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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie

marxischen Ideals, eine Verelendung der Massen, die den wirtschaftlichen Zu-
sammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft zur Folge haben müßte, so steht es
nicht minder schlecht um die beiden positiven Bedingungen: die Konzentration
der Betriebe und die große Revolution, die dem Proletariat zur politischen
Herrschaft verhelfen soll. Über den ersten Punkt brauchen wir uns nicht
weiter zu verbreiten, da ja in den Grenzboten oft genug gezeigt worden ist,
wie unbegründet die Hoffnungen der einen und die Befürchtungen der andern
wegen des angeblich schwindenden Mittelstandes, des Standes der Bauern
und der kleinen selbständigen Gewerbtreibenden sind. Es ist aber interessant,
solche Ausführungen in einer Schrift eines Sozialistenführers zu finden.
Bernstein glaubt nicht einmal, daß die Krämerschaft durch die Warenhäuser
ernstlich bedroht werde. Er leugnet nicht, daß der Handel vielfach parasitisch
sei. obwohl er die Anklagen gegen ihn für übertrieben hält. Indes, schreibt
er, "die Großproduktion und der sich stetig steigernde Weltverkehr werfen immer
größere Mengen von Gebrauchsgütern auf deu Markt, die in irgend einer
Weise den Konsumenten zugeführt sein wollen. Daß dies mit weniger Arbeits¬
und Kostenaufwand geschehen könne als durch den derzeitigen Zwischenhandel,
wer wollte das leugnen? Aber solange es nicht geschieht, wird dieser auch
leben. Und wie es Illusion ist, von der Großindustrie zu erwarten, daß sie
in absehbarer Zeit die kleinen und Mittelbetriebe bis auf einen unbedeutenden
Nest aufsaugen werde, so ist es auch utopisch, von den kapitalistischen Warm¬
häusern eine nennenswerte Aufsaugung der mittlern und kleinen Luder zu er¬
warten. Sie schädigen einzelne Geschäfte und bringen hier und da zeitweise
den ganzen Kleinhandel in Verwirrung. Aber nach einer Weile findet sich
doch ein Weg, mit den Großen zu konkurrieren und alle Vorteile auszunutzen,
die örtliche Beziehungen ihm bieten. Neue Spezialisierungen und neue Kombi¬
nierung von Geschäften bilden sich aus/) neue Formen und Methoden des
Geschäftsbetriebs. Das kapitalistische Warenhaus ist vorläufig weit mehr ein
Produkt der großen Zunahme des Warenreichtums als ein Werkzeug der Ver¬
nichtung des parasitischen Kleinhandels, hat mehr darauf hingewirkt, diesen
aus seinem Schlendrian aufzurütteln und ihm gewisse monopolistische Gepflogen¬
heiten abzugewöhnen, als ihn auszurotten."

Ist demnach an die Vernichtung aller mittlern und kleinen Betriebe, die
gleichbedeutend wäre mit der Verwandlung ihrer jetzigen Inhaber in "Prole¬
tarier," nicht zu denken, so hat das Proletariat auch keine Aussicht, in den
Besitz der politischen Macht zu gelangen, denn dazu bedürfte es doch vor allem
der Mehrheit. Mit der Mehrheit wäre, was Bernstein zu bemerken unter¬
läßt, auch noch nicht viel gewonnen, so lange die Minderheit im Besitz



Unter den Spezialisierungen wären die Klempnereien zu nennen, deren Laden aus¬
schließlich Lampen oder Badeeinrichtungen führen, unter den Kombinationen die der Spenqler-
waren mit akustischen Instrumenten, die der Uhren und Brille" in einem Laden.
Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie

marxischen Ideals, eine Verelendung der Massen, die den wirtschaftlichen Zu-
sammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft zur Folge haben müßte, so steht es
nicht minder schlecht um die beiden positiven Bedingungen: die Konzentration
der Betriebe und die große Revolution, die dem Proletariat zur politischen
Herrschaft verhelfen soll. Über den ersten Punkt brauchen wir uns nicht
weiter zu verbreiten, da ja in den Grenzboten oft genug gezeigt worden ist,
wie unbegründet die Hoffnungen der einen und die Befürchtungen der andern
wegen des angeblich schwindenden Mittelstandes, des Standes der Bauern
und der kleinen selbständigen Gewerbtreibenden sind. Es ist aber interessant,
solche Ausführungen in einer Schrift eines Sozialistenführers zu finden.
Bernstein glaubt nicht einmal, daß die Krämerschaft durch die Warenhäuser
ernstlich bedroht werde. Er leugnet nicht, daß der Handel vielfach parasitisch
sei. obwohl er die Anklagen gegen ihn für übertrieben hält. Indes, schreibt
er, „die Großproduktion und der sich stetig steigernde Weltverkehr werfen immer
größere Mengen von Gebrauchsgütern auf deu Markt, die in irgend einer
Weise den Konsumenten zugeführt sein wollen. Daß dies mit weniger Arbeits¬
und Kostenaufwand geschehen könne als durch den derzeitigen Zwischenhandel,
wer wollte das leugnen? Aber solange es nicht geschieht, wird dieser auch
leben. Und wie es Illusion ist, von der Großindustrie zu erwarten, daß sie
in absehbarer Zeit die kleinen und Mittelbetriebe bis auf einen unbedeutenden
Nest aufsaugen werde, so ist es auch utopisch, von den kapitalistischen Warm¬
häusern eine nennenswerte Aufsaugung der mittlern und kleinen Luder zu er¬
warten. Sie schädigen einzelne Geschäfte und bringen hier und da zeitweise
den ganzen Kleinhandel in Verwirrung. Aber nach einer Weile findet sich
doch ein Weg, mit den Großen zu konkurrieren und alle Vorteile auszunutzen,
die örtliche Beziehungen ihm bieten. Neue Spezialisierungen und neue Kombi¬
nierung von Geschäften bilden sich aus/) neue Formen und Methoden des
Geschäftsbetriebs. Das kapitalistische Warenhaus ist vorläufig weit mehr ein
Produkt der großen Zunahme des Warenreichtums als ein Werkzeug der Ver¬
nichtung des parasitischen Kleinhandels, hat mehr darauf hingewirkt, diesen
aus seinem Schlendrian aufzurütteln und ihm gewisse monopolistische Gepflogen¬
heiten abzugewöhnen, als ihn auszurotten."

Ist demnach an die Vernichtung aller mittlern und kleinen Betriebe, die
gleichbedeutend wäre mit der Verwandlung ihrer jetzigen Inhaber in „Prole¬
tarier," nicht zu denken, so hat das Proletariat auch keine Aussicht, in den
Besitz der politischen Macht zu gelangen, denn dazu bedürfte es doch vor allem
der Mehrheit. Mit der Mehrheit wäre, was Bernstein zu bemerken unter¬
läßt, auch noch nicht viel gewonnen, so lange die Minderheit im Besitz



Unter den Spezialisierungen wären die Klempnereien zu nennen, deren Laden aus¬
schließlich Lampen oder Badeeinrichtungen führen, unter den Kombinationen die der Spenqler-
waren mit akustischen Instrumenten, die der Uhren und Brille» in einem Laden.
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[0405] Eduard Bernstein und die deutsche Sozialdemokratie marxischen Ideals, eine Verelendung der Massen, die den wirtschaftlichen Zu- sammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft zur Folge haben müßte, so steht es nicht minder schlecht um die beiden positiven Bedingungen: die Konzentration der Betriebe und die große Revolution, die dem Proletariat zur politischen Herrschaft verhelfen soll. Über den ersten Punkt brauchen wir uns nicht weiter zu verbreiten, da ja in den Grenzboten oft genug gezeigt worden ist, wie unbegründet die Hoffnungen der einen und die Befürchtungen der andern wegen des angeblich schwindenden Mittelstandes, des Standes der Bauern und der kleinen selbständigen Gewerbtreibenden sind. Es ist aber interessant, solche Ausführungen in einer Schrift eines Sozialistenführers zu finden. Bernstein glaubt nicht einmal, daß die Krämerschaft durch die Warenhäuser ernstlich bedroht werde. Er leugnet nicht, daß der Handel vielfach parasitisch sei. obwohl er die Anklagen gegen ihn für übertrieben hält. Indes, schreibt er, „die Großproduktion und der sich stetig steigernde Weltverkehr werfen immer größere Mengen von Gebrauchsgütern auf deu Markt, die in irgend einer Weise den Konsumenten zugeführt sein wollen. Daß dies mit weniger Arbeits¬ und Kostenaufwand geschehen könne als durch den derzeitigen Zwischenhandel, wer wollte das leugnen? Aber solange es nicht geschieht, wird dieser auch leben. Und wie es Illusion ist, von der Großindustrie zu erwarten, daß sie in absehbarer Zeit die kleinen und Mittelbetriebe bis auf einen unbedeutenden Nest aufsaugen werde, so ist es auch utopisch, von den kapitalistischen Warm¬ häusern eine nennenswerte Aufsaugung der mittlern und kleinen Luder zu er¬ warten. Sie schädigen einzelne Geschäfte und bringen hier und da zeitweise den ganzen Kleinhandel in Verwirrung. Aber nach einer Weile findet sich doch ein Weg, mit den Großen zu konkurrieren und alle Vorteile auszunutzen, die örtliche Beziehungen ihm bieten. Neue Spezialisierungen und neue Kombi¬ nierung von Geschäften bilden sich aus/) neue Formen und Methoden des Geschäftsbetriebs. Das kapitalistische Warenhaus ist vorläufig weit mehr ein Produkt der großen Zunahme des Warenreichtums als ein Werkzeug der Ver¬ nichtung des parasitischen Kleinhandels, hat mehr darauf hingewirkt, diesen aus seinem Schlendrian aufzurütteln und ihm gewisse monopolistische Gepflogen¬ heiten abzugewöhnen, als ihn auszurotten." Ist demnach an die Vernichtung aller mittlern und kleinen Betriebe, die gleichbedeutend wäre mit der Verwandlung ihrer jetzigen Inhaber in „Prole¬ tarier," nicht zu denken, so hat das Proletariat auch keine Aussicht, in den Besitz der politischen Macht zu gelangen, denn dazu bedürfte es doch vor allem der Mehrheit. Mit der Mehrheit wäre, was Bernstein zu bemerken unter¬ läßt, auch noch nicht viel gewonnen, so lange die Minderheit im Besitz Unter den Spezialisierungen wären die Klempnereien zu nennen, deren Laden aus¬ schließlich Lampen oder Badeeinrichtungen führen, unter den Kombinationen die der Spenqler- waren mit akustischen Instrumenten, die der Uhren und Brille» in einem Laden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/405>, abgerufen am 28.09.2024.