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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Politik und Finanzen in Rußland

fremden Taschen aufzubessern. Indessen scheint er seine Bemühungen in Eng¬
land und in den Vereinigten Staaten fortzusetzen. Jedenfalls hat das deutsche
Kapital schon aus politischen Ursachen vollkommen recht, sich von russischen
Staatspapieren möglichst zurückzuhalten, auch wenn das Anlagebedürfnis
größer wäre, als es in Wirklichkeit eben jetzt ist.

Herr Witte verdient nicht bloß die aufmerksame Beachtung, sondern auch
die Sympathien aller derer, die sich für russische Finanzen und russische
Politik interessieren. Denn er ist ein aufgeklärter, sehr scharfsichtiger, fleißiger
und energischer Mann, und er spielt in Rußland eine Rolle, die weit hinaus¬
greift über die bloße Verwaltung der Staatsfinanzen und die Leitung des er¬
werblichen Volkslebens. Innere wie äußere Politik sind in erheblichem Maße
von seiner Meinung beeinflußt, und der Neid hat bisher nicht gewagt, auf
seinen Charakter einen Makel zu werfen, dem einige seiner Vorgänger nicht
entgangen sind. Herr Witte ist vom Glück begünstigt worden, indem er aus
niedrer Stellung zu seiner jetzigen Höhe erhoben wurde zu einer Zeit, wo
Nußland durch eine Reihe von Umständen, die nicht immer von ihm abhängig
waren, in eine ganz besonders vorteilhafte äußere Lage gebracht worden war.

Die Leidenschaft, mit der Frankreich nach dem Kriege von 1870, alle
andern Interessen vernachlässigend, sich ganz der Begierde nach militärischer
Rache und Wiederherstellung seiner vermeintlich gekränkten Ehre hingab, warfen
es in die Arme und an die nicht eben sehr warme Brust Rußlands. Diese
Verbindung entfernte die Höfe in Berlin und Petersburg von einander und
beeinflußte natürlich auch die finanziellen Beziehungen der beiden Staaten.
Deutschland folgte dem kurz vorher durch England gegebnen Beispiel, indem
es sich seit 1386 von der Stellung eines Hauptgläubigers Rußlands zurück¬
zuziehen und sich der russischen Staatspapiere möglichst zu entledigen strebte.
Das gelang um so leichter, je heftiger die Franzosen ihrer neuen Schwärmerei
für Rußland auch materiell Ausdruck zu geben bereit waren. Milliarden
russischer Staatspapiere gingen schnell von deutschen in französische Hände
über, und der russische Geldmarkt, dessen Mittelpunkt bis dahin in Berlin ge¬
wesen war, begann nach Paris überzusiedeln. Diese Umwälzung fand Herr
Witte bei seinem Amtsantritt in vollem Gange vor, und er zögerte keinen
Augenblick, sie mit demselben Eiser und in demselben Maße, wie es sein
Vorgänger Wyschnegradski gethan hatte, auszunutzen. Es folgte Anleihe auf
Anleihe, und parallel damit die Konversion des größten Teils der russischen
auswärtigen Schuld von fünf- bis sechsprozentigen Papieren in vier- und
dreieinhalbprozentige. Wenige Jahre waren verstrichen, und Frankreich hatte
über sieben Milliarden Franken an russischen Werten frohen Muts ver¬
schluckt und hätte wohl noch ein Mehreres geleistet, wenn nicht Rußland durch
seine Judenbedrückuug das Haus Rothschild so geärgert hätte, daß dieses
Haus eine schon dem Abschluß nahe neuste Anleihe im letzten Augenblick


Politik und Finanzen in Rußland

fremden Taschen aufzubessern. Indessen scheint er seine Bemühungen in Eng¬
land und in den Vereinigten Staaten fortzusetzen. Jedenfalls hat das deutsche
Kapital schon aus politischen Ursachen vollkommen recht, sich von russischen
Staatspapieren möglichst zurückzuhalten, auch wenn das Anlagebedürfnis
größer wäre, als es in Wirklichkeit eben jetzt ist.

Herr Witte verdient nicht bloß die aufmerksame Beachtung, sondern auch
die Sympathien aller derer, die sich für russische Finanzen und russische
Politik interessieren. Denn er ist ein aufgeklärter, sehr scharfsichtiger, fleißiger
und energischer Mann, und er spielt in Rußland eine Rolle, die weit hinaus¬
greift über die bloße Verwaltung der Staatsfinanzen und die Leitung des er¬
werblichen Volkslebens. Innere wie äußere Politik sind in erheblichem Maße
von seiner Meinung beeinflußt, und der Neid hat bisher nicht gewagt, auf
seinen Charakter einen Makel zu werfen, dem einige seiner Vorgänger nicht
entgangen sind. Herr Witte ist vom Glück begünstigt worden, indem er aus
niedrer Stellung zu seiner jetzigen Höhe erhoben wurde zu einer Zeit, wo
Nußland durch eine Reihe von Umständen, die nicht immer von ihm abhängig
waren, in eine ganz besonders vorteilhafte äußere Lage gebracht worden war.

Die Leidenschaft, mit der Frankreich nach dem Kriege von 1870, alle
andern Interessen vernachlässigend, sich ganz der Begierde nach militärischer
Rache und Wiederherstellung seiner vermeintlich gekränkten Ehre hingab, warfen
es in die Arme und an die nicht eben sehr warme Brust Rußlands. Diese
Verbindung entfernte die Höfe in Berlin und Petersburg von einander und
beeinflußte natürlich auch die finanziellen Beziehungen der beiden Staaten.
Deutschland folgte dem kurz vorher durch England gegebnen Beispiel, indem
es sich seit 1386 von der Stellung eines Hauptgläubigers Rußlands zurück¬
zuziehen und sich der russischen Staatspapiere möglichst zu entledigen strebte.
Das gelang um so leichter, je heftiger die Franzosen ihrer neuen Schwärmerei
für Rußland auch materiell Ausdruck zu geben bereit waren. Milliarden
russischer Staatspapiere gingen schnell von deutschen in französische Hände
über, und der russische Geldmarkt, dessen Mittelpunkt bis dahin in Berlin ge¬
wesen war, begann nach Paris überzusiedeln. Diese Umwälzung fand Herr
Witte bei seinem Amtsantritt in vollem Gange vor, und er zögerte keinen
Augenblick, sie mit demselben Eiser und in demselben Maße, wie es sein
Vorgänger Wyschnegradski gethan hatte, auszunutzen. Es folgte Anleihe auf
Anleihe, und parallel damit die Konversion des größten Teils der russischen
auswärtigen Schuld von fünf- bis sechsprozentigen Papieren in vier- und
dreieinhalbprozentige. Wenige Jahre waren verstrichen, und Frankreich hatte
über sieben Milliarden Franken an russischen Werten frohen Muts ver¬
schluckt und hätte wohl noch ein Mehreres geleistet, wenn nicht Rußland durch
seine Judenbedrückuug das Haus Rothschild so geärgert hätte, daß dieses
Haus eine schon dem Abschluß nahe neuste Anleihe im letzten Augenblick


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[0080] Politik und Finanzen in Rußland fremden Taschen aufzubessern. Indessen scheint er seine Bemühungen in Eng¬ land und in den Vereinigten Staaten fortzusetzen. Jedenfalls hat das deutsche Kapital schon aus politischen Ursachen vollkommen recht, sich von russischen Staatspapieren möglichst zurückzuhalten, auch wenn das Anlagebedürfnis größer wäre, als es in Wirklichkeit eben jetzt ist. Herr Witte verdient nicht bloß die aufmerksame Beachtung, sondern auch die Sympathien aller derer, die sich für russische Finanzen und russische Politik interessieren. Denn er ist ein aufgeklärter, sehr scharfsichtiger, fleißiger und energischer Mann, und er spielt in Rußland eine Rolle, die weit hinaus¬ greift über die bloße Verwaltung der Staatsfinanzen und die Leitung des er¬ werblichen Volkslebens. Innere wie äußere Politik sind in erheblichem Maße von seiner Meinung beeinflußt, und der Neid hat bisher nicht gewagt, auf seinen Charakter einen Makel zu werfen, dem einige seiner Vorgänger nicht entgangen sind. Herr Witte ist vom Glück begünstigt worden, indem er aus niedrer Stellung zu seiner jetzigen Höhe erhoben wurde zu einer Zeit, wo Nußland durch eine Reihe von Umständen, die nicht immer von ihm abhängig waren, in eine ganz besonders vorteilhafte äußere Lage gebracht worden war. Die Leidenschaft, mit der Frankreich nach dem Kriege von 1870, alle andern Interessen vernachlässigend, sich ganz der Begierde nach militärischer Rache und Wiederherstellung seiner vermeintlich gekränkten Ehre hingab, warfen es in die Arme und an die nicht eben sehr warme Brust Rußlands. Diese Verbindung entfernte die Höfe in Berlin und Petersburg von einander und beeinflußte natürlich auch die finanziellen Beziehungen der beiden Staaten. Deutschland folgte dem kurz vorher durch England gegebnen Beispiel, indem es sich seit 1386 von der Stellung eines Hauptgläubigers Rußlands zurück¬ zuziehen und sich der russischen Staatspapiere möglichst zu entledigen strebte. Das gelang um so leichter, je heftiger die Franzosen ihrer neuen Schwärmerei für Rußland auch materiell Ausdruck zu geben bereit waren. Milliarden russischer Staatspapiere gingen schnell von deutschen in französische Hände über, und der russische Geldmarkt, dessen Mittelpunkt bis dahin in Berlin ge¬ wesen war, begann nach Paris überzusiedeln. Diese Umwälzung fand Herr Witte bei seinem Amtsantritt in vollem Gange vor, und er zögerte keinen Augenblick, sie mit demselben Eiser und in demselben Maße, wie es sein Vorgänger Wyschnegradski gethan hatte, auszunutzen. Es folgte Anleihe auf Anleihe, und parallel damit die Konversion des größten Teils der russischen auswärtigen Schuld von fünf- bis sechsprozentigen Papieren in vier- und dreieinhalbprozentige. Wenige Jahre waren verstrichen, und Frankreich hatte über sieben Milliarden Franken an russischen Werten frohen Muts ver¬ schluckt und hätte wohl noch ein Mehreres geleistet, wenn nicht Rußland durch seine Judenbedrückuug das Haus Rothschild so geärgert hätte, daß dieses Haus eine schon dem Abschluß nahe neuste Anleihe im letzten Augenblick

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/80>, abgerufen am 03.07.2024.