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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Über Jakob Burckhardts Griechische Aulwrgeschichte

kamen, sondern sich im eignen Lande aufsuchen ließen. Auch die Bildung eines
athenischen Seercichs, die darauf folgte, ist noch eine Erscheinung von nicht
bloß lokalem Juteresse, wenn sie auch keinen langen Bestand hat. Alles aber,
was weiter noch kommt, ist schon Zersetzung, vor allen Dingen der dreißig
Jahre lang ziellos hin und her fahrende Aufreibungskrieg zwischen Athen und
Sparta, und während neue Dichter auftreten und ganz neue Kunstgattungen
entsteh", bietet uns die politische Geschichte des vierten Jahrhunderts keine
Neubildung mehr, sondern das klägliche Schaukclspiel dreier winziger Gro߬
mächte, die der Eifer, sich gegen einander nichts zu vergeben, blind gemacht
hat gegen den Hauptgeguer Philipp, der sie alle niederwirft, sodaß diese einstigen
Staaten von Hellas dann für die römische Weltmacht und ihre Rechnungs-
weise nur noch so und soviel wohlgelegne, mehr oder minder wertvolle Kreis¬
städte bedenken. Und wer endlich bedenkt, daß wir aus dieser ganzen letzten
Zeit nur noch von einem einzigen Manne wissen, der eigne Gedanken einer
gesunden, vaterländischen Politik hatte, daß aber keiner seiner Gedanken mehr
einen praktischen Erfolg gehabt hat, weswegen wir ihn selbst auch nur noch
als Redner -- Demosthenes -- zu verehren pflegen: der wird geneigt sein,
in der Beschäftigung mit dieser Art von Geschichte eine recht "trostlose" Wissen¬
schaft zu sehen (all8iriä.1; Nuskin gebrauchte das Wort in Bezug auf Adam
Smith), und er wird sich lieber an das halten, was erfreut, und das ist die
geistige und künstlerische Kultur der Griechen.

Seit dem Jahre 1880 hatte Burckhardt seine Vorlesung über die griechische
Kultur in Buchform auszuarbeiten begonnen. Fünf Abschnitte lagen etwa
druckfertig bei seinem Tode vor (Die Griechen und ihr Mythus; Staat und
Nation; Religion und Kultus; die Erkundung der Zukunft; zur Gesamt¬
bilanz des griechischen Lebens), ihre Veröffentlichung war jedoch in einem
schriftlich hinterlassenen letzten Willen ausdrücklich untersagt und wurde erst
kurz vor seinem Tode mündlich erbeten und erlaubt. Die Herausgabe dieser
ersten zwei Bände der griechischen Kulturgeschichte verdanken wir seinem Neffen
Jakob Oeri (Berlin und Stuttgart, Spemann). Dieser beabsichtigt auch die
übrige" vier Abschnitte herauszugeben, die nur noch als Kollegienheft vor¬
handen sind (Kunst; Poesie; Philosophie und Wissenschaft; der griechische
Mensch in seiner historischen Entwicklung).

Wie wenig es Burckhardt hinzog zu der politischen Geschichte der Griechen,
und wie es ihm innerlich nur um ihre Kultur zu thun war, zeigt eine Reihe
höchst treffend ausgedrückter Gedanken des ersten Abschnitts. Es sei ein Irrtum
zu meinen, ein so gescheites Volk wie die Griechen müsse eines etwas wie Kritik
gehabt haben. Das Namenaufzählcn ist ihre Wonne. Der Mythus als Macht
beherrscht ihr Leben bis in die hellsten Zeiten. Am Exakten liegt ihnen nichts.
Achill oder ein andrer Heros ist populärer als irgend ein historischer Held,
der nur einer der von den übrigen gehaßten Städte augehören konnte; der


Über Jakob Burckhardts Griechische Aulwrgeschichte

kamen, sondern sich im eignen Lande aufsuchen ließen. Auch die Bildung eines
athenischen Seercichs, die darauf folgte, ist noch eine Erscheinung von nicht
bloß lokalem Juteresse, wenn sie auch keinen langen Bestand hat. Alles aber,
was weiter noch kommt, ist schon Zersetzung, vor allen Dingen der dreißig
Jahre lang ziellos hin und her fahrende Aufreibungskrieg zwischen Athen und
Sparta, und während neue Dichter auftreten und ganz neue Kunstgattungen
entsteh», bietet uns die politische Geschichte des vierten Jahrhunderts keine
Neubildung mehr, sondern das klägliche Schaukclspiel dreier winziger Gro߬
mächte, die der Eifer, sich gegen einander nichts zu vergeben, blind gemacht
hat gegen den Hauptgeguer Philipp, der sie alle niederwirft, sodaß diese einstigen
Staaten von Hellas dann für die römische Weltmacht und ihre Rechnungs-
weise nur noch so und soviel wohlgelegne, mehr oder minder wertvolle Kreis¬
städte bedenken. Und wer endlich bedenkt, daß wir aus dieser ganzen letzten
Zeit nur noch von einem einzigen Manne wissen, der eigne Gedanken einer
gesunden, vaterländischen Politik hatte, daß aber keiner seiner Gedanken mehr
einen praktischen Erfolg gehabt hat, weswegen wir ihn selbst auch nur noch
als Redner — Demosthenes — zu verehren pflegen: der wird geneigt sein,
in der Beschäftigung mit dieser Art von Geschichte eine recht „trostlose" Wissen¬
schaft zu sehen (all8iriä.1; Nuskin gebrauchte das Wort in Bezug auf Adam
Smith), und er wird sich lieber an das halten, was erfreut, und das ist die
geistige und künstlerische Kultur der Griechen.

Seit dem Jahre 1880 hatte Burckhardt seine Vorlesung über die griechische
Kultur in Buchform auszuarbeiten begonnen. Fünf Abschnitte lagen etwa
druckfertig bei seinem Tode vor (Die Griechen und ihr Mythus; Staat und
Nation; Religion und Kultus; die Erkundung der Zukunft; zur Gesamt¬
bilanz des griechischen Lebens), ihre Veröffentlichung war jedoch in einem
schriftlich hinterlassenen letzten Willen ausdrücklich untersagt und wurde erst
kurz vor seinem Tode mündlich erbeten und erlaubt. Die Herausgabe dieser
ersten zwei Bände der griechischen Kulturgeschichte verdanken wir seinem Neffen
Jakob Oeri (Berlin und Stuttgart, Spemann). Dieser beabsichtigt auch die
übrige» vier Abschnitte herauszugeben, die nur noch als Kollegienheft vor¬
handen sind (Kunst; Poesie; Philosophie und Wissenschaft; der griechische
Mensch in seiner historischen Entwicklung).

Wie wenig es Burckhardt hinzog zu der politischen Geschichte der Griechen,
und wie es ihm innerlich nur um ihre Kultur zu thun war, zeigt eine Reihe
höchst treffend ausgedrückter Gedanken des ersten Abschnitts. Es sei ein Irrtum
zu meinen, ein so gescheites Volk wie die Griechen müsse eines etwas wie Kritik
gehabt haben. Das Namenaufzählcn ist ihre Wonne. Der Mythus als Macht
beherrscht ihr Leben bis in die hellsten Zeiten. Am Exakten liegt ihnen nichts.
Achill oder ein andrer Heros ist populärer als irgend ein historischer Held,
der nur einer der von den übrigen gehaßten Städte augehören konnte; der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/40>, abgerufen am 28.09.2024.