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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr.

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Tagelöhnerhäuser

Wiesche ist durch den landwirtschaftlichen Rückgang wohl viel mehr als andre
Gegenden Deutschlands verwüstet.

Die Leute, die mit ihrer Familie als Tagelöhner zu einem Gutsherrn
ziehen, vermieten sich auf ein Jahr von Martini zu Martini. Sie erhalten
freie Wohnung im Tagelöhnerhaus und Kartoffeln und dürfen sich Schweine
mästen. Das Verhältnis wäre an sich ganz befriedigend, wenn die beiden
Parteien, Herren und Arbeiter, immer vollkommne Menschen wären. Ich kenne
manchen Tagelöhner, der schon jahrelang bei seinem Herrn ist, und der im
Laufe der Zeit einen gewissen Wohlstand erlangt hat. Können die Leute zwei
Schweine mästen,^) so bringt das Geschäft einen bedeutenden baren Überschuß
über ihren eignen Fleischbedarf, der nach und nach zu einem Vermögen an¬
wächst, wovon die Eltern ihre Kinder gut erziehen und ausstatten können.
Es kommt auch vor, daß sich ein Arbeiter schließlich ein Häuschen vor der
Stadt kauft, um sich selbständig zu machen. Aber dies ist die Ausnahme, die
Regel ist leider anders. Da giebt es plötzlich Streit, sei es, daß der Herr
oder der Arbeiter oder dessen Frau oder die erwachsenen Kinder daran schuld
sind, und nach ein oder zwei Jahren hat das Dienstverhältnis ein Ende. Um
Martini erhebt sich also jedes Jahr ein großes Ziehen, ein großer Austausch
der Tagelöhnerfamilien, und weil der Durchschnitt der Menschen gleich gut
oder schlecht ist, so hat eigentlich keiner einen Vorteil davon. Mancher Herr
jagt seinen Tagelöhner, weil er in der Betrunkenheit aufsässig wurde, fort
und erhält einen andern, der überhaupt nicht mehr nüchtern wird. Für die
Leute ist das Ziehen fast immer ein Unglück. Zweimal ziehen ist so gut wie
einmal abgebrannt, sagen die Bürgersleute. Aber ein Arbeiterhaushalt, der
auf einem Leiterwagen mehrere Stunden über Land gefahren wird, muß schon
mit einemmale ruiniert werden. Gutes Geschirr z. B. kann so eine Familie
nicht haben. Sie darf nur das notwendigste haben. Statt daß die Habe zu¬
nimmt, kann sie von einem zum andern male nur abnehmen. Von der Vieh¬
wirtschaft und dem Kartoffelbau können solche Leute natürlich auch keinen ent¬
sprechenden Vorteil haben.

Die Herren sagen: Die Leute brauchen ja nicht zu ziehen. Wir sind froh,
wenn sie bleiben; ordentliche Leute werden nicht fortgeschickt! Aber so sind
nun einmal heute unsre Arbeitsleute. Über alle Bequemlichkeit und die Geld¬
vorteile stellen sie ihre Freiheit. Daß sie sich jederzeit ihren Dienstherrn wählen
können, daß sie ihrem Herrn aufsagen können, wenn sie Lust haben bei jedem
kleinen Streit, nur um "sich zu verändern" -- das ist ihr Stolz. Auf dieses
Recht halten sie, wie auf ihre NaZNÄ ouarw. Sie sind darin freiheitliebender



Das "nationale" Schwein ist auch ein "soziales" Schwein. Nichts schadet den kleinen
Leuten auf dem Lande so als Schweineseuchen, und nichts bringt ihnen mehr Vorteil als eine
Fleischnot, die gute Preise bringt für die einzige Ware, die sie verkaufen, das Schwein. Die
Differenz zwischen Kartoffelpreisen und Fleischpreisen gehört den kleinen Leuten.
Tagelöhnerhäuser

Wiesche ist durch den landwirtschaftlichen Rückgang wohl viel mehr als andre
Gegenden Deutschlands verwüstet.

Die Leute, die mit ihrer Familie als Tagelöhner zu einem Gutsherrn
ziehen, vermieten sich auf ein Jahr von Martini zu Martini. Sie erhalten
freie Wohnung im Tagelöhnerhaus und Kartoffeln und dürfen sich Schweine
mästen. Das Verhältnis wäre an sich ganz befriedigend, wenn die beiden
Parteien, Herren und Arbeiter, immer vollkommne Menschen wären. Ich kenne
manchen Tagelöhner, der schon jahrelang bei seinem Herrn ist, und der im
Laufe der Zeit einen gewissen Wohlstand erlangt hat. Können die Leute zwei
Schweine mästen,^) so bringt das Geschäft einen bedeutenden baren Überschuß
über ihren eignen Fleischbedarf, der nach und nach zu einem Vermögen an¬
wächst, wovon die Eltern ihre Kinder gut erziehen und ausstatten können.
Es kommt auch vor, daß sich ein Arbeiter schließlich ein Häuschen vor der
Stadt kauft, um sich selbständig zu machen. Aber dies ist die Ausnahme, die
Regel ist leider anders. Da giebt es plötzlich Streit, sei es, daß der Herr
oder der Arbeiter oder dessen Frau oder die erwachsenen Kinder daran schuld
sind, und nach ein oder zwei Jahren hat das Dienstverhältnis ein Ende. Um
Martini erhebt sich also jedes Jahr ein großes Ziehen, ein großer Austausch
der Tagelöhnerfamilien, und weil der Durchschnitt der Menschen gleich gut
oder schlecht ist, so hat eigentlich keiner einen Vorteil davon. Mancher Herr
jagt seinen Tagelöhner, weil er in der Betrunkenheit aufsässig wurde, fort
und erhält einen andern, der überhaupt nicht mehr nüchtern wird. Für die
Leute ist das Ziehen fast immer ein Unglück. Zweimal ziehen ist so gut wie
einmal abgebrannt, sagen die Bürgersleute. Aber ein Arbeiterhaushalt, der
auf einem Leiterwagen mehrere Stunden über Land gefahren wird, muß schon
mit einemmale ruiniert werden. Gutes Geschirr z. B. kann so eine Familie
nicht haben. Sie darf nur das notwendigste haben. Statt daß die Habe zu¬
nimmt, kann sie von einem zum andern male nur abnehmen. Von der Vieh¬
wirtschaft und dem Kartoffelbau können solche Leute natürlich auch keinen ent¬
sprechenden Vorteil haben.

Die Herren sagen: Die Leute brauchen ja nicht zu ziehen. Wir sind froh,
wenn sie bleiben; ordentliche Leute werden nicht fortgeschickt! Aber so sind
nun einmal heute unsre Arbeitsleute. Über alle Bequemlichkeit und die Geld¬
vorteile stellen sie ihre Freiheit. Daß sie sich jederzeit ihren Dienstherrn wählen
können, daß sie ihrem Herrn aufsagen können, wenn sie Lust haben bei jedem
kleinen Streit, nur um „sich zu verändern" — das ist ihr Stolz. Auf dieses
Recht halten sie, wie auf ihre NaZNÄ ouarw. Sie sind darin freiheitliebender



Das „nationale" Schwein ist auch ein „soziales" Schwein. Nichts schadet den kleinen
Leuten auf dem Lande so als Schweineseuchen, und nichts bringt ihnen mehr Vorteil als eine
Fleischnot, die gute Preise bringt für die einzige Ware, die sie verkaufen, das Schwein. Die
Differenz zwischen Kartoffelpreisen und Fleischpreisen gehört den kleinen Leuten.
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[0124] Tagelöhnerhäuser Wiesche ist durch den landwirtschaftlichen Rückgang wohl viel mehr als andre Gegenden Deutschlands verwüstet. Die Leute, die mit ihrer Familie als Tagelöhner zu einem Gutsherrn ziehen, vermieten sich auf ein Jahr von Martini zu Martini. Sie erhalten freie Wohnung im Tagelöhnerhaus und Kartoffeln und dürfen sich Schweine mästen. Das Verhältnis wäre an sich ganz befriedigend, wenn die beiden Parteien, Herren und Arbeiter, immer vollkommne Menschen wären. Ich kenne manchen Tagelöhner, der schon jahrelang bei seinem Herrn ist, und der im Laufe der Zeit einen gewissen Wohlstand erlangt hat. Können die Leute zwei Schweine mästen,^) so bringt das Geschäft einen bedeutenden baren Überschuß über ihren eignen Fleischbedarf, der nach und nach zu einem Vermögen an¬ wächst, wovon die Eltern ihre Kinder gut erziehen und ausstatten können. Es kommt auch vor, daß sich ein Arbeiter schließlich ein Häuschen vor der Stadt kauft, um sich selbständig zu machen. Aber dies ist die Ausnahme, die Regel ist leider anders. Da giebt es plötzlich Streit, sei es, daß der Herr oder der Arbeiter oder dessen Frau oder die erwachsenen Kinder daran schuld sind, und nach ein oder zwei Jahren hat das Dienstverhältnis ein Ende. Um Martini erhebt sich also jedes Jahr ein großes Ziehen, ein großer Austausch der Tagelöhnerfamilien, und weil der Durchschnitt der Menschen gleich gut oder schlecht ist, so hat eigentlich keiner einen Vorteil davon. Mancher Herr jagt seinen Tagelöhner, weil er in der Betrunkenheit aufsässig wurde, fort und erhält einen andern, der überhaupt nicht mehr nüchtern wird. Für die Leute ist das Ziehen fast immer ein Unglück. Zweimal ziehen ist so gut wie einmal abgebrannt, sagen die Bürgersleute. Aber ein Arbeiterhaushalt, der auf einem Leiterwagen mehrere Stunden über Land gefahren wird, muß schon mit einemmale ruiniert werden. Gutes Geschirr z. B. kann so eine Familie nicht haben. Sie darf nur das notwendigste haben. Statt daß die Habe zu¬ nimmt, kann sie von einem zum andern male nur abnehmen. Von der Vieh¬ wirtschaft und dem Kartoffelbau können solche Leute natürlich auch keinen ent¬ sprechenden Vorteil haben. Die Herren sagen: Die Leute brauchen ja nicht zu ziehen. Wir sind froh, wenn sie bleiben; ordentliche Leute werden nicht fortgeschickt! Aber so sind nun einmal heute unsre Arbeitsleute. Über alle Bequemlichkeit und die Geld¬ vorteile stellen sie ihre Freiheit. Daß sie sich jederzeit ihren Dienstherrn wählen können, daß sie ihrem Herrn aufsagen können, wenn sie Lust haben bei jedem kleinen Streit, nur um „sich zu verändern" — das ist ihr Stolz. Auf dieses Recht halten sie, wie auf ihre NaZNÄ ouarw. Sie sind darin freiheitliebender Das „nationale" Schwein ist auch ein „soziales" Schwein. Nichts schadet den kleinen Leuten auf dem Lande so als Schweineseuchen, und nichts bringt ihnen mehr Vorteil als eine Fleischnot, die gute Preise bringt für die einzige Ware, die sie verkaufen, das Schwein. Die Differenz zwischen Kartoffelpreisen und Fleischpreisen gehört den kleinen Leuten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_230431/124>, abgerufen am 28.09.2024.