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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Über Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte

gehaltnen Angehörigen. Burckhardt findet sogar, in der ganzen Weltgeschichte
habe schwerlich eine andre Macht ihr Leben und Streben so furchtbar teuer
bezahlt, wie diese Polis, denn "in gleichem Maße mit der hohen geistigen Ent¬
wicklung der Hellenen muß auch die Empfindung für die Leiden gewachsen
sein, die sie einander zufügten." Wie kommt es denn, wird man fragen, daß
von diesem Unglück der lebendigen Menschen die Werke ihres Geistes nicht
mehr an sich gezogen haben? Wir finden darauf in dem Abschnitt über die
Gesamtbilanz des griechischen Lebens eine Art Antwort. Dort heißt es, un¬
geachtet des nicht etwa reflektierten, sondern ganz volkstümlichen und selbst¬
verständlichen Pessimismus der Griechen seien doch die Kräfte der Auserwühlten
in hoher Kunst und Dichtung "gewissermaßen immer optimistisch gewesen."
Es habe sich mit andern Worten "für Künstler, Dichter und Denker immer
der Mühe gelohnt, dieser Welt, wie sie auch sein mochte, mit mächtigen
Schöpfungen gegenüber zu treten. Wie düster sie persönlich vom Erdenleben
gedacht haben mögen, ihre Energie verzichtet niemals darauf, freie und große
Bilder von dem, was in uns lebt, ans Licht hervorzuschaffen," Dann hätte
also wirklich einmal die Muse die Griechen geleitet und im Unglück empor¬
gerichtet, was sie uach Goethes und aller Christenmenschen Meinung bekannt¬
lich nicht mehr kann, und daß es der religiöse Glaube bei den Griechen auch
nicht gekonnt hat, werden wir nachher von Burckhardt selber hören. Wir
wollen das Problem und die Frage, ob überhaupt eine solche "Gesamtbilanz"
gezogen werden könne, hier nicht verfolgen und einstweilen nur feststellen, daß
das Unglück des griechischen Individuums, der Privatcxistenzen ans Burckhardt
einen tiefen Eindruck gemacht hat. Dieses unheimlich düstere Gemälde der
allgewaltigen Polis hat etwas Anziehendes und für eindrucksfähige Leser
geradezu Berückendes, und in solchen Allgemeinschildernngcn liegt dieses großen
Schriftstellers Stärke. Ist aber diese aus unendlich vielen Einzelheiten ab¬
strahierte Polis nicht vielleicht doch mehr ein wirkungsvolles Gedankengebilde,
als eine wirkliche "Potenz," wie sie öfter mit einem Rankischen Lieblings¬
ausdruck bezeichnet wird?

Genaueres wissen wir ja doch nur über die Stcidtgcmeinden Sparta und
Athen. Dieses ist bei Burckhardt in eine historische Übersicht: "Die Polis in
ihrer geschichtlichen Entwicklung" hineingearbeitet, wie wir sie auch in unsern
Handbüchern der Altertümer zu finden pflegen, nur sind diese viel reicher im
Detail, dafür erfreut uns Burckhardt durch manche belebende Bemerkung.
Was den Fachgelehrten bis auf den heutigen Tag ungelöste Rätsel sind, die
spartanische Wehrverfassung, die Landfrage, der sogenannte Lykurg, das hat
ihm keine Sorgen gemacht, er erwähnt es nach der ersten besten Quelle -- im
Sinne der Vulgata, so hätte er selbst das Wohl nennen können -- und knüpft
daran Betrachtungen, die mehr Wert haben, als was man sachliches bei ihm
finden könnte. Zum Beispiel: "es ist noch niemals gelinde zugegangen, wenn


Über Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte

gehaltnen Angehörigen. Burckhardt findet sogar, in der ganzen Weltgeschichte
habe schwerlich eine andre Macht ihr Leben und Streben so furchtbar teuer
bezahlt, wie diese Polis, denn „in gleichem Maße mit der hohen geistigen Ent¬
wicklung der Hellenen muß auch die Empfindung für die Leiden gewachsen
sein, die sie einander zufügten." Wie kommt es denn, wird man fragen, daß
von diesem Unglück der lebendigen Menschen die Werke ihres Geistes nicht
mehr an sich gezogen haben? Wir finden darauf in dem Abschnitt über die
Gesamtbilanz des griechischen Lebens eine Art Antwort. Dort heißt es, un¬
geachtet des nicht etwa reflektierten, sondern ganz volkstümlichen und selbst¬
verständlichen Pessimismus der Griechen seien doch die Kräfte der Auserwühlten
in hoher Kunst und Dichtung „gewissermaßen immer optimistisch gewesen."
Es habe sich mit andern Worten „für Künstler, Dichter und Denker immer
der Mühe gelohnt, dieser Welt, wie sie auch sein mochte, mit mächtigen
Schöpfungen gegenüber zu treten. Wie düster sie persönlich vom Erdenleben
gedacht haben mögen, ihre Energie verzichtet niemals darauf, freie und große
Bilder von dem, was in uns lebt, ans Licht hervorzuschaffen," Dann hätte
also wirklich einmal die Muse die Griechen geleitet und im Unglück empor¬
gerichtet, was sie uach Goethes und aller Christenmenschen Meinung bekannt¬
lich nicht mehr kann, und daß es der religiöse Glaube bei den Griechen auch
nicht gekonnt hat, werden wir nachher von Burckhardt selber hören. Wir
wollen das Problem und die Frage, ob überhaupt eine solche „Gesamtbilanz"
gezogen werden könne, hier nicht verfolgen und einstweilen nur feststellen, daß
das Unglück des griechischen Individuums, der Privatcxistenzen ans Burckhardt
einen tiefen Eindruck gemacht hat. Dieses unheimlich düstere Gemälde der
allgewaltigen Polis hat etwas Anziehendes und für eindrucksfähige Leser
geradezu Berückendes, und in solchen Allgemeinschildernngcn liegt dieses großen
Schriftstellers Stärke. Ist aber diese aus unendlich vielen Einzelheiten ab¬
strahierte Polis nicht vielleicht doch mehr ein wirkungsvolles Gedankengebilde,
als eine wirkliche „Potenz," wie sie öfter mit einem Rankischen Lieblings¬
ausdruck bezeichnet wird?

Genaueres wissen wir ja doch nur über die Stcidtgcmeinden Sparta und
Athen. Dieses ist bei Burckhardt in eine historische Übersicht: „Die Polis in
ihrer geschichtlichen Entwicklung" hineingearbeitet, wie wir sie auch in unsern
Handbüchern der Altertümer zu finden pflegen, nur sind diese viel reicher im
Detail, dafür erfreut uns Burckhardt durch manche belebende Bemerkung.
Was den Fachgelehrten bis auf den heutigen Tag ungelöste Rätsel sind, die
spartanische Wehrverfassung, die Landfrage, der sogenannte Lykurg, das hat
ihm keine Sorgen gemacht, er erwähnt es nach der ersten besten Quelle — im
Sinne der Vulgata, so hätte er selbst das Wohl nennen können — und knüpft
daran Betrachtungen, die mehr Wert haben, als was man sachliches bei ihm
finden könnte. Zum Beispiel: „es ist noch niemals gelinde zugegangen, wenn


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[0044] Über Jakob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte gehaltnen Angehörigen. Burckhardt findet sogar, in der ganzen Weltgeschichte habe schwerlich eine andre Macht ihr Leben und Streben so furchtbar teuer bezahlt, wie diese Polis, denn „in gleichem Maße mit der hohen geistigen Ent¬ wicklung der Hellenen muß auch die Empfindung für die Leiden gewachsen sein, die sie einander zufügten." Wie kommt es denn, wird man fragen, daß von diesem Unglück der lebendigen Menschen die Werke ihres Geistes nicht mehr an sich gezogen haben? Wir finden darauf in dem Abschnitt über die Gesamtbilanz des griechischen Lebens eine Art Antwort. Dort heißt es, un¬ geachtet des nicht etwa reflektierten, sondern ganz volkstümlichen und selbst¬ verständlichen Pessimismus der Griechen seien doch die Kräfte der Auserwühlten in hoher Kunst und Dichtung „gewissermaßen immer optimistisch gewesen." Es habe sich mit andern Worten „für Künstler, Dichter und Denker immer der Mühe gelohnt, dieser Welt, wie sie auch sein mochte, mit mächtigen Schöpfungen gegenüber zu treten. Wie düster sie persönlich vom Erdenleben gedacht haben mögen, ihre Energie verzichtet niemals darauf, freie und große Bilder von dem, was in uns lebt, ans Licht hervorzuschaffen," Dann hätte also wirklich einmal die Muse die Griechen geleitet und im Unglück empor¬ gerichtet, was sie uach Goethes und aller Christenmenschen Meinung bekannt¬ lich nicht mehr kann, und daß es der religiöse Glaube bei den Griechen auch nicht gekonnt hat, werden wir nachher von Burckhardt selber hören. Wir wollen das Problem und die Frage, ob überhaupt eine solche „Gesamtbilanz" gezogen werden könne, hier nicht verfolgen und einstweilen nur feststellen, daß das Unglück des griechischen Individuums, der Privatcxistenzen ans Burckhardt einen tiefen Eindruck gemacht hat. Dieses unheimlich düstere Gemälde der allgewaltigen Polis hat etwas Anziehendes und für eindrucksfähige Leser geradezu Berückendes, und in solchen Allgemeinschildernngcn liegt dieses großen Schriftstellers Stärke. Ist aber diese aus unendlich vielen Einzelheiten ab¬ strahierte Polis nicht vielleicht doch mehr ein wirkungsvolles Gedankengebilde, als eine wirkliche „Potenz," wie sie öfter mit einem Rankischen Lieblings¬ ausdruck bezeichnet wird? Genaueres wissen wir ja doch nur über die Stcidtgcmeinden Sparta und Athen. Dieses ist bei Burckhardt in eine historische Übersicht: „Die Polis in ihrer geschichtlichen Entwicklung" hineingearbeitet, wie wir sie auch in unsern Handbüchern der Altertümer zu finden pflegen, nur sind diese viel reicher im Detail, dafür erfreut uns Burckhardt durch manche belebende Bemerkung. Was den Fachgelehrten bis auf den heutigen Tag ungelöste Rätsel sind, die spartanische Wehrverfassung, die Landfrage, der sogenannte Lykurg, das hat ihm keine Sorgen gemacht, er erwähnt es nach der ersten besten Quelle — im Sinne der Vulgata, so hätte er selbst das Wohl nennen können — und knüpft daran Betrachtungen, die mehr Wert haben, als was man sachliches bei ihm finden könnte. Zum Beispiel: „es ist noch niemals gelinde zugegangen, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/44>, abgerufen am 28.09.2024.