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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

der Abnormitäten herauszukommen, ganz unerläßlich macht, zieht die revolutionär
gestimmte Kritik vor, die "neue" Fratze statt des lebensvollen Gesichts, die
naturlose Unmöglichkeit statt der glücklich erfaßten Wirklichkeit, als Wahrheit
des modernen Lebens zu preisen.

Bei dieser Verirrung der zeitgenössischen Kritik spielt die Einwirkung
einer der Poesie ganz und gar entfremdeten Geistesverfassung und Anschanung
mit. Wer die Zunahme der methodisch gezüchteten Entlehnungs- und littera¬
rischen Einwirkungstheorie einigermaßen aufmerksam verfolgt hat, einer Theorie,
nach der kein Dichter jemals einen unmittelbaren Eindruck von Welt und Leben
empfangen, jemals seine eignen Empfindungen, Erfahrungen und Erlebnisse
ohne Benutzung längst vorhandner poetischer Motive und Figuren gestaltet
hat, wer mit Staunen erfahren mußte, daß der ganze "Faust" schließlich als ein
Sammelsurium von Nachklängen und Reminiszenzen erscheint, daß die Natur
dem Dichter nichts gewährt, die Bücher ihm alles geben, der darf über eine
Kritik nicht allzu sehr erstaunen, die die modernen Dramen und Romane nicht
mehr an der Wirklichkeit der Dinge, an der innern Wahrheit des Dichters,
sondern an Kapiteln und Seiten von Zola, Maupassant, Ibsen oder Tolstoi
mißt. Im Zusammenhang mit der alexandrinischen Auffassung, die alles
Dichterwerk als nachgeahmt, erlesen, ergrübelt, aneincmdergeflickt betrachtet, hat
die moderne Kritik das Gefühl für die unmittelbare Phantasie und ursprüng¬
liche Gestaltungskraft verloren und fragt nur nach dem Zusammenhang der
poetischen Erscheinungen mit der "Bewegung" und "Richtung." Anzengruber
und Theodor Fontane, die unmittelbar nach der Natur und nicht nach Büchern
und Vorbildern geschaffen haben, gehn so drein; die rechte Anknüpfung an
den französisch-russischen Stil, der der Stil der Modernen ist, fehlt ihnen
freilich. Und so stehn wir vor der wunderbaren Thatsache, daß eine Revo¬
lution, die mit der leidenschaftlichsten Anrufung und angeblichen Entfesselung
der Natur begann, in lauter litterarischen Nachahmungen, glücklichstenfalls in
poetischen Paraphrasen zu einer Anzahl psychologischer und pathologischer
Sensationswerke verläuft. Das Leben rauscht indes weiter und über die, die
sich anmaßen, seine Lenker und Denker zu sein, hinweg. Die großstädtische
Zeitungskritik aber, der nun glücklich sämtliche Phrasen vom europäischen
Menschen, von den noch wirkenden Atavismen der hinter uns liegenden Welt¬
anschauung eingebleut sind, fährt fort das Publikum zu belehren, daß große
Entwicklungen nur im Einklang mit dem "Impuls des Augenblicks" und im
Zusammenhang mit einem herrschenden, dem Tag entsprungnen Stil möglich
sind. Daß sich Goethe dem "Stil" des Sturms und Drangs, Heinrich
von Kleist dem Stil der Romantik, Gottfried Keller dem Stil der politischen
Poesie entwunden und es dabei zu einer gar nicht Übeln Entwicklung gebracht
haben, verursacht dieser Kritik kein besondres Nachdenken, nur "Philister und
Proleten" befassen sich mit der Vergangenheit.


Drei Revolutionen in der deutschen Litteratur

der Abnormitäten herauszukommen, ganz unerläßlich macht, zieht die revolutionär
gestimmte Kritik vor, die „neue" Fratze statt des lebensvollen Gesichts, die
naturlose Unmöglichkeit statt der glücklich erfaßten Wirklichkeit, als Wahrheit
des modernen Lebens zu preisen.

Bei dieser Verirrung der zeitgenössischen Kritik spielt die Einwirkung
einer der Poesie ganz und gar entfremdeten Geistesverfassung und Anschanung
mit. Wer die Zunahme der methodisch gezüchteten Entlehnungs- und littera¬
rischen Einwirkungstheorie einigermaßen aufmerksam verfolgt hat, einer Theorie,
nach der kein Dichter jemals einen unmittelbaren Eindruck von Welt und Leben
empfangen, jemals seine eignen Empfindungen, Erfahrungen und Erlebnisse
ohne Benutzung längst vorhandner poetischer Motive und Figuren gestaltet
hat, wer mit Staunen erfahren mußte, daß der ganze „Faust" schließlich als ein
Sammelsurium von Nachklängen und Reminiszenzen erscheint, daß die Natur
dem Dichter nichts gewährt, die Bücher ihm alles geben, der darf über eine
Kritik nicht allzu sehr erstaunen, die die modernen Dramen und Romane nicht
mehr an der Wirklichkeit der Dinge, an der innern Wahrheit des Dichters,
sondern an Kapiteln und Seiten von Zola, Maupassant, Ibsen oder Tolstoi
mißt. Im Zusammenhang mit der alexandrinischen Auffassung, die alles
Dichterwerk als nachgeahmt, erlesen, ergrübelt, aneincmdergeflickt betrachtet, hat
die moderne Kritik das Gefühl für die unmittelbare Phantasie und ursprüng¬
liche Gestaltungskraft verloren und fragt nur nach dem Zusammenhang der
poetischen Erscheinungen mit der „Bewegung" und „Richtung." Anzengruber
und Theodor Fontane, die unmittelbar nach der Natur und nicht nach Büchern
und Vorbildern geschaffen haben, gehn so drein; die rechte Anknüpfung an
den französisch-russischen Stil, der der Stil der Modernen ist, fehlt ihnen
freilich. Und so stehn wir vor der wunderbaren Thatsache, daß eine Revo¬
lution, die mit der leidenschaftlichsten Anrufung und angeblichen Entfesselung
der Natur begann, in lauter litterarischen Nachahmungen, glücklichstenfalls in
poetischen Paraphrasen zu einer Anzahl psychologischer und pathologischer
Sensationswerke verläuft. Das Leben rauscht indes weiter und über die, die
sich anmaßen, seine Lenker und Denker zu sein, hinweg. Die großstädtische
Zeitungskritik aber, der nun glücklich sämtliche Phrasen vom europäischen
Menschen, von den noch wirkenden Atavismen der hinter uns liegenden Welt¬
anschauung eingebleut sind, fährt fort das Publikum zu belehren, daß große
Entwicklungen nur im Einklang mit dem „Impuls des Augenblicks" und im
Zusammenhang mit einem herrschenden, dem Tag entsprungnen Stil möglich
sind. Daß sich Goethe dem „Stil" des Sturms und Drangs, Heinrich
von Kleist dem Stil der Romantik, Gottfried Keller dem Stil der politischen
Poesie entwunden und es dabei zu einer gar nicht Übeln Entwicklung gebracht
haben, verursacht dieser Kritik kein besondres Nachdenken, nur „Philister und
Proleten" befassen sich mit der Vergangenheit.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/484>, abgerufen am 28.09.2024.