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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Die Kunst für alle oder für wenige?

Zu keiner Zeit, so führt Tschudi in seiner gedankenreichen Rede aus,
haben die Maler ein so großes Publikum gehabt wie heute, und doch hat
keine Kunstblüte der christlichen Welt gleich ungünstige Bedingungen aufzuweisen.
Der heroische Inhalt unsers politischen Aufschwungs hat keinen Niederschlag
gehabt, wie man ihn erwartete und zum Teil durch monumentale Aufgaben
und Kriegsdarstellungen erzwingen wollte. Das viel ausgedehntere moderne
Publikum hat nicht mehr die Fühlung mit den Künstlern, wie der immer nur
enge Kreis der Auftraggeber zur Zeit der italienischen Renaissance oder in den
Niederlanden im fünfzehnten und in Spanien im siebzehnten Jahrhundert.
Damals verlangte man in der Hauptsache nur zwei Arten von Werken, das
Andachtsbild und das Bildnis, das beschränkte Stoffgebiet sammelte alles Be¬
mühen in dem künstlerischen Ausdruck, und die Besteller waren dnrch das Her¬
kommen befähigt, den Künstlern zu folgen. Auf die große Masse nahmen nur
die Holzschneider und Kupferstecher Bedacht. Das heutige Kunstpublikum ist
größer und reich genug, zu kaufen, aber ohne ein lebendiges Bedürfnis
nach Kunst und unsicher im Geschmack und im Urteil. So kommt die "Mode"
in die Kunst, wie es zuerst in dem Holland des siebzehnten Jahrhunderts
geschah, als man Frans Hals und Rembrandt nicht verstand und Ruysdael
und Vermeer van Delft verhungern ließ, um vermeintlich vornehmere Rich¬
tungen zu begünstigen, während sonst überall die großen Künstler fast immer
ihre Stelle und schon zu ihren Lebzeiten ihre Anerkennung gefunden hatten.
"Je höher ein Künstler steht, um so spärlicher wird sein Publikum sein, aber
auch das Durchschnittstalent kann heute nicht mit Sicherheit auf ein solches
rechnen."

Um die Verbindung zwischen der Kunst und dem Publikum herzustellen,
muß dieses zu den Künstlern emporgehoben werden, aber nicht, wie wir schon
hörten, durch jenen "bedenklichen" Dilettantismus, sondern durch vorurteils¬
loses Anschauen des Besten. Denn wie man von unmusikalischen Leuten spricht,
denen über die Musik kein Urteil zusteht, so sind auch solche, deren Blick nicht
über den Gegenstand eines Kunstwerks hinausgeht, künstlerisch blind zu nennen.
Das letzte Ziel der Malerei ist immer die "Wiedergabe des unendlichen Reich¬
tums der Lichterscheinungen. Alle Probleme der Raumbildung, des Kolorismus,
des Helldunkels, des Pleinairs beruhen auf dem Versuche, ihrer Mannigfaltig¬
keit Herr zu werden." Die große Menge versteht das nicht, und selbst der
Gebildete hält sich noch zu sehr an die Schönheit des Umrisses. Das Künstler¬
auge ist empfindlich organisiert, es nimmt die subtilsten Erscheinungen der
sichtbaren Welt auf, es entdeckt Feinheiten der Lichtbrechung und Schönheiten
des atmosphärischen Lebens, die bisher keiner geschaut hat. "So entstehen
Werke, deren Fremdartigkeit den Laien zum Widerspruch reizt, während er doch
vielmehr für die Erweiterung seiner Naturanschauung dankbar zu sein hätte.
Nicht verlangen sollte er, daß der Künstler ihm die Natur zeigt, wie er sie


Die Kunst für alle oder für wenige?

Zu keiner Zeit, so führt Tschudi in seiner gedankenreichen Rede aus,
haben die Maler ein so großes Publikum gehabt wie heute, und doch hat
keine Kunstblüte der christlichen Welt gleich ungünstige Bedingungen aufzuweisen.
Der heroische Inhalt unsers politischen Aufschwungs hat keinen Niederschlag
gehabt, wie man ihn erwartete und zum Teil durch monumentale Aufgaben
und Kriegsdarstellungen erzwingen wollte. Das viel ausgedehntere moderne
Publikum hat nicht mehr die Fühlung mit den Künstlern, wie der immer nur
enge Kreis der Auftraggeber zur Zeit der italienischen Renaissance oder in den
Niederlanden im fünfzehnten und in Spanien im siebzehnten Jahrhundert.
Damals verlangte man in der Hauptsache nur zwei Arten von Werken, das
Andachtsbild und das Bildnis, das beschränkte Stoffgebiet sammelte alles Be¬
mühen in dem künstlerischen Ausdruck, und die Besteller waren dnrch das Her¬
kommen befähigt, den Künstlern zu folgen. Auf die große Masse nahmen nur
die Holzschneider und Kupferstecher Bedacht. Das heutige Kunstpublikum ist
größer und reich genug, zu kaufen, aber ohne ein lebendiges Bedürfnis
nach Kunst und unsicher im Geschmack und im Urteil. So kommt die „Mode"
in die Kunst, wie es zuerst in dem Holland des siebzehnten Jahrhunderts
geschah, als man Frans Hals und Rembrandt nicht verstand und Ruysdael
und Vermeer van Delft verhungern ließ, um vermeintlich vornehmere Rich¬
tungen zu begünstigen, während sonst überall die großen Künstler fast immer
ihre Stelle und schon zu ihren Lebzeiten ihre Anerkennung gefunden hatten.
„Je höher ein Künstler steht, um so spärlicher wird sein Publikum sein, aber
auch das Durchschnittstalent kann heute nicht mit Sicherheit auf ein solches
rechnen."

Um die Verbindung zwischen der Kunst und dem Publikum herzustellen,
muß dieses zu den Künstlern emporgehoben werden, aber nicht, wie wir schon
hörten, durch jenen „bedenklichen" Dilettantismus, sondern durch vorurteils¬
loses Anschauen des Besten. Denn wie man von unmusikalischen Leuten spricht,
denen über die Musik kein Urteil zusteht, so sind auch solche, deren Blick nicht
über den Gegenstand eines Kunstwerks hinausgeht, künstlerisch blind zu nennen.
Das letzte Ziel der Malerei ist immer die „Wiedergabe des unendlichen Reich¬
tums der Lichterscheinungen. Alle Probleme der Raumbildung, des Kolorismus,
des Helldunkels, des Pleinairs beruhen auf dem Versuche, ihrer Mannigfaltig¬
keit Herr zu werden." Die große Menge versteht das nicht, und selbst der
Gebildete hält sich noch zu sehr an die Schönheit des Umrisses. Das Künstler¬
auge ist empfindlich organisiert, es nimmt die subtilsten Erscheinungen der
sichtbaren Welt auf, es entdeckt Feinheiten der Lichtbrechung und Schönheiten
des atmosphärischen Lebens, die bisher keiner geschaut hat. „So entstehen
Werke, deren Fremdartigkeit den Laien zum Widerspruch reizt, während er doch
vielmehr für die Erweiterung seiner Naturanschauung dankbar zu sein hätte.
Nicht verlangen sollte er, daß der Künstler ihm die Natur zeigt, wie er sie


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[0604] Die Kunst für alle oder für wenige? Zu keiner Zeit, so führt Tschudi in seiner gedankenreichen Rede aus, haben die Maler ein so großes Publikum gehabt wie heute, und doch hat keine Kunstblüte der christlichen Welt gleich ungünstige Bedingungen aufzuweisen. Der heroische Inhalt unsers politischen Aufschwungs hat keinen Niederschlag gehabt, wie man ihn erwartete und zum Teil durch monumentale Aufgaben und Kriegsdarstellungen erzwingen wollte. Das viel ausgedehntere moderne Publikum hat nicht mehr die Fühlung mit den Künstlern, wie der immer nur enge Kreis der Auftraggeber zur Zeit der italienischen Renaissance oder in den Niederlanden im fünfzehnten und in Spanien im siebzehnten Jahrhundert. Damals verlangte man in der Hauptsache nur zwei Arten von Werken, das Andachtsbild und das Bildnis, das beschränkte Stoffgebiet sammelte alles Be¬ mühen in dem künstlerischen Ausdruck, und die Besteller waren dnrch das Her¬ kommen befähigt, den Künstlern zu folgen. Auf die große Masse nahmen nur die Holzschneider und Kupferstecher Bedacht. Das heutige Kunstpublikum ist größer und reich genug, zu kaufen, aber ohne ein lebendiges Bedürfnis nach Kunst und unsicher im Geschmack und im Urteil. So kommt die „Mode" in die Kunst, wie es zuerst in dem Holland des siebzehnten Jahrhunderts geschah, als man Frans Hals und Rembrandt nicht verstand und Ruysdael und Vermeer van Delft verhungern ließ, um vermeintlich vornehmere Rich¬ tungen zu begünstigen, während sonst überall die großen Künstler fast immer ihre Stelle und schon zu ihren Lebzeiten ihre Anerkennung gefunden hatten. „Je höher ein Künstler steht, um so spärlicher wird sein Publikum sein, aber auch das Durchschnittstalent kann heute nicht mit Sicherheit auf ein solches rechnen." Um die Verbindung zwischen der Kunst und dem Publikum herzustellen, muß dieses zu den Künstlern emporgehoben werden, aber nicht, wie wir schon hörten, durch jenen „bedenklichen" Dilettantismus, sondern durch vorurteils¬ loses Anschauen des Besten. Denn wie man von unmusikalischen Leuten spricht, denen über die Musik kein Urteil zusteht, so sind auch solche, deren Blick nicht über den Gegenstand eines Kunstwerks hinausgeht, künstlerisch blind zu nennen. Das letzte Ziel der Malerei ist immer die „Wiedergabe des unendlichen Reich¬ tums der Lichterscheinungen. Alle Probleme der Raumbildung, des Kolorismus, des Helldunkels, des Pleinairs beruhen auf dem Versuche, ihrer Mannigfaltig¬ keit Herr zu werden." Die große Menge versteht das nicht, und selbst der Gebildete hält sich noch zu sehr an die Schönheit des Umrisses. Das Künstler¬ auge ist empfindlich organisiert, es nimmt die subtilsten Erscheinungen der sichtbaren Welt auf, es entdeckt Feinheiten der Lichtbrechung und Schönheiten des atmosphärischen Lebens, die bisher keiner geschaut hat. „So entstehen Werke, deren Fremdartigkeit den Laien zum Widerspruch reizt, während er doch vielmehr für die Erweiterung seiner Naturanschauung dankbar zu sein hätte. Nicht verlangen sollte er, daß der Künstler ihm die Natur zeigt, wie er sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/604>, abgerufen am 28.09.2024.