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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Gerhart Hauptmann und sein Biograph

losigkeit darüber zu Tage fördert: "Verneinen will Hauptmann die Frage nicht,
denn er traut der Frauenliebe viel zu und mochte hoffen. Bejahen aber kann
er die Frage auch nicht, denu wenn heut und gestern bei sterblichen Menschen
noch Glück und Friede war, wer kann wissen, ob nicht morgen schon die
Gespenster wiederkommen? Die Menschenkenntnis moderner Seelendichter hält
es mit dem alten Philosophen, der keinen vor seinem Tode glücklich pries.
Wenn Hauptmanns "Friedensfest" zu seinem vierten Akt noch den oft begehrten
fünften hätte, so müßte dieser fünfte Akt auf alle Fälle mit dem Tode der beiden
Liebenden schließen (?). Denn wenn er "glücklich" schlösse, so wäre das Ganze
eine "Komödie" gewesen, oder es bliebe die Gefahr bestehen, daß in einem sechsten
Akt das Glück doch wieder ein Ende hätte (!). In dieser Unsicherheit liegt bei
solchen Familienkatastrophen von allem Tragischen das Tragischste. Kein noch
so hoffender Blick in die Zukunft giebt die Gewähr, daß es immer so bleiben
wird, und darum kann der Schluß jedes Dramas, das nicht mit dem Tode des
Hauptbeteiligten endet, immer nur ein Abschluß des Vorhergegangnen, nicht ein
Anfang des Kommenden sein."

Kann es eine deutlichere Bankerotterklärung dieser Weltanschauung wie
der auf ihr beruhenden Kritik geben? Da es, das ist der Kern dieser Ansicht,
keine sittliche Kraft im Menschen giebt, die seinen Charakter ausmacht und
seine Handlungen bestimmt, so kann er nie wissen, ob in seinem Familienleben
nicht morgen das einreißt, was er heute aufgebaut hat. Und da hiernach alles
im Leben auf Zufall beruht, so auch die Ausgänge der modernen Dramen.
Hier ist offenbar die Folgerichtigkeit der dichterisch gestalteten Handlung und
ihre Wirkung verkannt. Wenn der Dichter einen Charakter demgemäß anlegt
und ausmalt, daß wir sehen, in ihm liegen gewisse moralische Kräfte und ein
angemessen starker Wille, dann erwarten wir mit Notwendigkeit dem entsprechende
Handlungen und einen dem entsprechenden Ausgang des Dramas und befürchten
nicht, daß schließlich noch ein stärkrer über ihn komme und im sechsten Akt
alles vorher Angebahnte vernichte. Das ist Thorheit, ist die falsche Konsequenz
einer falschen naturalistischen Theorie.

Schließlich verweist Schlenther den Vorgang ins Psychiatrische, also in
jenes Gebiet, in das die abnormen Geistesvorgänge fallen, offenbar eine bequeme
Ausflucht bei der Erklärung dramatischer Dichtungen. Er sagt, der Dichter
habe im "Friedensfest" die Kehrseite des Größenwahns, den Verfolgungswahn
geschildert, nicht in einem ausgeprägten klinischen Fall, sondern als das nahende
Unglück, das, nur halb gefühlt und halb verstanden, wie eine gefürchtete Epi¬
demie die Gemüter der Beteiligten umkreist. "Wer der Kunstgestaltung das
Psychiatrische weigert, so sährt er fort, handelt folgerichtig, wenn er, wies die
meisten ersten Kritiker Hauptmanns thaten, das "Friedensfest" kurzweg ablehnt.
Wer aber der Kunst das Recht zugesteht, die menschliche Seele und das mensch¬
liche Schicksal zu verfolge", so hoch sie steigen und so tief sie sinken, der wird


Grenzbotc" I 1809 12
Gerhart Hauptmann und sein Biograph

losigkeit darüber zu Tage fördert: „Verneinen will Hauptmann die Frage nicht,
denn er traut der Frauenliebe viel zu und mochte hoffen. Bejahen aber kann
er die Frage auch nicht, denu wenn heut und gestern bei sterblichen Menschen
noch Glück und Friede war, wer kann wissen, ob nicht morgen schon die
Gespenster wiederkommen? Die Menschenkenntnis moderner Seelendichter hält
es mit dem alten Philosophen, der keinen vor seinem Tode glücklich pries.
Wenn Hauptmanns »Friedensfest« zu seinem vierten Akt noch den oft begehrten
fünften hätte, so müßte dieser fünfte Akt auf alle Fälle mit dem Tode der beiden
Liebenden schließen (?). Denn wenn er »glücklich« schlösse, so wäre das Ganze
eine »Komödie« gewesen, oder es bliebe die Gefahr bestehen, daß in einem sechsten
Akt das Glück doch wieder ein Ende hätte (!). In dieser Unsicherheit liegt bei
solchen Familienkatastrophen von allem Tragischen das Tragischste. Kein noch
so hoffender Blick in die Zukunft giebt die Gewähr, daß es immer so bleiben
wird, und darum kann der Schluß jedes Dramas, das nicht mit dem Tode des
Hauptbeteiligten endet, immer nur ein Abschluß des Vorhergegangnen, nicht ein
Anfang des Kommenden sein."

Kann es eine deutlichere Bankerotterklärung dieser Weltanschauung wie
der auf ihr beruhenden Kritik geben? Da es, das ist der Kern dieser Ansicht,
keine sittliche Kraft im Menschen giebt, die seinen Charakter ausmacht und
seine Handlungen bestimmt, so kann er nie wissen, ob in seinem Familienleben
nicht morgen das einreißt, was er heute aufgebaut hat. Und da hiernach alles
im Leben auf Zufall beruht, so auch die Ausgänge der modernen Dramen.
Hier ist offenbar die Folgerichtigkeit der dichterisch gestalteten Handlung und
ihre Wirkung verkannt. Wenn der Dichter einen Charakter demgemäß anlegt
und ausmalt, daß wir sehen, in ihm liegen gewisse moralische Kräfte und ein
angemessen starker Wille, dann erwarten wir mit Notwendigkeit dem entsprechende
Handlungen und einen dem entsprechenden Ausgang des Dramas und befürchten
nicht, daß schließlich noch ein stärkrer über ihn komme und im sechsten Akt
alles vorher Angebahnte vernichte. Das ist Thorheit, ist die falsche Konsequenz
einer falschen naturalistischen Theorie.

Schließlich verweist Schlenther den Vorgang ins Psychiatrische, also in
jenes Gebiet, in das die abnormen Geistesvorgänge fallen, offenbar eine bequeme
Ausflucht bei der Erklärung dramatischer Dichtungen. Er sagt, der Dichter
habe im „Friedensfest" die Kehrseite des Größenwahns, den Verfolgungswahn
geschildert, nicht in einem ausgeprägten klinischen Fall, sondern als das nahende
Unglück, das, nur halb gefühlt und halb verstanden, wie eine gefürchtete Epi¬
demie die Gemüter der Beteiligten umkreist. „Wer der Kunstgestaltung das
Psychiatrische weigert, so sährt er fort, handelt folgerichtig, wenn er, wies die
meisten ersten Kritiker Hauptmanns thaten, das »Friedensfest« kurzweg ablehnt.
Wer aber der Kunst das Recht zugesteht, die menschliche Seele und das mensch¬
liche Schicksal zu verfolge», so hoch sie steigen und so tief sie sinken, der wird


Grenzbotc» I 1809 12
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[0097] Gerhart Hauptmann und sein Biograph losigkeit darüber zu Tage fördert: „Verneinen will Hauptmann die Frage nicht, denn er traut der Frauenliebe viel zu und mochte hoffen. Bejahen aber kann er die Frage auch nicht, denu wenn heut und gestern bei sterblichen Menschen noch Glück und Friede war, wer kann wissen, ob nicht morgen schon die Gespenster wiederkommen? Die Menschenkenntnis moderner Seelendichter hält es mit dem alten Philosophen, der keinen vor seinem Tode glücklich pries. Wenn Hauptmanns »Friedensfest« zu seinem vierten Akt noch den oft begehrten fünften hätte, so müßte dieser fünfte Akt auf alle Fälle mit dem Tode der beiden Liebenden schließen (?). Denn wenn er »glücklich« schlösse, so wäre das Ganze eine »Komödie« gewesen, oder es bliebe die Gefahr bestehen, daß in einem sechsten Akt das Glück doch wieder ein Ende hätte (!). In dieser Unsicherheit liegt bei solchen Familienkatastrophen von allem Tragischen das Tragischste. Kein noch so hoffender Blick in die Zukunft giebt die Gewähr, daß es immer so bleiben wird, und darum kann der Schluß jedes Dramas, das nicht mit dem Tode des Hauptbeteiligten endet, immer nur ein Abschluß des Vorhergegangnen, nicht ein Anfang des Kommenden sein." Kann es eine deutlichere Bankerotterklärung dieser Weltanschauung wie der auf ihr beruhenden Kritik geben? Da es, das ist der Kern dieser Ansicht, keine sittliche Kraft im Menschen giebt, die seinen Charakter ausmacht und seine Handlungen bestimmt, so kann er nie wissen, ob in seinem Familienleben nicht morgen das einreißt, was er heute aufgebaut hat. Und da hiernach alles im Leben auf Zufall beruht, so auch die Ausgänge der modernen Dramen. Hier ist offenbar die Folgerichtigkeit der dichterisch gestalteten Handlung und ihre Wirkung verkannt. Wenn der Dichter einen Charakter demgemäß anlegt und ausmalt, daß wir sehen, in ihm liegen gewisse moralische Kräfte und ein angemessen starker Wille, dann erwarten wir mit Notwendigkeit dem entsprechende Handlungen und einen dem entsprechenden Ausgang des Dramas und befürchten nicht, daß schließlich noch ein stärkrer über ihn komme und im sechsten Akt alles vorher Angebahnte vernichte. Das ist Thorheit, ist die falsche Konsequenz einer falschen naturalistischen Theorie. Schließlich verweist Schlenther den Vorgang ins Psychiatrische, also in jenes Gebiet, in das die abnormen Geistesvorgänge fallen, offenbar eine bequeme Ausflucht bei der Erklärung dramatischer Dichtungen. Er sagt, der Dichter habe im „Friedensfest" die Kehrseite des Größenwahns, den Verfolgungswahn geschildert, nicht in einem ausgeprägten klinischen Fall, sondern als das nahende Unglück, das, nur halb gefühlt und halb verstanden, wie eine gefürchtete Epi¬ demie die Gemüter der Beteiligten umkreist. „Wer der Kunstgestaltung das Psychiatrische weigert, so sährt er fort, handelt folgerichtig, wenn er, wies die meisten ersten Kritiker Hauptmanns thaten, das »Friedensfest« kurzweg ablehnt. Wer aber der Kunst das Recht zugesteht, die menschliche Seele und das mensch¬ liche Schicksal zu verfolge», so hoch sie steigen und so tief sie sinken, der wird Grenzbotc» I 1809 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/97>, abgerufen am 03.07.2024.