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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen

vom Besuche des Frankfurter Fürstentags mit dem Aufgebot aller Kraft zurück¬
hält (I, 340). Oder sein ganz persönlicher Zusammenstoß mit dem Kronprinzen
im September 1863, der ihm mit einem "feindlichen Ausdruck olympischer
Hoheit" begegnet! (I, 323). Geradezu erschütternd wirkt es, wie er in Nikols-
burg, als der König auf seine maßvollen Vorschlüge für die Friedensbedingungen
nicht eingehn will, nach heftigem Streite das einemal im Weinkrampf zusammen¬
bricht, das andremal sogar einen Augenblick an Selbstmord denkt, und der
Kronprinz vermittelnd dazwischentritt (II, 43. 47). Wie plastisch heraus¬
gearbeitet sind auch die Figuren der Petersburger Hofgesellschaft in ihren drei
auf einander folgenden, ganz verschiednen Generationen (I, 219 ff.), oder der
napoleonische Hof in Paris mit seinem Glänze und seinen plebejischen Sitten
(I, 153 ff.)! Bilder derart erregen nur das Bedauern, daß diese Meisterhand
nicht noch mehr ähnliche gezeichnet hat.

Ein besonders eigentümliches Element des Werkes sind die politischen
Betrachtungen, die bald an einzelne Ereignisreihen angeknüpft werden, bald
ganze Kapitel füllen und zusammen einen sehr beträchtlichen Teil des Ganzen
ausmachen. In ihnen hat der Verfasser das Ergebnis eines langen, unver¬
gleichlich erfolgreichen Lebens vor allem zur Belehrung für die Zukunft nieder¬
gelegt. So erörtert er im Anschluß an die Schilderung der Märztage von
1848, welche Möglichkeiten sich bei einer entschlossenem und klarern Haltung des
Königs, der die Macht der Bewegung überschätzt, die der monarchischen
Idee im Volke und Heere unterschätzt und zuviel Rücksicht auf "moralische
Eroberungen" in Deutschland genommen habe, der preußischen Krone für
ihre deutsche Politik geboten Hütten (I, 40 ff. 54 ff.). Zweimal, da, wo
er I, 10 seine eignen Jugeuderfahrungen in der Verwaltung bespricht, und
wo er II, 179 f. auf die Verwaltungsreform des Grafen Friedrich Eulen¬
burg 1877 eingeht, erörtert er die neue "Selbstverwaltung" und findet,
daß sie nur eine Verschärfung der alten Büreaukratie sei, da sie den Landrat
in einen reinen Regierungsbeamten verwandelt und damit die alten festen Be¬
ziehungen des Amtes zu dem Kreise zerstört habe. An die Erzählung von
seinem Eintritt ins Ministerium 1862 knüpft er eine ausführliche Besprechung
der schweren Versäumnisse in der auswärtigen Politik Preußens seit 1786,
das nach 1806 überhaupt keine wirkliche Selbständigkeit gehabt habe und als eine
Großmacht nur einen Ar^mo Lg.ki.8 habe gelten können, nicht weil es ihm an innerer
Kraft, sondern weil es der Regierung an preußischem Selbstgefühl gefehlt habe,
vor allem unter Friedrich Wilhelm IV., den die Verantwortung für die da¬
malige Politik in allen wesentlichen Stücken selber treffe. Erst Wilhelm I.
habe sich allmählich unter seiner eignen Mitwirkung emanzipiert, auch von den
nach der alten Richtung hindrängenden Einwirkungen seiner nächsten Um¬
gebung (I, 270 ff.). Höchst merkwürdig ist die Erörterung über die Ent¬
täuschung, die ihm der Reichstag und die Dynastien bereitet haben; die natio¬
nale Gesinnung der Dynastien habe er unterschützt, die der deutschen Wähler


Fürst Bismarcks Gedanken und Erinnerungen

vom Besuche des Frankfurter Fürstentags mit dem Aufgebot aller Kraft zurück¬
hält (I, 340). Oder sein ganz persönlicher Zusammenstoß mit dem Kronprinzen
im September 1863, der ihm mit einem „feindlichen Ausdruck olympischer
Hoheit" begegnet! (I, 323). Geradezu erschütternd wirkt es, wie er in Nikols-
burg, als der König auf seine maßvollen Vorschlüge für die Friedensbedingungen
nicht eingehn will, nach heftigem Streite das einemal im Weinkrampf zusammen¬
bricht, das andremal sogar einen Augenblick an Selbstmord denkt, und der
Kronprinz vermittelnd dazwischentritt (II, 43. 47). Wie plastisch heraus¬
gearbeitet sind auch die Figuren der Petersburger Hofgesellschaft in ihren drei
auf einander folgenden, ganz verschiednen Generationen (I, 219 ff.), oder der
napoleonische Hof in Paris mit seinem Glänze und seinen plebejischen Sitten
(I, 153 ff.)! Bilder derart erregen nur das Bedauern, daß diese Meisterhand
nicht noch mehr ähnliche gezeichnet hat.

Ein besonders eigentümliches Element des Werkes sind die politischen
Betrachtungen, die bald an einzelne Ereignisreihen angeknüpft werden, bald
ganze Kapitel füllen und zusammen einen sehr beträchtlichen Teil des Ganzen
ausmachen. In ihnen hat der Verfasser das Ergebnis eines langen, unver¬
gleichlich erfolgreichen Lebens vor allem zur Belehrung für die Zukunft nieder¬
gelegt. So erörtert er im Anschluß an die Schilderung der Märztage von
1848, welche Möglichkeiten sich bei einer entschlossenem und klarern Haltung des
Königs, der die Macht der Bewegung überschätzt, die der monarchischen
Idee im Volke und Heere unterschätzt und zuviel Rücksicht auf „moralische
Eroberungen" in Deutschland genommen habe, der preußischen Krone für
ihre deutsche Politik geboten Hütten (I, 40 ff. 54 ff.). Zweimal, da, wo
er I, 10 seine eignen Jugeuderfahrungen in der Verwaltung bespricht, und
wo er II, 179 f. auf die Verwaltungsreform des Grafen Friedrich Eulen¬
burg 1877 eingeht, erörtert er die neue „Selbstverwaltung" und findet,
daß sie nur eine Verschärfung der alten Büreaukratie sei, da sie den Landrat
in einen reinen Regierungsbeamten verwandelt und damit die alten festen Be¬
ziehungen des Amtes zu dem Kreise zerstört habe. An die Erzählung von
seinem Eintritt ins Ministerium 1862 knüpft er eine ausführliche Besprechung
der schweren Versäumnisse in der auswärtigen Politik Preußens seit 1786,
das nach 1806 überhaupt keine wirkliche Selbständigkeit gehabt habe und als eine
Großmacht nur einen Ar^mo Lg.ki.8 habe gelten können, nicht weil es ihm an innerer
Kraft, sondern weil es der Regierung an preußischem Selbstgefühl gefehlt habe,
vor allem unter Friedrich Wilhelm IV., den die Verantwortung für die da¬
malige Politik in allen wesentlichen Stücken selber treffe. Erst Wilhelm I.
habe sich allmählich unter seiner eignen Mitwirkung emanzipiert, auch von den
nach der alten Richtung hindrängenden Einwirkungen seiner nächsten Um¬
gebung (I, 270 ff.). Höchst merkwürdig ist die Erörterung über die Ent¬
täuschung, die ihm der Reichstag und die Dynastien bereitet haben; die natio¬
nale Gesinnung der Dynastien habe er unterschützt, die der deutschen Wähler


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/18>, abgerufen am 28.09.2024.