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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Eduard Bernstein und die deutsche Zozialdemokratie

agitatorischen Verwendbarkeit wegen von den deutschen Sozialdemokraten am
höchsten geschätzt, am lautesten ausposaunt und am beharrlichsten abgedroschen
werden. Bernsteins Buch ist der Hauptsache uach eine ausführliche Begründung
dieser unsrer Ansicht. Der Verfasser will die marxische Theorie nicht auf¬
heben, sondern sie durch kritische Beseitigung ihrer unhaltbar gewordnen Be¬
standteile fortentwickeln. Er beginnt mit der materialistischen Geschichtsauf¬
fassung und ist da in der glücklichen Lage, auf Engels verweisen zu können,
da dieser Mitbegründer des historischen Materialismus dessen ursprüngliche
Formulierung in spätern Jahren stark abgeschwächt und zugestanden hat, daß
es nicht die ökonomischen Verhältnisse allein sind, die den Gang der Welt¬
geschichte bestimmen und als ihr geistiges Spiegelbild die Ideen erzengen.
Er nennt Rechtsformen, juristische, politische, philosophische Theorien, religiöse
Anschauungen als Einflüsse, die auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe
einwirken und "in vielen Fällen vorwiegend deren Formen bestimmen." Es
sind also, schreibt er u. a., "unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine
unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, woraus eine Resultante -- das
geschichtliche Ereignis -- hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt
einer als Ganzes bewußtlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden
kann. Denn was jeder einzelne will, wird von jedem andern verhindert, und
was herauskommt, ist etwas, was keiner gewollt hat" und keiner voraussehen
konnte, wie wir allen prophetisch angelegten Geistern zur Warnung beifügen
wollen. Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, litterarische Ent¬
wicklung, meint Engels, beruhe zwar auf der ökonomischen, aber alle diese
Sonderströmungen reagierten aufeinander und auf die ökonomische Basis.
Natürlich ist auch damit schon zu viel behauptet, wenn man nicht unter der
ökonomischen Basis die Gütererzeugung überhaupt versteht, denn freilich kann
weder der Pfarrer predigen, noch der Advokat plaidieren, noch der Dichter
dichten, wenn kein Bauer Brot schafft, und hätten die deutscheu Fürsten Herrn
Walther von der Vogelweide verhungern lassen, ehe er seine letzten Liebeslieder
gedichtet hatte, so hätten wir diese eben nicht; aber das feudale Wirtschafts¬
system des dreizehnten Jahrhunderts ist zum Dichten von Liebesliedern nicht
nötig; solche werden auch heute noch schockweise gemacht, und wenn sie meistens
nicht ganz so gut ausfallen wie die des ritterlichen Sängers, so sind andre
Dinge als die Dreschmaschinen und die Aktiengesellschaften daran schuld. Was
vom historischen Materialismus als haltbar übrig bleibt, ist die Anerkennung
der wichtigen Rolle, die die Produktionsverhältnisse in der Weltgeschichte
spielen, und darauf läuft auch Bernsteins Kritik hinaus. Er schlägt für diese
reformierte Auffassung die Bezeichnung: ökonomische Geschichtsauffassung vor
statt der in der That ganz unpassenden: materialistische Geschichtsauffassung
und sucht nachzuweisen, daß heute der Einfluß der ökonomischen Kräfte nicht
im Steigen sondern im Sinken begriffen sei. Was steige, das sei die Be-


Eduard Bernstein und die deutsche Zozialdemokratie

agitatorischen Verwendbarkeit wegen von den deutschen Sozialdemokraten am
höchsten geschätzt, am lautesten ausposaunt und am beharrlichsten abgedroschen
werden. Bernsteins Buch ist der Hauptsache uach eine ausführliche Begründung
dieser unsrer Ansicht. Der Verfasser will die marxische Theorie nicht auf¬
heben, sondern sie durch kritische Beseitigung ihrer unhaltbar gewordnen Be¬
standteile fortentwickeln. Er beginnt mit der materialistischen Geschichtsauf¬
fassung und ist da in der glücklichen Lage, auf Engels verweisen zu können,
da dieser Mitbegründer des historischen Materialismus dessen ursprüngliche
Formulierung in spätern Jahren stark abgeschwächt und zugestanden hat, daß
es nicht die ökonomischen Verhältnisse allein sind, die den Gang der Welt¬
geschichte bestimmen und als ihr geistiges Spiegelbild die Ideen erzengen.
Er nennt Rechtsformen, juristische, politische, philosophische Theorien, religiöse
Anschauungen als Einflüsse, die auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe
einwirken und „in vielen Fällen vorwiegend deren Formen bestimmen." Es
sind also, schreibt er u. a., „unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine
unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, woraus eine Resultante — das
geschichtliche Ereignis — hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt
einer als Ganzes bewußtlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden
kann. Denn was jeder einzelne will, wird von jedem andern verhindert, und
was herauskommt, ist etwas, was keiner gewollt hat" und keiner voraussehen
konnte, wie wir allen prophetisch angelegten Geistern zur Warnung beifügen
wollen. Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, litterarische Ent¬
wicklung, meint Engels, beruhe zwar auf der ökonomischen, aber alle diese
Sonderströmungen reagierten aufeinander und auf die ökonomische Basis.
Natürlich ist auch damit schon zu viel behauptet, wenn man nicht unter der
ökonomischen Basis die Gütererzeugung überhaupt versteht, denn freilich kann
weder der Pfarrer predigen, noch der Advokat plaidieren, noch der Dichter
dichten, wenn kein Bauer Brot schafft, und hätten die deutscheu Fürsten Herrn
Walther von der Vogelweide verhungern lassen, ehe er seine letzten Liebeslieder
gedichtet hatte, so hätten wir diese eben nicht; aber das feudale Wirtschafts¬
system des dreizehnten Jahrhunderts ist zum Dichten von Liebesliedern nicht
nötig; solche werden auch heute noch schockweise gemacht, und wenn sie meistens
nicht ganz so gut ausfallen wie die des ritterlichen Sängers, so sind andre
Dinge als die Dreschmaschinen und die Aktiengesellschaften daran schuld. Was
vom historischen Materialismus als haltbar übrig bleibt, ist die Anerkennung
der wichtigen Rolle, die die Produktionsverhältnisse in der Weltgeschichte
spielen, und darauf läuft auch Bernsteins Kritik hinaus. Er schlägt für diese
reformierte Auffassung die Bezeichnung: ökonomische Geschichtsauffassung vor
statt der in der That ganz unpassenden: materialistische Geschichtsauffassung
und sucht nachzuweisen, daß heute der Einfluß der ökonomischen Kräfte nicht
im Steigen sondern im Sinken begriffen sei. Was steige, das sei die Be-


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[0402] Eduard Bernstein und die deutsche Zozialdemokratie agitatorischen Verwendbarkeit wegen von den deutschen Sozialdemokraten am höchsten geschätzt, am lautesten ausposaunt und am beharrlichsten abgedroschen werden. Bernsteins Buch ist der Hauptsache uach eine ausführliche Begründung dieser unsrer Ansicht. Der Verfasser will die marxische Theorie nicht auf¬ heben, sondern sie durch kritische Beseitigung ihrer unhaltbar gewordnen Be¬ standteile fortentwickeln. Er beginnt mit der materialistischen Geschichtsauf¬ fassung und ist da in der glücklichen Lage, auf Engels verweisen zu können, da dieser Mitbegründer des historischen Materialismus dessen ursprüngliche Formulierung in spätern Jahren stark abgeschwächt und zugestanden hat, daß es nicht die ökonomischen Verhältnisse allein sind, die den Gang der Welt¬ geschichte bestimmen und als ihr geistiges Spiegelbild die Ideen erzengen. Er nennt Rechtsformen, juristische, politische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen als Einflüsse, die auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe einwirken und „in vielen Fällen vorwiegend deren Formen bestimmen." Es sind also, schreibt er u. a., „unzählige einander durchkreuzende Kräfte, eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, woraus eine Resultante — das geschichtliche Ereignis — hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer als Ganzes bewußtlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann. Denn was jeder einzelne will, wird von jedem andern verhindert, und was herauskommt, ist etwas, was keiner gewollt hat" und keiner voraussehen konnte, wie wir allen prophetisch angelegten Geistern zur Warnung beifügen wollen. Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, litterarische Ent¬ wicklung, meint Engels, beruhe zwar auf der ökonomischen, aber alle diese Sonderströmungen reagierten aufeinander und auf die ökonomische Basis. Natürlich ist auch damit schon zu viel behauptet, wenn man nicht unter der ökonomischen Basis die Gütererzeugung überhaupt versteht, denn freilich kann weder der Pfarrer predigen, noch der Advokat plaidieren, noch der Dichter dichten, wenn kein Bauer Brot schafft, und hätten die deutscheu Fürsten Herrn Walther von der Vogelweide verhungern lassen, ehe er seine letzten Liebeslieder gedichtet hatte, so hätten wir diese eben nicht; aber das feudale Wirtschafts¬ system des dreizehnten Jahrhunderts ist zum Dichten von Liebesliedern nicht nötig; solche werden auch heute noch schockweise gemacht, und wenn sie meistens nicht ganz so gut ausfallen wie die des ritterlichen Sängers, so sind andre Dinge als die Dreschmaschinen und die Aktiengesellschaften daran schuld. Was vom historischen Materialismus als haltbar übrig bleibt, ist die Anerkennung der wichtigen Rolle, die die Produktionsverhältnisse in der Weltgeschichte spielen, und darauf läuft auch Bernsteins Kritik hinaus. Er schlägt für diese reformierte Auffassung die Bezeichnung: ökonomische Geschichtsauffassung vor statt der in der That ganz unpassenden: materialistische Geschichtsauffassung und sucht nachzuweisen, daß heute der Einfluß der ökonomischen Kräfte nicht im Steigen sondern im Sinken begriffen sei. Was steige, das sei die Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/402>, abgerufen am 28.09.2024.