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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur

"Sichere Nachricht von ihr erhalten wir erst um die Wende des sechzehnten und
siebzehnten Jahrhunderts. Sie befand sich damals im Besitz des kunstsinnigen
Kurfürsten Friedrichs IV. von der Pfalz in Heidelberg. Wahrscheinlich ist sie bei
der Einnahme Heidelbergs im Jahre 1622 entwendet worden. Erst 1657 er¬
scheint sie plötzlich wieder als Geschenk der beiden französischen Altertumssamniler
Pierre und Jacques Dupuh an die königliche, jetzt Nationalbibliothek in Paris.
Dort blieb sie, von deutschen Forschern bewundert und bedauert. Auch die Jahre
1314 und 1871 konnten unserm Vaterlande das Kleinod nicht wieder zuführen,
bis sie endlich durch friedlichen Kauf und Tausch im Jahre 1888 von, Deutschen
Reiche erworben und an ihrer alten Heimatsstätte, unter den Handschriftenschätzen
der Heidelberger Universitätsbibliothek, niedergelegt ward." So berichtet Fridrich
Pfaff, der benachbarte Freiburger Universitätsbibliothekar, in dem Prospekt zu seinem
eben erscheinenden buchstabengetreuer Abdruck der berühmten Handschrift.

Die Ausgabe will natürlich in erster Linie wissenschaftlichen Zwecken dienen;
denn der alte Bodmersche Druck ist unvollständig, die Wiedergabe von der Hagens
von 1838 ungenau, eine 1886 vom badischen Ministerium veranstaltete Lichtdrnck-
wiedergabe nur in wenigen Stücken verbreitet. Aber mich für den Liebhaber ist
sie von Wert. Sie ist gut ausgestattet- die Kolumne, geschmackvoll geteilt, erinnert
leise an das schöne alte Werk, die roten und blauen Initialen sind dem Original
entsprechend wiedergegeben; ein guter Farbendruck, die Wiedergabe eines der schönsten
Bilder der Handschrift -- hoffentlich nicht des einzigen reproduzierten -- eröffnet
das erste der fünf Hefte, auf die das Ganze berechnet ist. Auch für den littera¬
rischen Liebhaber hat ein solcher buchstabengetreuer Abdruck eiuen eigentümlichen
Reiz. Alle kritischen Ausgaben von Walther von der Vogelweide, von des Minne¬
sangs Frühling usw. sind wie mit einem gewaltthätig säubernden Anstrich von
philologischer Doktrin überzogen. Hier ist mit den kritischen Überzeugungen von
Lachmann und Haupt getüncht, dort mit denen von Wilmcmns oder Wackernagel.
Man empfindet etwas von der Kälte wie in einer restaurierten Kirche. Wie intim
mutet dagegen dieser Abdruck an! Wieviel unmittelbarer tritt aus diesen naiv-
getrenen Zeilen das alte Leben an den Leser heran! In genau dieser Form sind
in der Schweiz Walthers freie Worte erklungen: Tütsche man sind wol gezogen, in
genau dieser Form dort sein Liebesjubel mitgejnbelt worden: Jr houbet ist so
wurmen rieb, als es min dienet weite sin. Genau so haben das damalige Schweizer
-- hundert Jahre, nachdem es gedichtet wurde -- beglückt gesungen und vernommen,
andächtig geschrieben und gelesen! Die Stimmung, die einst zwischen dem damals
schon als etwas klassisches verehrten Kunstwerke und seinem Publikum schwebte,
k R, W. lingt in diesem schönen Abdruck mit.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur

„Sichere Nachricht von ihr erhalten wir erst um die Wende des sechzehnten und
siebzehnten Jahrhunderts. Sie befand sich damals im Besitz des kunstsinnigen
Kurfürsten Friedrichs IV. von der Pfalz in Heidelberg. Wahrscheinlich ist sie bei
der Einnahme Heidelbergs im Jahre 1622 entwendet worden. Erst 1657 er¬
scheint sie plötzlich wieder als Geschenk der beiden französischen Altertumssamniler
Pierre und Jacques Dupuh an die königliche, jetzt Nationalbibliothek in Paris.
Dort blieb sie, von deutschen Forschern bewundert und bedauert. Auch die Jahre
1314 und 1871 konnten unserm Vaterlande das Kleinod nicht wieder zuführen,
bis sie endlich durch friedlichen Kauf und Tausch im Jahre 1888 von, Deutschen
Reiche erworben und an ihrer alten Heimatsstätte, unter den Handschriftenschätzen
der Heidelberger Universitätsbibliothek, niedergelegt ward." So berichtet Fridrich
Pfaff, der benachbarte Freiburger Universitätsbibliothekar, in dem Prospekt zu seinem
eben erscheinenden buchstabengetreuer Abdruck der berühmten Handschrift.

Die Ausgabe will natürlich in erster Linie wissenschaftlichen Zwecken dienen;
denn der alte Bodmersche Druck ist unvollständig, die Wiedergabe von der Hagens
von 1838 ungenau, eine 1886 vom badischen Ministerium veranstaltete Lichtdrnck-
wiedergabe nur in wenigen Stücken verbreitet. Aber mich für den Liebhaber ist
sie von Wert. Sie ist gut ausgestattet- die Kolumne, geschmackvoll geteilt, erinnert
leise an das schöne alte Werk, die roten und blauen Initialen sind dem Original
entsprechend wiedergegeben; ein guter Farbendruck, die Wiedergabe eines der schönsten
Bilder der Handschrift — hoffentlich nicht des einzigen reproduzierten — eröffnet
das erste der fünf Hefte, auf die das Ganze berechnet ist. Auch für den littera¬
rischen Liebhaber hat ein solcher buchstabengetreuer Abdruck eiuen eigentümlichen
Reiz. Alle kritischen Ausgaben von Walther von der Vogelweide, von des Minne¬
sangs Frühling usw. sind wie mit einem gewaltthätig säubernden Anstrich von
philologischer Doktrin überzogen. Hier ist mit den kritischen Überzeugungen von
Lachmann und Haupt getüncht, dort mit denen von Wilmcmns oder Wackernagel.
Man empfindet etwas von der Kälte wie in einer restaurierten Kirche. Wie intim
mutet dagegen dieser Abdruck an! Wieviel unmittelbarer tritt aus diesen naiv-
getrenen Zeilen das alte Leben an den Leser heran! In genau dieser Form sind
in der Schweiz Walthers freie Worte erklungen: Tütsche man sind wol gezogen, in
genau dieser Form dort sein Liebesjubel mitgejnbelt worden: Jr houbet ist so
wurmen rieb, als es min dienet weite sin. Genau so haben das damalige Schweizer
— hundert Jahre, nachdem es gedichtet wurde — beglückt gesungen und vernommen,
andächtig geschrieben und gelesen! Die Stimmung, die einst zwischen dem damals
schon als etwas klassisches verehrten Kunstwerke und seinem Publikum schwebte,
k R, W. lingt in diesem schönen Abdruck mit.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0512] Litteratur „Sichere Nachricht von ihr erhalten wir erst um die Wende des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts. Sie befand sich damals im Besitz des kunstsinnigen Kurfürsten Friedrichs IV. von der Pfalz in Heidelberg. Wahrscheinlich ist sie bei der Einnahme Heidelbergs im Jahre 1622 entwendet worden. Erst 1657 er¬ scheint sie plötzlich wieder als Geschenk der beiden französischen Altertumssamniler Pierre und Jacques Dupuh an die königliche, jetzt Nationalbibliothek in Paris. Dort blieb sie, von deutschen Forschern bewundert und bedauert. Auch die Jahre 1314 und 1871 konnten unserm Vaterlande das Kleinod nicht wieder zuführen, bis sie endlich durch friedlichen Kauf und Tausch im Jahre 1888 von, Deutschen Reiche erworben und an ihrer alten Heimatsstätte, unter den Handschriftenschätzen der Heidelberger Universitätsbibliothek, niedergelegt ward." So berichtet Fridrich Pfaff, der benachbarte Freiburger Universitätsbibliothekar, in dem Prospekt zu seinem eben erscheinenden buchstabengetreuer Abdruck der berühmten Handschrift. Die Ausgabe will natürlich in erster Linie wissenschaftlichen Zwecken dienen; denn der alte Bodmersche Druck ist unvollständig, die Wiedergabe von der Hagens von 1838 ungenau, eine 1886 vom badischen Ministerium veranstaltete Lichtdrnck- wiedergabe nur in wenigen Stücken verbreitet. Aber mich für den Liebhaber ist sie von Wert. Sie ist gut ausgestattet- die Kolumne, geschmackvoll geteilt, erinnert leise an das schöne alte Werk, die roten und blauen Initialen sind dem Original entsprechend wiedergegeben; ein guter Farbendruck, die Wiedergabe eines der schönsten Bilder der Handschrift — hoffentlich nicht des einzigen reproduzierten — eröffnet das erste der fünf Hefte, auf die das Ganze berechnet ist. Auch für den littera¬ rischen Liebhaber hat ein solcher buchstabengetreuer Abdruck eiuen eigentümlichen Reiz. Alle kritischen Ausgaben von Walther von der Vogelweide, von des Minne¬ sangs Frühling usw. sind wie mit einem gewaltthätig säubernden Anstrich von philologischer Doktrin überzogen. Hier ist mit den kritischen Überzeugungen von Lachmann und Haupt getüncht, dort mit denen von Wilmcmns oder Wackernagel. Man empfindet etwas von der Kälte wie in einer restaurierten Kirche. Wie intim mutet dagegen dieser Abdruck an! Wieviel unmittelbarer tritt aus diesen naiv- getrenen Zeilen das alte Leben an den Leser heran! In genau dieser Form sind in der Schweiz Walthers freie Worte erklungen: Tütsche man sind wol gezogen, in genau dieser Form dort sein Liebesjubel mitgejnbelt worden: Jr houbet ist so wurmen rieb, als es min dienet weite sin. Genau so haben das damalige Schweizer — hundert Jahre, nachdem es gedichtet wurde — beglückt gesungen und vernommen, andächtig geschrieben und gelesen! Die Stimmung, die einst zwischen dem damals schon als etwas klassisches verehrten Kunstwerke und seinem Publikum schwebte, k R, W. lingt in diesem schönen Abdruck mit. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/512>, abgerufen am 28.09.2024.