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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Vom litterarischen Jung-Elsaß

einem andern Standpunkte betrachten und lediglich feststellend bemerken: In
einem gewissen Zeitpunkt einer im einzelnen unkontrollierbaren Entwicklung
bricht der nationale, der stammestümliche Geist eines wachzurüttelnden Gaues
ganz von selbst aus. Und wenn geistige oder künstlerische Bewegungen lebendig
werden, so ist dies nur ein Anzeichen fortgeschrittner innerer Entwicklung.
Nun, beide Auffassungen haben ihre Berechtigung und müssen sich sogar er¬
gänzen; das Phlegma des zweiten ist für das reformatorische Feuer des ersten
eine wohlthätige Beruhigung, während umgekehrt die Männer der idealen
Forderung sür die betrachtenden und beschaulichen Ethnologen zur Aufrütte¬
lung oft sehr notwendig sind.

Man merkt schon, daß ich von einem Sorgenkinde Deutschlands, vom Elsaß
und den zweierlei Temperamenten seines Regierungssystems, sprechen möchte.
Vom litterarischen Jung-Elsaß soll die folgende Plauderei handeln; und da
unser kleines Land am Rhein politisch so hochgespannt ist, wird leider auch
das garstige Lied von der Politik notwendigerweise in die Hallen der Kunst
hcreintönen müssen.

In Straßburg ist eine Bewegung entstanden, die unter der Bezeichnung
"Elsässisches Theater" große Erfolge aufweisen darf. Sie soll uns hier näher
beschäftigen, weil sie in jeder Beziehung eine ganz eigentümliche und für
das Elsaß charakteristische Zeiterscheinung darstellt. Es handelt sich um die
plötzlich dort in der Südwestecke aufgeblühte oder auch aufgewucherte Dialekt¬
dichtung.

Nach unsrer ästhetischen Ansicht stehn wir diesem Gebiete nicht abgeneigt
gegenüber. Wir haben alle mit Thränen der Rührung und des Lachens,
selbst in Oberdeutschland, Fritz Reuter gelesen; wir kennen Hebels herzige
alemannische Gedichte; wir schätzen Groth, Holtet, Usteri, Arnold und so
manche andre. Wir wissen, daß manche gute Schnurre ihren ganzen Wert
verliert, wenn sie nicht in der drolligen, schalkhaften Mundart vorgetragen
wird; wir haben die Bemühungen Goethes, Herders, der Brüder Grimm um
Volkstum, um Märchen und Sage studiert; wir sind von der Notwendigkeit
einer sortwährenden Auffrischung und Bereicherung der Schriftsprache durch
die Mundart tief überzeugt. Wenn aus all diesen Erwägungen und Ver¬
gleichen heraus oder auch aus einer herzlichen Liebe zum Stamm und zum
Volke jene elsässische Bewegung erwachsen wäre, so dürfte man ihr Glück
wünschen und ihren Hauptvertretern -- Greber, Stoskopf, Hauß, Horsch, Bastian
und auch Schneegans*) -- frischweg die Hände schütteln. Wie ist das nun?



*) Schneegans, der Sohn des bekannten verstorbnen Schriftstellers, ist von der andern
Gruppe auszunehmen. Sein dramatisches Zeitbild "Der Pfingschtmondaa um bitt ze Daa"
(Strnßburg, Verlag von Karl I. Trübner) ist in seiner weitsichtigen Unbefangenheit, seiner
Herzenswärme, seiner treffsichern und gebildeten Chnrakterisierungsweise jetziger elsässischer Typen
ganz vortrefflich und jedem, der den heutigen Kulturzustnnd des Elsasses studiert, als durch
und durch echt zu empfehlen.
Vom litterarischen Jung-Elsaß

einem andern Standpunkte betrachten und lediglich feststellend bemerken: In
einem gewissen Zeitpunkt einer im einzelnen unkontrollierbaren Entwicklung
bricht der nationale, der stammestümliche Geist eines wachzurüttelnden Gaues
ganz von selbst aus. Und wenn geistige oder künstlerische Bewegungen lebendig
werden, so ist dies nur ein Anzeichen fortgeschrittner innerer Entwicklung.
Nun, beide Auffassungen haben ihre Berechtigung und müssen sich sogar er¬
gänzen; das Phlegma des zweiten ist für das reformatorische Feuer des ersten
eine wohlthätige Beruhigung, während umgekehrt die Männer der idealen
Forderung sür die betrachtenden und beschaulichen Ethnologen zur Aufrütte¬
lung oft sehr notwendig sind.

Man merkt schon, daß ich von einem Sorgenkinde Deutschlands, vom Elsaß
und den zweierlei Temperamenten seines Regierungssystems, sprechen möchte.
Vom litterarischen Jung-Elsaß soll die folgende Plauderei handeln; und da
unser kleines Land am Rhein politisch so hochgespannt ist, wird leider auch
das garstige Lied von der Politik notwendigerweise in die Hallen der Kunst
hcreintönen müssen.

In Straßburg ist eine Bewegung entstanden, die unter der Bezeichnung
„Elsässisches Theater" große Erfolge aufweisen darf. Sie soll uns hier näher
beschäftigen, weil sie in jeder Beziehung eine ganz eigentümliche und für
das Elsaß charakteristische Zeiterscheinung darstellt. Es handelt sich um die
plötzlich dort in der Südwestecke aufgeblühte oder auch aufgewucherte Dialekt¬
dichtung.

Nach unsrer ästhetischen Ansicht stehn wir diesem Gebiete nicht abgeneigt
gegenüber. Wir haben alle mit Thränen der Rührung und des Lachens,
selbst in Oberdeutschland, Fritz Reuter gelesen; wir kennen Hebels herzige
alemannische Gedichte; wir schätzen Groth, Holtet, Usteri, Arnold und so
manche andre. Wir wissen, daß manche gute Schnurre ihren ganzen Wert
verliert, wenn sie nicht in der drolligen, schalkhaften Mundart vorgetragen
wird; wir haben die Bemühungen Goethes, Herders, der Brüder Grimm um
Volkstum, um Märchen und Sage studiert; wir sind von der Notwendigkeit
einer sortwährenden Auffrischung und Bereicherung der Schriftsprache durch
die Mundart tief überzeugt. Wenn aus all diesen Erwägungen und Ver¬
gleichen heraus oder auch aus einer herzlichen Liebe zum Stamm und zum
Volke jene elsässische Bewegung erwachsen wäre, so dürfte man ihr Glück
wünschen und ihren Hauptvertretern — Greber, Stoskopf, Hauß, Horsch, Bastian
und auch Schneegans*) — frischweg die Hände schütteln. Wie ist das nun?



*) Schneegans, der Sohn des bekannten verstorbnen Schriftstellers, ist von der andern
Gruppe auszunehmen. Sein dramatisches Zeitbild „Der Pfingschtmondaa um bitt ze Daa"
(Strnßburg, Verlag von Karl I. Trübner) ist in seiner weitsichtigen Unbefangenheit, seiner
Herzenswärme, seiner treffsichern und gebildeten Chnrakterisierungsweise jetziger elsässischer Typen
ganz vortrefflich und jedem, der den heutigen Kulturzustnnd des Elsasses studiert, als durch
und durch echt zu empfehlen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/440>, abgerufen am 28.09.2024.