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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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Nation und Staat

selbst zu erziehn. Man hat Eltern ihre Kinder, wie es scheint, wirklich weg¬
genommen, um sie von staatlichen Vormündern erziehn zu lassen. Das sind
offenbar unhaltbare Zustände. Aber der erste Schritt auf dem Wege staat¬
lichen Zwangs ist verhängnisvoll auch gegenüber deutschen Reichsgenossen.

In Rußland ist dafür eine fertige Schablone vorhanden, die eben in Finn¬
land wieder zur Anwendung kommen soll. Man packt irgendwo die zur Er¬
wägung bestimmte Nation oder Provinz an einer schmerzhaften Stelle: man
nimmt das Recht der Wahl einiger Beamten, man fordert die russische Sprache
bei einigen Behörden, die bisher schwedisch und finnisch verhandelten. Die
Verletzten sträuben sich, da packt man fester zu und verstopft zugleich den
Mund der Presse mit einem Knebel; sie flehen um ihr Recht, ihre Sprache,
da heißt es: Separatismus, Haß gegen Rußland! Es sei klar, daß solche
Gesinnung höchst gefährlich sei, weshalb man stärker zugreifen müsse. Nun
werden Schulen russisch gemacht, und da die Unzufriedenheit in Finnland
wächst und sich zeigt, so ist das ein immer klarer werdender Beweis ihrer
staatsfeindlichen Gesinnung. Man drückt weiter auf das nationale Bewußtsein,
auf Freiheit. Stolz, Ehrgefühl des Finnlünders, und treibt die entflammte
Leidenschaft irgendwo einige Hitzköpfe zu offnem Widerstande gegen die Staats¬
gewalt, dann ist es Aufruhr, der Beweis ist erbracht, daß nur die Vernichtung
finnländischen Rechts, finnländischer Selbstverwaltung, Sprache, Kultur zur
wahren Verschmelzung des Landes mit Rußland sühren können. Das ist die
erprobte Schablone, und Finnland, ein kleiner Musterstaat wie kaum ein zweiter
in der Welt, wird im Namen des Nationalstaats zu Grunde gerichtet werden
wie Livland vor ihm. Rußland hätte sich größeres Verdienst um Europa er¬
worben durch einen Aufruf zur Niederlegung der staatlichen Waffen im Kampfe
der Nationalitäten, als durch sein Manifest sür Einschränkung der Kriegs¬
rüstungen. Und wir werden in Deutschland sicher nicht dieser russischen
Schablone folgen wollen. Rußland ist eine Despotie, die keinerlei Recht des
Unterthans gegenüber dem Fürsten anerkennt. Deutschland steht nicht auf
diesem Boden des einseitigen Rechts.

Man hat längst die Erfahrung gemacht, daß Nationen eben solche Tyrannen
sein können wie Fürsten. Wir sind stolz, daß die Zeit des Absolutismus und
der Despotie vorüber ist. Ja, der Despotie der Fürsten, und an ihre Stelle
treten die Nationen, eine traurige Abwechslung! Und wie viele Leute immer
bereit wären, den Fürsten zu bewundern, wenn er seine Macht mißbrauchte,
so giebt es jetzt viele, die es weichlich nennen, wenn die Warnung laut wird,
daß die Nationen Tyrannen werden. Fürsten wie Nationen haben ihre
Schmeichler.

Man hört bei uns nicht selten vor deutschem Chauvinismus warnen.
Ich meine, die Gefahr liegt uus bisher fern. Vielmehr ist gerade unsre
nationale Schwäche eine der Ursachen, weshalb wir nicht ohne staatliche Hilfe


Nation und Staat

selbst zu erziehn. Man hat Eltern ihre Kinder, wie es scheint, wirklich weg¬
genommen, um sie von staatlichen Vormündern erziehn zu lassen. Das sind
offenbar unhaltbare Zustände. Aber der erste Schritt auf dem Wege staat¬
lichen Zwangs ist verhängnisvoll auch gegenüber deutschen Reichsgenossen.

In Rußland ist dafür eine fertige Schablone vorhanden, die eben in Finn¬
land wieder zur Anwendung kommen soll. Man packt irgendwo die zur Er¬
wägung bestimmte Nation oder Provinz an einer schmerzhaften Stelle: man
nimmt das Recht der Wahl einiger Beamten, man fordert die russische Sprache
bei einigen Behörden, die bisher schwedisch und finnisch verhandelten. Die
Verletzten sträuben sich, da packt man fester zu und verstopft zugleich den
Mund der Presse mit einem Knebel; sie flehen um ihr Recht, ihre Sprache,
da heißt es: Separatismus, Haß gegen Rußland! Es sei klar, daß solche
Gesinnung höchst gefährlich sei, weshalb man stärker zugreifen müsse. Nun
werden Schulen russisch gemacht, und da die Unzufriedenheit in Finnland
wächst und sich zeigt, so ist das ein immer klarer werdender Beweis ihrer
staatsfeindlichen Gesinnung. Man drückt weiter auf das nationale Bewußtsein,
auf Freiheit. Stolz, Ehrgefühl des Finnlünders, und treibt die entflammte
Leidenschaft irgendwo einige Hitzköpfe zu offnem Widerstande gegen die Staats¬
gewalt, dann ist es Aufruhr, der Beweis ist erbracht, daß nur die Vernichtung
finnländischen Rechts, finnländischer Selbstverwaltung, Sprache, Kultur zur
wahren Verschmelzung des Landes mit Rußland sühren können. Das ist die
erprobte Schablone, und Finnland, ein kleiner Musterstaat wie kaum ein zweiter
in der Welt, wird im Namen des Nationalstaats zu Grunde gerichtet werden
wie Livland vor ihm. Rußland hätte sich größeres Verdienst um Europa er¬
worben durch einen Aufruf zur Niederlegung der staatlichen Waffen im Kampfe
der Nationalitäten, als durch sein Manifest sür Einschränkung der Kriegs¬
rüstungen. Und wir werden in Deutschland sicher nicht dieser russischen
Schablone folgen wollen. Rußland ist eine Despotie, die keinerlei Recht des
Unterthans gegenüber dem Fürsten anerkennt. Deutschland steht nicht auf
diesem Boden des einseitigen Rechts.

Man hat längst die Erfahrung gemacht, daß Nationen eben solche Tyrannen
sein können wie Fürsten. Wir sind stolz, daß die Zeit des Absolutismus und
der Despotie vorüber ist. Ja, der Despotie der Fürsten, und an ihre Stelle
treten die Nationen, eine traurige Abwechslung! Und wie viele Leute immer
bereit wären, den Fürsten zu bewundern, wenn er seine Macht mißbrauchte,
so giebt es jetzt viele, die es weichlich nennen, wenn die Warnung laut wird,
daß die Nationen Tyrannen werden. Fürsten wie Nationen haben ihre
Schmeichler.

Man hört bei uns nicht selten vor deutschem Chauvinismus warnen.
Ich meine, die Gefahr liegt uus bisher fern. Vielmehr ist gerade unsre
nationale Schwäche eine der Ursachen, weshalb wir nicht ohne staatliche Hilfe


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[0707] Nation und Staat selbst zu erziehn. Man hat Eltern ihre Kinder, wie es scheint, wirklich weg¬ genommen, um sie von staatlichen Vormündern erziehn zu lassen. Das sind offenbar unhaltbare Zustände. Aber der erste Schritt auf dem Wege staat¬ lichen Zwangs ist verhängnisvoll auch gegenüber deutschen Reichsgenossen. In Rußland ist dafür eine fertige Schablone vorhanden, die eben in Finn¬ land wieder zur Anwendung kommen soll. Man packt irgendwo die zur Er¬ wägung bestimmte Nation oder Provinz an einer schmerzhaften Stelle: man nimmt das Recht der Wahl einiger Beamten, man fordert die russische Sprache bei einigen Behörden, die bisher schwedisch und finnisch verhandelten. Die Verletzten sträuben sich, da packt man fester zu und verstopft zugleich den Mund der Presse mit einem Knebel; sie flehen um ihr Recht, ihre Sprache, da heißt es: Separatismus, Haß gegen Rußland! Es sei klar, daß solche Gesinnung höchst gefährlich sei, weshalb man stärker zugreifen müsse. Nun werden Schulen russisch gemacht, und da die Unzufriedenheit in Finnland wächst und sich zeigt, so ist das ein immer klarer werdender Beweis ihrer staatsfeindlichen Gesinnung. Man drückt weiter auf das nationale Bewußtsein, auf Freiheit. Stolz, Ehrgefühl des Finnlünders, und treibt die entflammte Leidenschaft irgendwo einige Hitzköpfe zu offnem Widerstande gegen die Staats¬ gewalt, dann ist es Aufruhr, der Beweis ist erbracht, daß nur die Vernichtung finnländischen Rechts, finnländischer Selbstverwaltung, Sprache, Kultur zur wahren Verschmelzung des Landes mit Rußland sühren können. Das ist die erprobte Schablone, und Finnland, ein kleiner Musterstaat wie kaum ein zweiter in der Welt, wird im Namen des Nationalstaats zu Grunde gerichtet werden wie Livland vor ihm. Rußland hätte sich größeres Verdienst um Europa er¬ worben durch einen Aufruf zur Niederlegung der staatlichen Waffen im Kampfe der Nationalitäten, als durch sein Manifest sür Einschränkung der Kriegs¬ rüstungen. Und wir werden in Deutschland sicher nicht dieser russischen Schablone folgen wollen. Rußland ist eine Despotie, die keinerlei Recht des Unterthans gegenüber dem Fürsten anerkennt. Deutschland steht nicht auf diesem Boden des einseitigen Rechts. Man hat längst die Erfahrung gemacht, daß Nationen eben solche Tyrannen sein können wie Fürsten. Wir sind stolz, daß die Zeit des Absolutismus und der Despotie vorüber ist. Ja, der Despotie der Fürsten, und an ihre Stelle treten die Nationen, eine traurige Abwechslung! Und wie viele Leute immer bereit wären, den Fürsten zu bewundern, wenn er seine Macht mißbrauchte, so giebt es jetzt viele, die es weichlich nennen, wenn die Warnung laut wird, daß die Nationen Tyrannen werden. Fürsten wie Nationen haben ihre Schmeichler. Man hört bei uns nicht selten vor deutschem Chauvinismus warnen. Ich meine, die Gefahr liegt uus bisher fern. Vielmehr ist gerade unsre nationale Schwäche eine der Ursachen, weshalb wir nicht ohne staatliche Hilfe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/707>, abgerufen am 23.07.2024.