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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Aus den schwarzen Bergen

stehenden Soldaten überfallen, entkleidet und unglaublich verstümmelt Mieder
zu ihrer Truppe zurückgeschickt wurden. Noch im letzten Kriege wurden ge¬
fangnen Türken Nasen, Ohren und Lippen abgeschnitten.

Wenn auf der andern Seite die persönliche Tapferkeit der Montenegriner
wohl außer Frage steht, so ist ihre vermeintliche Unbesiegbarkeit eine schone
Fabel, die Dichter wie Tennyson zu schönen Versen, ähnlich den Müllerschen
Griechenliedern, begeistern kann, die aber historisch nicht zu erhärten ist. Zwei¬
mal hatten die Türken sogar Cetinje erobert und niedergebrannt, und nur dein
unfruchtbaren Lande, das einer Armee, selbst wenn sie im Guerillakriege gesiegt
haben sollte, keinerlei Subsistenzmittel bietet, sowie dem Einspruch Europas ver¬
danken die Bergessöhne ihre Freiheit. Der Kampf der Drusen gegen Kreuzfahrer,
arabische Kalifen, türkische Sultane im Libanon, der der Kabylen des Atlas gegen
die Franzosen, der der Afridis gegen die Engländer in den Kälber- und Kohat-
püssen beweisen die Schwierigkeit der Invasion eines Berglandes, und wenn
sich die Russen nach jahrzehntelanger Mühe Tscherkessen, Tschetschenzen und
Lesghier im Kaukasus unterworfen haben, so verdanken sie den Erfolg sowohl
der Tapferkeit der roten Kosakenlanze, als den Segesten unter den Gebirgs-
völkern, die das rote Gold der Fremdlinge bestach. Im übrigen scheint unsre
erbarmungslos fortschreitende Technik selbst der Unabhängigkeit freier Berge
den Garaus machen zu wollen. Heute fürchtet die Tschernagora nicht so sehr
die Türkei, als Österreich. Wenn Herr Gladstone*) prophezeite, daß kein
österreichischer Adler je seinen Horst hier oben bauen würde, hat er vielleicht
nicht gebührend der Maximgeschütze und Nordenfelt - Mitrailleusen gedacht.
Die serbischen Dichter berichten, daß der Königssohn Marko, des homerischen
Kampfes zwischen Mann und Mann gewohnt, beim Anblick der ersten Feuer¬
röhre, die selbst ein schwaches Weib auf einen Helden abdrücken könne, unwillig
sein braves Schwert in die Scheide gesteckt und sich zurückgezogen habe von
Kampf und Versammlung, um einsam auf den Bergen zu sterben. Sollte
durch die moderne Kugelspritze mit 1200 Schüssen in der Minute die halb-
verschollne Mär noch einmal zur Wahrheit werden?

Doch wurde dem patriotischen Gaste gegenüber keinerlei Meinungsver¬
schiedenheit laut. In erhöhter Stimmung und dankbar für die lebhafte Er¬
zählung machten wir vielmehr, seinem Vorschlage folgend, noch einen kleinen
nächtlichen Spaziergang durch Cetinje, der Dichtern von Romanzen und
Balladen und solchen, die wie der Knabe in der Fabel das Gruseln lernen
wollen, hiermit empfohlen sei. Es ging an einer Kirche vorbei, deren um¬
schließendes Gitter gänzlich aus türkische" Bajonetten hergestellt ist, auf einen
Felsenvorsprung im Süden des Thalkessels von Cetinje zu, den der alte sich



"1 'l'Ko Mnstovnw l?vilen>',v Vol. 1, >>, 360--87!). S. Tennysons feuriges Gedicht auf
Montenegro S. ..... .'
Aus den schwarzen Bergen

stehenden Soldaten überfallen, entkleidet und unglaublich verstümmelt Mieder
zu ihrer Truppe zurückgeschickt wurden. Noch im letzten Kriege wurden ge¬
fangnen Türken Nasen, Ohren und Lippen abgeschnitten.

Wenn auf der andern Seite die persönliche Tapferkeit der Montenegriner
wohl außer Frage steht, so ist ihre vermeintliche Unbesiegbarkeit eine schone
Fabel, die Dichter wie Tennyson zu schönen Versen, ähnlich den Müllerschen
Griechenliedern, begeistern kann, die aber historisch nicht zu erhärten ist. Zwei¬
mal hatten die Türken sogar Cetinje erobert und niedergebrannt, und nur dein
unfruchtbaren Lande, das einer Armee, selbst wenn sie im Guerillakriege gesiegt
haben sollte, keinerlei Subsistenzmittel bietet, sowie dem Einspruch Europas ver¬
danken die Bergessöhne ihre Freiheit. Der Kampf der Drusen gegen Kreuzfahrer,
arabische Kalifen, türkische Sultane im Libanon, der der Kabylen des Atlas gegen
die Franzosen, der der Afridis gegen die Engländer in den Kälber- und Kohat-
püssen beweisen die Schwierigkeit der Invasion eines Berglandes, und wenn
sich die Russen nach jahrzehntelanger Mühe Tscherkessen, Tschetschenzen und
Lesghier im Kaukasus unterworfen haben, so verdanken sie den Erfolg sowohl
der Tapferkeit der roten Kosakenlanze, als den Segesten unter den Gebirgs-
völkern, die das rote Gold der Fremdlinge bestach. Im übrigen scheint unsre
erbarmungslos fortschreitende Technik selbst der Unabhängigkeit freier Berge
den Garaus machen zu wollen. Heute fürchtet die Tschernagora nicht so sehr
die Türkei, als Österreich. Wenn Herr Gladstone*) prophezeite, daß kein
österreichischer Adler je seinen Horst hier oben bauen würde, hat er vielleicht
nicht gebührend der Maximgeschütze und Nordenfelt - Mitrailleusen gedacht.
Die serbischen Dichter berichten, daß der Königssohn Marko, des homerischen
Kampfes zwischen Mann und Mann gewohnt, beim Anblick der ersten Feuer¬
röhre, die selbst ein schwaches Weib auf einen Helden abdrücken könne, unwillig
sein braves Schwert in die Scheide gesteckt und sich zurückgezogen habe von
Kampf und Versammlung, um einsam auf den Bergen zu sterben. Sollte
durch die moderne Kugelspritze mit 1200 Schüssen in der Minute die halb-
verschollne Mär noch einmal zur Wahrheit werden?

Doch wurde dem patriotischen Gaste gegenüber keinerlei Meinungsver¬
schiedenheit laut. In erhöhter Stimmung und dankbar für die lebhafte Er¬
zählung machten wir vielmehr, seinem Vorschlage folgend, noch einen kleinen
nächtlichen Spaziergang durch Cetinje, der Dichtern von Romanzen und
Balladen und solchen, die wie der Knabe in der Fabel das Gruseln lernen
wollen, hiermit empfohlen sei. Es ging an einer Kirche vorbei, deren um¬
schließendes Gitter gänzlich aus türkische« Bajonetten hergestellt ist, auf einen
Felsenvorsprung im Süden des Thalkessels von Cetinje zu, den der alte sich



"1 'l'Ko Mnstovnw l?vilen>',v Vol. 1, >>, 360—87!). S. Tennysons feuriges Gedicht auf
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[0438] Aus den schwarzen Bergen stehenden Soldaten überfallen, entkleidet und unglaublich verstümmelt Mieder zu ihrer Truppe zurückgeschickt wurden. Noch im letzten Kriege wurden ge¬ fangnen Türken Nasen, Ohren und Lippen abgeschnitten. Wenn auf der andern Seite die persönliche Tapferkeit der Montenegriner wohl außer Frage steht, so ist ihre vermeintliche Unbesiegbarkeit eine schone Fabel, die Dichter wie Tennyson zu schönen Versen, ähnlich den Müllerschen Griechenliedern, begeistern kann, die aber historisch nicht zu erhärten ist. Zwei¬ mal hatten die Türken sogar Cetinje erobert und niedergebrannt, und nur dein unfruchtbaren Lande, das einer Armee, selbst wenn sie im Guerillakriege gesiegt haben sollte, keinerlei Subsistenzmittel bietet, sowie dem Einspruch Europas ver¬ danken die Bergessöhne ihre Freiheit. Der Kampf der Drusen gegen Kreuzfahrer, arabische Kalifen, türkische Sultane im Libanon, der der Kabylen des Atlas gegen die Franzosen, der der Afridis gegen die Engländer in den Kälber- und Kohat- püssen beweisen die Schwierigkeit der Invasion eines Berglandes, und wenn sich die Russen nach jahrzehntelanger Mühe Tscherkessen, Tschetschenzen und Lesghier im Kaukasus unterworfen haben, so verdanken sie den Erfolg sowohl der Tapferkeit der roten Kosakenlanze, als den Segesten unter den Gebirgs- völkern, die das rote Gold der Fremdlinge bestach. Im übrigen scheint unsre erbarmungslos fortschreitende Technik selbst der Unabhängigkeit freier Berge den Garaus machen zu wollen. Heute fürchtet die Tschernagora nicht so sehr die Türkei, als Österreich. Wenn Herr Gladstone*) prophezeite, daß kein österreichischer Adler je seinen Horst hier oben bauen würde, hat er vielleicht nicht gebührend der Maximgeschütze und Nordenfelt - Mitrailleusen gedacht. Die serbischen Dichter berichten, daß der Königssohn Marko, des homerischen Kampfes zwischen Mann und Mann gewohnt, beim Anblick der ersten Feuer¬ röhre, die selbst ein schwaches Weib auf einen Helden abdrücken könne, unwillig sein braves Schwert in die Scheide gesteckt und sich zurückgezogen habe von Kampf und Versammlung, um einsam auf den Bergen zu sterben. Sollte durch die moderne Kugelspritze mit 1200 Schüssen in der Minute die halb- verschollne Mär noch einmal zur Wahrheit werden? Doch wurde dem patriotischen Gaste gegenüber keinerlei Meinungsver¬ schiedenheit laut. In erhöhter Stimmung und dankbar für die lebhafte Er¬ zählung machten wir vielmehr, seinem Vorschlage folgend, noch einen kleinen nächtlichen Spaziergang durch Cetinje, der Dichtern von Romanzen und Balladen und solchen, die wie der Knabe in der Fabel das Gruseln lernen wollen, hiermit empfohlen sei. Es ging an einer Kirche vorbei, deren um¬ schließendes Gitter gänzlich aus türkische« Bajonetten hergestellt ist, auf einen Felsenvorsprung im Süden des Thalkessels von Cetinje zu, den der alte sich "1 'l'Ko Mnstovnw l?vilen>',v Vol. 1, >>, 360—87!). S. Tennysons feuriges Gedicht auf Montenegro S. ..... .'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/438>, abgerufen am 28.09.2024.