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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Tagelöhnerhäuser

aber was man bisher dagegen vorgenommen hat, verspricht wenig Erfolg.
.Heutzutage wird der nationale Charakter eines Volkes nicht mehr von oben
her, sondern von unten her angegeben. Was zu Bismcircks Zeiten richtig war,
daß es keinen polnischen Mittelstand gäbe, ist heute nicht mehr wahr; denn
über dem niedern Volk baut sich der polnische Mittelstand mehr und mehr auf.
Polnische Handwerker, Kaufleute, Unternehmer, Ärzte und Rechtsanwälte ver¬
drängen in den Städten und auf dem Lande mehr und mehr die Deutschen.
Was nutzt es da, wenn man für ein deutsches Theater, eine deutsche Bibliothek,
ein deutsches Museum, ein hygienisches Institut und dergleichen sorgt? Damit
flickt man nur das Dach eines Hauses, dessen Grundmauern schon wegschwimmen.
Was nützt es auch, wenn man sich zuruft: "Kauft nur bei Deutschen"? Sind
sich doch die Polen selbst genug.

Es giebt einen polnischen Mittelstand, und folglich wird es auch ein pol¬
nisches Volk geben -- man sehe nur, was aus den Tschechen geworden ist --,
und dieses Volk wird so weit reichen, wie die dichten Massen der polnischen
Arbeiter reichen, mit oder ohne politische Selbständigkeit. Was soll es nützen,
wenn die Ansiedlungskommission in zehn Jahren 2000 deutsche Bauern an¬
siedelt, und wenn sie es wirklich in nochmals zehn Jahren auf 5000 bringt,
zu denen vielleicht 30000 Seelen gehören. Ist das genug gegen das Wachs¬
tum der polnischen Bevölkerung in den ehemals deutschen Gegenden des Ostens?
Man zähle doch einmal. In einem Jndustriebezirk des Rheinlands soll es
sogar schon 100000 Polen geben, zwanzig Prozent des Arbeitcrstands. Welche
Zahlen würden wohl Pommern, Brandenburg und Sachsen geben? Jedenfalls
genug, die Zahlen der Ansiedlungskommission zu erdrücken. Einstmals waren
die Bauern die unterste Schicht der Bevölkerung, und damals war es richtig,
mit Bauern zu kolonisieren; heute sind sie das nicht mehr, sondern die Arbeiter.
Wenn die Polen mit Arbeitern kolonisieren, wir aber mit Bauern, d. i. mit
Besitzern, so werden die Polen siegen, denn sie haben die eigentliche Zeugungs-
kraft des Volkes in ihren Dienst gestellt, den Arbeiterstand. Die russischen
Arbeiter aussperren, wäre für die Landwirte verderblich und doch nur eine
halbe Maßregel, denn sie trifft die deutschen Polen nicht. Deshalb kann nichts
andres helfen, als Zufuhr deutscher Arbeiter.

Gelänge es aber, die deutschen Arbeiter wieder seßhaft zu machen, so
würden wahrscheinlich bald die alten Grenzen wieder hergestellt werden. Es
würde eine breite Grundlage für unsre deutsche Kultur wieder geschaffen, ein
Stand wieder hergestellt sein, der die körperlich und moralisch tüchtigen Ersatz¬
mannschaften lieferte, die wir brauchen; ich meine nicht bloß für das Heer.
In gesunden Wohnungen und bei seßhafter Lebensweise ist das Kinderkriegen
und Kinderaufziehen außerdem leichter und erfolgreicher. Denn dazu gehört
eigentlich ein eigner Herd. Die Zeugungskraft eines Volkes steht durchaus
nicht für immer fest und auch nicht außerhalb aller Beeinflussung. Es ist


Tagelöhnerhäuser

aber was man bisher dagegen vorgenommen hat, verspricht wenig Erfolg.
.Heutzutage wird der nationale Charakter eines Volkes nicht mehr von oben
her, sondern von unten her angegeben. Was zu Bismcircks Zeiten richtig war,
daß es keinen polnischen Mittelstand gäbe, ist heute nicht mehr wahr; denn
über dem niedern Volk baut sich der polnische Mittelstand mehr und mehr auf.
Polnische Handwerker, Kaufleute, Unternehmer, Ärzte und Rechtsanwälte ver¬
drängen in den Städten und auf dem Lande mehr und mehr die Deutschen.
Was nutzt es da, wenn man für ein deutsches Theater, eine deutsche Bibliothek,
ein deutsches Museum, ein hygienisches Institut und dergleichen sorgt? Damit
flickt man nur das Dach eines Hauses, dessen Grundmauern schon wegschwimmen.
Was nützt es auch, wenn man sich zuruft: „Kauft nur bei Deutschen"? Sind
sich doch die Polen selbst genug.

Es giebt einen polnischen Mittelstand, und folglich wird es auch ein pol¬
nisches Volk geben — man sehe nur, was aus den Tschechen geworden ist —,
und dieses Volk wird so weit reichen, wie die dichten Massen der polnischen
Arbeiter reichen, mit oder ohne politische Selbständigkeit. Was soll es nützen,
wenn die Ansiedlungskommission in zehn Jahren 2000 deutsche Bauern an¬
siedelt, und wenn sie es wirklich in nochmals zehn Jahren auf 5000 bringt,
zu denen vielleicht 30000 Seelen gehören. Ist das genug gegen das Wachs¬
tum der polnischen Bevölkerung in den ehemals deutschen Gegenden des Ostens?
Man zähle doch einmal. In einem Jndustriebezirk des Rheinlands soll es
sogar schon 100000 Polen geben, zwanzig Prozent des Arbeitcrstands. Welche
Zahlen würden wohl Pommern, Brandenburg und Sachsen geben? Jedenfalls
genug, die Zahlen der Ansiedlungskommission zu erdrücken. Einstmals waren
die Bauern die unterste Schicht der Bevölkerung, und damals war es richtig,
mit Bauern zu kolonisieren; heute sind sie das nicht mehr, sondern die Arbeiter.
Wenn die Polen mit Arbeitern kolonisieren, wir aber mit Bauern, d. i. mit
Besitzern, so werden die Polen siegen, denn sie haben die eigentliche Zeugungs-
kraft des Volkes in ihren Dienst gestellt, den Arbeiterstand. Die russischen
Arbeiter aussperren, wäre für die Landwirte verderblich und doch nur eine
halbe Maßregel, denn sie trifft die deutschen Polen nicht. Deshalb kann nichts
andres helfen, als Zufuhr deutscher Arbeiter.

Gelänge es aber, die deutschen Arbeiter wieder seßhaft zu machen, so
würden wahrscheinlich bald die alten Grenzen wieder hergestellt werden. Es
würde eine breite Grundlage für unsre deutsche Kultur wieder geschaffen, ein
Stand wieder hergestellt sein, der die körperlich und moralisch tüchtigen Ersatz¬
mannschaften lieferte, die wir brauchen; ich meine nicht bloß für das Heer.
In gesunden Wohnungen und bei seßhafter Lebensweise ist das Kinderkriegen
und Kinderaufziehen außerdem leichter und erfolgreicher. Denn dazu gehört
eigentlich ein eigner Herd. Die Zeugungskraft eines Volkes steht durchaus
nicht für immer fest und auch nicht außerhalb aller Beeinflussung. Es ist


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[0128] Tagelöhnerhäuser aber was man bisher dagegen vorgenommen hat, verspricht wenig Erfolg. .Heutzutage wird der nationale Charakter eines Volkes nicht mehr von oben her, sondern von unten her angegeben. Was zu Bismcircks Zeiten richtig war, daß es keinen polnischen Mittelstand gäbe, ist heute nicht mehr wahr; denn über dem niedern Volk baut sich der polnische Mittelstand mehr und mehr auf. Polnische Handwerker, Kaufleute, Unternehmer, Ärzte und Rechtsanwälte ver¬ drängen in den Städten und auf dem Lande mehr und mehr die Deutschen. Was nutzt es da, wenn man für ein deutsches Theater, eine deutsche Bibliothek, ein deutsches Museum, ein hygienisches Institut und dergleichen sorgt? Damit flickt man nur das Dach eines Hauses, dessen Grundmauern schon wegschwimmen. Was nützt es auch, wenn man sich zuruft: „Kauft nur bei Deutschen"? Sind sich doch die Polen selbst genug. Es giebt einen polnischen Mittelstand, und folglich wird es auch ein pol¬ nisches Volk geben — man sehe nur, was aus den Tschechen geworden ist —, und dieses Volk wird so weit reichen, wie die dichten Massen der polnischen Arbeiter reichen, mit oder ohne politische Selbständigkeit. Was soll es nützen, wenn die Ansiedlungskommission in zehn Jahren 2000 deutsche Bauern an¬ siedelt, und wenn sie es wirklich in nochmals zehn Jahren auf 5000 bringt, zu denen vielleicht 30000 Seelen gehören. Ist das genug gegen das Wachs¬ tum der polnischen Bevölkerung in den ehemals deutschen Gegenden des Ostens? Man zähle doch einmal. In einem Jndustriebezirk des Rheinlands soll es sogar schon 100000 Polen geben, zwanzig Prozent des Arbeitcrstands. Welche Zahlen würden wohl Pommern, Brandenburg und Sachsen geben? Jedenfalls genug, die Zahlen der Ansiedlungskommission zu erdrücken. Einstmals waren die Bauern die unterste Schicht der Bevölkerung, und damals war es richtig, mit Bauern zu kolonisieren; heute sind sie das nicht mehr, sondern die Arbeiter. Wenn die Polen mit Arbeitern kolonisieren, wir aber mit Bauern, d. i. mit Besitzern, so werden die Polen siegen, denn sie haben die eigentliche Zeugungs- kraft des Volkes in ihren Dienst gestellt, den Arbeiterstand. Die russischen Arbeiter aussperren, wäre für die Landwirte verderblich und doch nur eine halbe Maßregel, denn sie trifft die deutschen Polen nicht. Deshalb kann nichts andres helfen, als Zufuhr deutscher Arbeiter. Gelänge es aber, die deutschen Arbeiter wieder seßhaft zu machen, so würden wahrscheinlich bald die alten Grenzen wieder hergestellt werden. Es würde eine breite Grundlage für unsre deutsche Kultur wieder geschaffen, ein Stand wieder hergestellt sein, der die körperlich und moralisch tüchtigen Ersatz¬ mannschaften lieferte, die wir brauchen; ich meine nicht bloß für das Heer. In gesunden Wohnungen und bei seßhafter Lebensweise ist das Kinderkriegen und Kinderaufziehen außerdem leichter und erfolgreicher. Denn dazu gehört eigentlich ein eigner Herd. Die Zeugungskraft eines Volkes steht durchaus nicht für immer fest und auch nicht außerhalb aller Beeinflussung. Es ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/128>, abgerufen am 28.09.2024.