und Siegel in der Hand hat, einige Zeit zu ent¬
ziehen.

Da ist es wahrhaftig am Platze, Schleiermachers Geist zu zitieren, um den
Gebildeten unter deu Verächtern der Religion die Augen darüber zu öffnen, was
sie mit ihrer Gedankenlosigkeit und Heuchelei anrichten. Vor hundert Jahren
dachten die Berliner und die altpreußischen Gebildeten um nichts freier in religiösen
Dingen als heute, aber sie benebelten auch nicht den hundertsten Teil so wie heute.

Möge das kleine Buch Schleiermachers Lehre und Wirken allen gebildeten
Protestanten vergegenwärtigen. Wer es mit dem Wunsch, die Wahrheit zu finden,
in die Hand nimmt, wird es sicher nicht unbefriedigt aus der Hand legen. Aber
werden die Berliner obern Zehntausend heute überhaupt ein Buch über Schleier-
mcicher in die Hand nehmen? Ist es nicht viel bequemer, sich der Kirche fern zu
halten, soweit es geht, als in ihr für die evangelische Wahrheit einzutreten? Und
wenn man schon einmal der Berührung mit der Kirche nicht ausweichen kann im
Interesse der amtlichen und gesellschaftlichen Stellung, ist es da nicht zweckmäßiger,
noch weiter und noch nachdrücklicher zu lügen und zu heucheln? Wer das prote¬
stantische Berlin kennt, wird nicht allzu zuversichtlich sein. Aber das sei auch heute
wiederholt: "Daß der preußische Protestantismus so zum Gespött für die Katholiken
werden muß und für die sozialdemokratischen Arbeiter zum Gegenstand der Ver¬
achtung, darüber sollte man sich endlich klar werden."






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur

In der Kirche; nicht ein Mangel an jener Freiheit für die Kirche, die die Röm-
linge fordern, damit die Kirche die Freiheit in ihr recht sicher niederhalten könne.
Solange diese Freiheit in der Kirche immer noch »genommen« werden muß, statt
daß sie »gegeben« sein sollte, solange wird ihre Einung mit dem gesamtprotestan¬
tischen Geistesleben nicht vollzogen, und sie gehn aus einander oder gar gegen ein¬
ander: religiöser und weltlicher Protestantismus."

Das ist eben das Unglück und die beschämende Nückstttndigkeit im altpreußischen
Protestantismus, daß heute, hundert Jahre nach Friedrich dem Großen, hundert
Jahre nach Schleiermacher, in ihm die Freiheit zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit
nicht „gegeben" ist, sondern daß sie „genommen" werden muß auf die Gefahr hin,
nach dem mit Kirchengesetzeskraft ausgestatteten Buchstaben des starren orthodoxen
Dogmas dem Ketzergericht zu verfallen, wenn nicht gerade ein friedliebendes Kirchen¬
regiment es für gut hält, ein Auge zuzudrücken und sich dem Drängen der evan¬
gelischen Inquisition, die Brief und Siegel in der Hand hat, einige Zeit zu ent¬
ziehen.

Da ist es wahrhaftig am Platze, Schleiermachers Geist zu zitieren, um den
Gebildeten unter deu Verächtern der Religion die Augen darüber zu öffnen, was
sie mit ihrer Gedankenlosigkeit und Heuchelei anrichten. Vor hundert Jahren
dachten die Berliner und die altpreußischen Gebildeten um nichts freier in religiösen
Dingen als heute, aber sie benebelten auch nicht den hundertsten Teil so wie heute.

Möge das kleine Buch Schleiermachers Lehre und Wirken allen gebildeten
Protestanten vergegenwärtigen. Wer es mit dem Wunsch, die Wahrheit zu finden,
in die Hand nimmt, wird es sicher nicht unbefriedigt aus der Hand legen. Aber
werden die Berliner obern Zehntausend heute überhaupt ein Buch über Schleier-
mcicher in die Hand nehmen? Ist es nicht viel bequemer, sich der Kirche fern zu
halten, soweit es geht, als in ihr für die evangelische Wahrheit einzutreten? Und
wenn man schon einmal der Berührung mit der Kirche nicht ausweichen kann im
Interesse der amtlichen und gesellschaftlichen Stellung, ist es da nicht zweckmäßiger,
noch weiter und noch nachdrücklicher zu lügen und zu heucheln? Wer das prote¬
stantische Berlin kennt, wird nicht allzu zuversichtlich sein. Aber das sei auch heute
wiederholt: „Daß der preußische Protestantismus so zum Gespött für die Katholiken
werden muß und für die sozialdemokratischen Arbeiter zum Gegenstand der Ver¬
achtung, darüber sollte man sich endlich klar werden."






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0680] Litteratur In der Kirche; nicht ein Mangel an jener Freiheit für die Kirche, die die Röm- linge fordern, damit die Kirche die Freiheit in ihr recht sicher niederhalten könne. Solange diese Freiheit in der Kirche immer noch »genommen« werden muß, statt daß sie »gegeben« sein sollte, solange wird ihre Einung mit dem gesamtprotestan¬ tischen Geistesleben nicht vollzogen, und sie gehn aus einander oder gar gegen ein¬ ander: religiöser und weltlicher Protestantismus." Das ist eben das Unglück und die beschämende Nückstttndigkeit im altpreußischen Protestantismus, daß heute, hundert Jahre nach Friedrich dem Großen, hundert Jahre nach Schleiermacher, in ihm die Freiheit zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit nicht „gegeben" ist, sondern daß sie „genommen" werden muß auf die Gefahr hin, nach dem mit Kirchengesetzeskraft ausgestatteten Buchstaben des starren orthodoxen Dogmas dem Ketzergericht zu verfallen, wenn nicht gerade ein friedliebendes Kirchen¬ regiment es für gut hält, ein Auge zuzudrücken und sich dem Drängen der evan¬ gelischen Inquisition, die Brief und Siegel in der Hand hat, einige Zeit zu ent¬ ziehen. Da ist es wahrhaftig am Platze, Schleiermachers Geist zu zitieren, um den Gebildeten unter deu Verächtern der Religion die Augen darüber zu öffnen, was sie mit ihrer Gedankenlosigkeit und Heuchelei anrichten. Vor hundert Jahren dachten die Berliner und die altpreußischen Gebildeten um nichts freier in religiösen Dingen als heute, aber sie benebelten auch nicht den hundertsten Teil so wie heute. Möge das kleine Buch Schleiermachers Lehre und Wirken allen gebildeten Protestanten vergegenwärtigen. Wer es mit dem Wunsch, die Wahrheit zu finden, in die Hand nimmt, wird es sicher nicht unbefriedigt aus der Hand legen. Aber werden die Berliner obern Zehntausend heute überhaupt ein Buch über Schleier- mcicher in die Hand nehmen? Ist es nicht viel bequemer, sich der Kirche fern zu halten, soweit es geht, als in ihr für die evangelische Wahrheit einzutreten? Und wenn man schon einmal der Berührung mit der Kirche nicht ausweichen kann im Interesse der amtlichen und gesellschaftlichen Stellung, ist es da nicht zweckmäßiger, noch weiter und noch nachdrücklicher zu lügen und zu heucheln? Wer das prote¬ stantische Berlin kennt, wird nicht allzu zuversichtlich sein. Aber das sei auch heute wiederholt: „Daß der preußische Protestantismus so zum Gespött für die Katholiken werden muß und für die sozialdemokratischen Arbeiter zum Gegenstand der Ver¬ achtung, darüber sollte man sich endlich klar werden." Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/680>, abgerufen am 28.09.2024.