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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Der Römerstaat

bankrott erscheinen läßt. Wie in Frankreich in der Dreyfusaffaire, so stehe
die christliche Kirche mit entsetzlicher Konsequenz immer auf der Seite des Un¬
rechts. Die römisch-katholischen Völker ^von der griechisch-katholischen zu
sprechen würde nicht die Mühe lohnen^ seien politischer und sittlicher Korrup¬
tion verfallen, und die protestantischen böten mit ihrer Erwerbsgier, ihrem un¬
erbittlichen Konkurrenzkampf, ihren furchtbaren sozialen Gegensätzen und ihrer
cynischen Politik zwar ein andres, aber kein schöneres Bild dar. Dennoch
dürfe man, heißt es dann im zweiten Teile, das Christentum nicht für bankrott
erklären. In den Besten sei es wirksam, und die Schlechtigkeit und das Elend
der übrigen mildere es; eine Feier wie die des Weihnachtsfestes lade ein, über
den schmutzigen Strom der geschichtlichen Entwicklung hinweg zur reinen Quelle
zurückzukehren- So ists! Diese Rückkehr immer wieder aufs neue möglich ge¬
macht zu haben, sie allen Menschen aller Zeiten noch heute möglich zu machen,
das ist das Verdienst des Christentums, und seitdem es in der Welt ist, giebt
es keine andre irdische Institution, die den Zugang zur Quelle für alle, fürs
Volk, für die große Masse offen zu halten vermöchte. Für die alten Römer
aber ist die Kirche nicht notwendig gewesen; ihr einfaches Staatswesen mit
einem kindlichen und zum Teil kindischen Polytheismus, der der damaligen
Stufe der Naturerkenntnis entsprach, hat sie nicht allein zur Lösung ihrer
großen weltgeschichtlichen Aufgabe befähigt, sondern sie auch jahrhundertelang
auf einer Stufe der Moralität erhalten, deren sich kein modernes Volk zu
schämen hätte. Sogar Augustinus sieht sich genötigt einzugestehn, daß die
Römer der ältern Zeit besser gewesen seien als ihre Götter, daß sie durch ihre
Rechtschaffenheit, Mäßigkeit und Sittenreinheit verdient hätten, den wahren
Gott zu erkennen, und daß sie dafür Lohn verdient hätten, allerdings nur
irdischen, der ihnen in der Weltherrschaft zu teil geworden sei. Das ewige
Leben hätten sie weder gekannt, noch erstrebt, noch verdient. Nun, wenn man
eine Umfrage anstellte, um zu ermitteln, wie viel Getaufte heute das ewige
Leben erstreben und durch "übernatürliche" Tugenden verdienen, so würde das
Ergebnis nicht sehr glänzend ausfallen.

Ehe wir die Frage beantworten, worin der ethische Gehalt der römischen
Religion bestand, wollen wir die Urteile einiger Ältern über ihre Bedeutung
zusammenstellen. Polybius untersucht im sechsten Buche, was wohl den
Römern im Ringen mit den Karthagern die Überlegenheit verliehen haben
möge, und schreibt im 56. Kapitel: "Der Hauptvorzug des römischen Staates
aber besteht, wie mir scheint, in ihrer Auffassung des Göttlichen. Gerade das,
was anderwärts getadelt zu werden Pflegt, die Deistdaimonie, hält ihren Staat
zusammen. Denn diese ist bei ihnen so stark gemacht und so ins Privat- und
Staatsleben verwoben worden, daß ihr Einfluß keiner Steigerung mehr fähig
ist. Das hat man, glaub ich, des große" Haufens wegen so eingerichtet.
Bestünde der Staat aus lauter Weisen, so wäre dergleichen nicht notwendig.
Da aber die Menge stets leichtfertig, voll gesetzwidriger Gelüste, voll nuper-


Der Römerstaat

bankrott erscheinen läßt. Wie in Frankreich in der Dreyfusaffaire, so stehe
die christliche Kirche mit entsetzlicher Konsequenz immer auf der Seite des Un¬
rechts. Die römisch-katholischen Völker ^von der griechisch-katholischen zu
sprechen würde nicht die Mühe lohnen^ seien politischer und sittlicher Korrup¬
tion verfallen, und die protestantischen böten mit ihrer Erwerbsgier, ihrem un¬
erbittlichen Konkurrenzkampf, ihren furchtbaren sozialen Gegensätzen und ihrer
cynischen Politik zwar ein andres, aber kein schöneres Bild dar. Dennoch
dürfe man, heißt es dann im zweiten Teile, das Christentum nicht für bankrott
erklären. In den Besten sei es wirksam, und die Schlechtigkeit und das Elend
der übrigen mildere es; eine Feier wie die des Weihnachtsfestes lade ein, über
den schmutzigen Strom der geschichtlichen Entwicklung hinweg zur reinen Quelle
zurückzukehren- So ists! Diese Rückkehr immer wieder aufs neue möglich ge¬
macht zu haben, sie allen Menschen aller Zeiten noch heute möglich zu machen,
das ist das Verdienst des Christentums, und seitdem es in der Welt ist, giebt
es keine andre irdische Institution, die den Zugang zur Quelle für alle, fürs
Volk, für die große Masse offen zu halten vermöchte. Für die alten Römer
aber ist die Kirche nicht notwendig gewesen; ihr einfaches Staatswesen mit
einem kindlichen und zum Teil kindischen Polytheismus, der der damaligen
Stufe der Naturerkenntnis entsprach, hat sie nicht allein zur Lösung ihrer
großen weltgeschichtlichen Aufgabe befähigt, sondern sie auch jahrhundertelang
auf einer Stufe der Moralität erhalten, deren sich kein modernes Volk zu
schämen hätte. Sogar Augustinus sieht sich genötigt einzugestehn, daß die
Römer der ältern Zeit besser gewesen seien als ihre Götter, daß sie durch ihre
Rechtschaffenheit, Mäßigkeit und Sittenreinheit verdient hätten, den wahren
Gott zu erkennen, und daß sie dafür Lohn verdient hätten, allerdings nur
irdischen, der ihnen in der Weltherrschaft zu teil geworden sei. Das ewige
Leben hätten sie weder gekannt, noch erstrebt, noch verdient. Nun, wenn man
eine Umfrage anstellte, um zu ermitteln, wie viel Getaufte heute das ewige
Leben erstreben und durch „übernatürliche" Tugenden verdienen, so würde das
Ergebnis nicht sehr glänzend ausfallen.

Ehe wir die Frage beantworten, worin der ethische Gehalt der römischen
Religion bestand, wollen wir die Urteile einiger Ältern über ihre Bedeutung
zusammenstellen. Polybius untersucht im sechsten Buche, was wohl den
Römern im Ringen mit den Karthagern die Überlegenheit verliehen haben
möge, und schreibt im 56. Kapitel: „Der Hauptvorzug des römischen Staates
aber besteht, wie mir scheint, in ihrer Auffassung des Göttlichen. Gerade das,
was anderwärts getadelt zu werden Pflegt, die Deistdaimonie, hält ihren Staat
zusammen. Denn diese ist bei ihnen so stark gemacht und so ins Privat- und
Staatsleben verwoben worden, daß ihr Einfluß keiner Steigerung mehr fähig
ist. Das hat man, glaub ich, des große» Haufens wegen so eingerichtet.
Bestünde der Staat aus lauter Weisen, so wäre dergleichen nicht notwendig.
Da aber die Menge stets leichtfertig, voll gesetzwidriger Gelüste, voll nuper-


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[0260] Der Römerstaat bankrott erscheinen läßt. Wie in Frankreich in der Dreyfusaffaire, so stehe die christliche Kirche mit entsetzlicher Konsequenz immer auf der Seite des Un¬ rechts. Die römisch-katholischen Völker ^von der griechisch-katholischen zu sprechen würde nicht die Mühe lohnen^ seien politischer und sittlicher Korrup¬ tion verfallen, und die protestantischen böten mit ihrer Erwerbsgier, ihrem un¬ erbittlichen Konkurrenzkampf, ihren furchtbaren sozialen Gegensätzen und ihrer cynischen Politik zwar ein andres, aber kein schöneres Bild dar. Dennoch dürfe man, heißt es dann im zweiten Teile, das Christentum nicht für bankrott erklären. In den Besten sei es wirksam, und die Schlechtigkeit und das Elend der übrigen mildere es; eine Feier wie die des Weihnachtsfestes lade ein, über den schmutzigen Strom der geschichtlichen Entwicklung hinweg zur reinen Quelle zurückzukehren- So ists! Diese Rückkehr immer wieder aufs neue möglich ge¬ macht zu haben, sie allen Menschen aller Zeiten noch heute möglich zu machen, das ist das Verdienst des Christentums, und seitdem es in der Welt ist, giebt es keine andre irdische Institution, die den Zugang zur Quelle für alle, fürs Volk, für die große Masse offen zu halten vermöchte. Für die alten Römer aber ist die Kirche nicht notwendig gewesen; ihr einfaches Staatswesen mit einem kindlichen und zum Teil kindischen Polytheismus, der der damaligen Stufe der Naturerkenntnis entsprach, hat sie nicht allein zur Lösung ihrer großen weltgeschichtlichen Aufgabe befähigt, sondern sie auch jahrhundertelang auf einer Stufe der Moralität erhalten, deren sich kein modernes Volk zu schämen hätte. Sogar Augustinus sieht sich genötigt einzugestehn, daß die Römer der ältern Zeit besser gewesen seien als ihre Götter, daß sie durch ihre Rechtschaffenheit, Mäßigkeit und Sittenreinheit verdient hätten, den wahren Gott zu erkennen, und daß sie dafür Lohn verdient hätten, allerdings nur irdischen, der ihnen in der Weltherrschaft zu teil geworden sei. Das ewige Leben hätten sie weder gekannt, noch erstrebt, noch verdient. Nun, wenn man eine Umfrage anstellte, um zu ermitteln, wie viel Getaufte heute das ewige Leben erstreben und durch „übernatürliche" Tugenden verdienen, so würde das Ergebnis nicht sehr glänzend ausfallen. Ehe wir die Frage beantworten, worin der ethische Gehalt der römischen Religion bestand, wollen wir die Urteile einiger Ältern über ihre Bedeutung zusammenstellen. Polybius untersucht im sechsten Buche, was wohl den Römern im Ringen mit den Karthagern die Überlegenheit verliehen haben möge, und schreibt im 56. Kapitel: „Der Hauptvorzug des römischen Staates aber besteht, wie mir scheint, in ihrer Auffassung des Göttlichen. Gerade das, was anderwärts getadelt zu werden Pflegt, die Deistdaimonie, hält ihren Staat zusammen. Denn diese ist bei ihnen so stark gemacht und so ins Privat- und Staatsleben verwoben worden, daß ihr Einfluß keiner Steigerung mehr fähig ist. Das hat man, glaub ich, des große» Haufens wegen so eingerichtet. Bestünde der Staat aus lauter Weisen, so wäre dergleichen nicht notwendig. Da aber die Menge stets leichtfertig, voll gesetzwidriger Gelüste, voll nuper-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/260>, abgerufen am 20.10.2024.