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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Italien und die Italiener

brille ihres Führers für viele Menschen unvermeidlich ist, da sie ihre eignen
Sehwerkzeuge nicht in der Schnelligkeit auf die Linien und Farben eines Giotto
oder Tizian einzustellen vermögen, ist es mit dem politischen Urteil über
Land und Volk eine andre Sache. Jeder gesunde Menschenverstand kann dazu
kommen. Auch hängt praktisch nichts davon ab, ob ich die Schönheit eines
Kunstwerkes ganz empfinde und verstehe oder nicht; dagegen ist es praktisch
wichtig, daß ich die Hilfsquelle" eines Landes und den Charakter eines Volkes
verstehe, die mit meinem eigne" Land und Volk in engen Beziehungen stehen.
Ich will nicht an die deutschen Besitzer italienischer Rente und Eisenbahn-
Papiere erinnern, die hilflos zwischen den pessimistischen und optimistischen Be¬
urteilungen des italienischen Staatskredits stehen. Wohl aber darf darauf
hingewiesen werden, daß die Frage nach der Lebenskraft Italiens eine euro¬
päische Frage ist. Wer möchte sich die europäische Staatengesellschaft mit
einem in Mittel- oder Kleinstaaten zerfallnen Italien vorstellen? Die Italm
unita ist eine der Bedingungen des verhältnismäßig gesunden Zustandes, worin
sich Europa seit einem Menschenalter befindet. Von dem Wohlsein Italiens
hängt ein Teil der Gesundheit Europas ab.

P. D. Fischer kennt Italien seit bald vierzig Jahren. Er hat seine
persönlichen Erfahrungen, die er zum Teil in den leitenden Kreisen Roms ge¬
sammelt hat, durch Studien in der Litteratur vertieft. Vorzüglich scheinen
ihm die italienischen Werke über Verwaltung, Statistik, Parlament, Wirtschafts¬
leben in ausgedehntem Maße bekannt geworden zu sein. Darin scheint er alle
andern neuern Beurteiler Italiens zu übertreffen. Sein Buch ist auch sehr
umfassend, vergißt fast nichts. Die beiden einleitenden Kapitel geben die geo¬
graphischen und historischen Grundzüge; an sie reihen sich die Abschnitte:
Organisation der Staatsverwaltung, Parlament, Wehrkraft, Finanzen, Land¬
wirtschaft, Industrie und Handel, Verkehrswesen, Unterricht und Volkserziehung
wie die Kapitel eines Staatshandbuchs. Den Beschluß machen Versuche über
Volkstum und Volkscharakter, soziale Gegensätze und Ausgleichungen, Italien
und der Papst, Rom. Das Ganze ist trotz des zum Teil trocknen Stoffes,
und obgleich mit statistischen Zahlen nicht gekargt wird, so gut geschrieben,
daß es keinem eine Überwindung kosten wird, das Buch von Anfang bis
zu Ende zu lesen. Mancher Darlegung folgt man mit Spannung, und ein
liebenswürdiger Humor verschönt trockne Auseinandersetzungen.

Dennoch meine ich vorauszusehen, daß nicht jeder mit voller Befriedigung
das Buch aus der Hemd legen wird. Liegt es in der Nichtübereinstimmung
des Fazit, das der Leser zieht, mit dem des Verfassers? Oder in dem Un¬
erfreulichen, das der Darstellung eines mit vielen starken Mängeln behafteten
Staatswesens anhaftet? Ich glaube in beiden. Ich bin dem Verfasser
dankbar, daß er das Buch geschrieben hat, das ich für eins der nützlichsten
halte, die in diesem Augenblicke dem deutschen Publikum über einen Gegenstand


Italien und die Italiener

brille ihres Führers für viele Menschen unvermeidlich ist, da sie ihre eignen
Sehwerkzeuge nicht in der Schnelligkeit auf die Linien und Farben eines Giotto
oder Tizian einzustellen vermögen, ist es mit dem politischen Urteil über
Land und Volk eine andre Sache. Jeder gesunde Menschenverstand kann dazu
kommen. Auch hängt praktisch nichts davon ab, ob ich die Schönheit eines
Kunstwerkes ganz empfinde und verstehe oder nicht; dagegen ist es praktisch
wichtig, daß ich die Hilfsquelle» eines Landes und den Charakter eines Volkes
verstehe, die mit meinem eigne» Land und Volk in engen Beziehungen stehen.
Ich will nicht an die deutschen Besitzer italienischer Rente und Eisenbahn-
Papiere erinnern, die hilflos zwischen den pessimistischen und optimistischen Be¬
urteilungen des italienischen Staatskredits stehen. Wohl aber darf darauf
hingewiesen werden, daß die Frage nach der Lebenskraft Italiens eine euro¬
päische Frage ist. Wer möchte sich die europäische Staatengesellschaft mit
einem in Mittel- oder Kleinstaaten zerfallnen Italien vorstellen? Die Italm
unita ist eine der Bedingungen des verhältnismäßig gesunden Zustandes, worin
sich Europa seit einem Menschenalter befindet. Von dem Wohlsein Italiens
hängt ein Teil der Gesundheit Europas ab.

P. D. Fischer kennt Italien seit bald vierzig Jahren. Er hat seine
persönlichen Erfahrungen, die er zum Teil in den leitenden Kreisen Roms ge¬
sammelt hat, durch Studien in der Litteratur vertieft. Vorzüglich scheinen
ihm die italienischen Werke über Verwaltung, Statistik, Parlament, Wirtschafts¬
leben in ausgedehntem Maße bekannt geworden zu sein. Darin scheint er alle
andern neuern Beurteiler Italiens zu übertreffen. Sein Buch ist auch sehr
umfassend, vergißt fast nichts. Die beiden einleitenden Kapitel geben die geo¬
graphischen und historischen Grundzüge; an sie reihen sich die Abschnitte:
Organisation der Staatsverwaltung, Parlament, Wehrkraft, Finanzen, Land¬
wirtschaft, Industrie und Handel, Verkehrswesen, Unterricht und Volkserziehung
wie die Kapitel eines Staatshandbuchs. Den Beschluß machen Versuche über
Volkstum und Volkscharakter, soziale Gegensätze und Ausgleichungen, Italien
und der Papst, Rom. Das Ganze ist trotz des zum Teil trocknen Stoffes,
und obgleich mit statistischen Zahlen nicht gekargt wird, so gut geschrieben,
daß es keinem eine Überwindung kosten wird, das Buch von Anfang bis
zu Ende zu lesen. Mancher Darlegung folgt man mit Spannung, und ein
liebenswürdiger Humor verschönt trockne Auseinandersetzungen.

Dennoch meine ich vorauszusehen, daß nicht jeder mit voller Befriedigung
das Buch aus der Hemd legen wird. Liegt es in der Nichtübereinstimmung
des Fazit, das der Leser zieht, mit dem des Verfassers? Oder in dem Un¬
erfreulichen, das der Darstellung eines mit vielen starken Mängeln behafteten
Staatswesens anhaftet? Ich glaube in beiden. Ich bin dem Verfasser
dankbar, daß er das Buch geschrieben hat, das ich für eins der nützlichsten
halte, die in diesem Augenblicke dem deutschen Publikum über einen Gegenstand


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/424>, abgerufen am 28.09.2024.