Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Nation und Staat

Volksteile in möglichst große Staaten zusammen zu fassen. Die Nationen
wollen sich, indem sie alle ihre Teile an sich ziehen, mit der gesteigerten
Kraft nach außen schützen, im Innern ihre nationale Art ausgestalten
und ihre Kultur entwickeln. Dies sind gesunde Triebe und große Zwecke,
die auch schwere, für die Sammlung zerstreuter Volksteile gebrachte Opfer
wohl rechtfertigen können. Da jedoch das Nationalitätsprinzip thatsächlich
von Fürsten und Völkern bisher so wenig befolgt wird, daß kein Staat ohne
Nötigung ein Gebiet aufzugeben pflegt, bloß weil es national zu einem andern
Staate gehört, und da es manche Völkersplitter auch in Europa giebt, die
außer stände sind, einen eignen nationalen Staat zu bilden, so birgt das
scheinbar friedliche Nationalprinzip von Hause aus eine schwere Gefahr der Ver¬
gewaltigung in sich. Um so mehr als es begleitet ist von dem Streben der
nationalen Staaten, sich die in seinen Grenzen wohnenden volksfremden Elemente
ans alle Weise national zu assimilieren. Hieraus ist allmählich ein nationaler
Kampf entbrannt, der durch ganz Europa hin immer eifriger und schonungs¬
loser geführt wird, und der keineswegs mit den friedfertigen Gesinnungen über¬
einstimmt, deren Beteuerungen, wie die Kirchenglocke vor der Predigt, uns
gewohnheitsmäßig aus den Parlamenten aller Staaten fortwährend ins Ohr tönt.

Das berechtigte nationale Streben nach Einigung hat sich mit dem Streben
nach gewaltsamer oder friedlicher Verschmelzung fremder im Bereich der Macht
einer stärkern Nation liegender nationaler Splitter vermischt; das nationale
Einheitsbedürfnis ist vergiftet worden durch das staatliche Bedürfnis, alles
nationale Fremde innerhalb der Staatsgrenzen zu entfernen. Territorium und
Nation sollen zusammenfallen, sei es auch auf gewaltsamen Wege. Denn mit
so schönen Namen man es auch verdecken mag, es ist Kampf und Gewalt, was
hier bald in sanfterer, bald in härterer Form von Mehrheiten gegen Minder¬
heiten angewandt wird. Es ist der Eroberungskampf von Nation gegen Nation.
Seitdem Deutschland sich national zusammengeschlossen hat, sehen wir rund
umher unsre Volksgenossen einer Verfolgung und Bedrückung ausgesetzt, die
nicht unmittelbar dem Deutschen Reich, aber doch der Nation mit schweren
Verlusten drohen. Wir selbst sind in die Lage gekommen, solche staatliche Be¬
drückung gegen fremde Volksteile, die in unsern Grenzen wohnen, anzuwenden.
Wie die Verhältnisse nun einmal liegen, können wir uns von diesem Kampf
nicht ganz fern halten. Allein der Kampf ist zu ernst, als daß er uns nicht die
Pflicht auferlegen sollte, seine Natur und Berechtigung, die angewandten Mittel
und die gebotuen Grenzen in jedem Falle möglichst genan abzuwägen.

Worin liegt der Maßstab für die verletzende Härte dieser nationalen Unter-
jochnngskämpfe? Er liegt in der Schätzung der nationalen Art und der
nationalen Kulturgüter. So lange ein Volk noch nicht zu nationalem Selbst¬
gefühl erwacht ist, wird es sich ohne vielen Widerstand einem stärkern, mit
höher entwickelten Kulturmitteln ausgestatteten Volke anschließen, mit ihm ver-


Nation und Staat

Volksteile in möglichst große Staaten zusammen zu fassen. Die Nationen
wollen sich, indem sie alle ihre Teile an sich ziehen, mit der gesteigerten
Kraft nach außen schützen, im Innern ihre nationale Art ausgestalten
und ihre Kultur entwickeln. Dies sind gesunde Triebe und große Zwecke,
die auch schwere, für die Sammlung zerstreuter Volksteile gebrachte Opfer
wohl rechtfertigen können. Da jedoch das Nationalitätsprinzip thatsächlich
von Fürsten und Völkern bisher so wenig befolgt wird, daß kein Staat ohne
Nötigung ein Gebiet aufzugeben pflegt, bloß weil es national zu einem andern
Staate gehört, und da es manche Völkersplitter auch in Europa giebt, die
außer stände sind, einen eignen nationalen Staat zu bilden, so birgt das
scheinbar friedliche Nationalprinzip von Hause aus eine schwere Gefahr der Ver¬
gewaltigung in sich. Um so mehr als es begleitet ist von dem Streben der
nationalen Staaten, sich die in seinen Grenzen wohnenden volksfremden Elemente
ans alle Weise national zu assimilieren. Hieraus ist allmählich ein nationaler
Kampf entbrannt, der durch ganz Europa hin immer eifriger und schonungs¬
loser geführt wird, und der keineswegs mit den friedfertigen Gesinnungen über¬
einstimmt, deren Beteuerungen, wie die Kirchenglocke vor der Predigt, uns
gewohnheitsmäßig aus den Parlamenten aller Staaten fortwährend ins Ohr tönt.

Das berechtigte nationale Streben nach Einigung hat sich mit dem Streben
nach gewaltsamer oder friedlicher Verschmelzung fremder im Bereich der Macht
einer stärkern Nation liegender nationaler Splitter vermischt; das nationale
Einheitsbedürfnis ist vergiftet worden durch das staatliche Bedürfnis, alles
nationale Fremde innerhalb der Staatsgrenzen zu entfernen. Territorium und
Nation sollen zusammenfallen, sei es auch auf gewaltsamen Wege. Denn mit
so schönen Namen man es auch verdecken mag, es ist Kampf und Gewalt, was
hier bald in sanfterer, bald in härterer Form von Mehrheiten gegen Minder¬
heiten angewandt wird. Es ist der Eroberungskampf von Nation gegen Nation.
Seitdem Deutschland sich national zusammengeschlossen hat, sehen wir rund
umher unsre Volksgenossen einer Verfolgung und Bedrückung ausgesetzt, die
nicht unmittelbar dem Deutschen Reich, aber doch der Nation mit schweren
Verlusten drohen. Wir selbst sind in die Lage gekommen, solche staatliche Be¬
drückung gegen fremde Volksteile, die in unsern Grenzen wohnen, anzuwenden.
Wie die Verhältnisse nun einmal liegen, können wir uns von diesem Kampf
nicht ganz fern halten. Allein der Kampf ist zu ernst, als daß er uns nicht die
Pflicht auferlegen sollte, seine Natur und Berechtigung, die angewandten Mittel
und die gebotuen Grenzen in jedem Falle möglichst genan abzuwägen.

Worin liegt der Maßstab für die verletzende Härte dieser nationalen Unter-
jochnngskämpfe? Er liegt in der Schätzung der nationalen Art und der
nationalen Kulturgüter. So lange ein Volk noch nicht zu nationalem Selbst¬
gefühl erwacht ist, wird es sich ohne vielen Widerstand einem stärkern, mit
höher entwickelten Kulturmitteln ausgestatteten Volke anschließen, mit ihm ver-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0698" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/230384"/>
          <fw type="header" place="top"> Nation und Staat</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2960" prev="#ID_2959"> Volksteile in möglichst große Staaten zusammen zu fassen. Die Nationen<lb/>
wollen sich, indem sie alle ihre Teile an sich ziehen, mit der gesteigerten<lb/>
Kraft nach außen schützen, im Innern ihre nationale Art ausgestalten<lb/>
und ihre Kultur entwickeln. Dies sind gesunde Triebe und große Zwecke,<lb/>
die auch schwere, für die Sammlung zerstreuter Volksteile gebrachte Opfer<lb/>
wohl rechtfertigen können. Da jedoch das Nationalitätsprinzip thatsächlich<lb/>
von Fürsten und Völkern bisher so wenig befolgt wird, daß kein Staat ohne<lb/>
Nötigung ein Gebiet aufzugeben pflegt, bloß weil es national zu einem andern<lb/>
Staate gehört, und da es manche Völkersplitter auch in Europa giebt, die<lb/>
außer stände sind, einen eignen nationalen Staat zu bilden, so birgt das<lb/>
scheinbar friedliche Nationalprinzip von Hause aus eine schwere Gefahr der Ver¬<lb/>
gewaltigung in sich. Um so mehr als es begleitet ist von dem Streben der<lb/>
nationalen Staaten, sich die in seinen Grenzen wohnenden volksfremden Elemente<lb/>
ans alle Weise national zu assimilieren. Hieraus ist allmählich ein nationaler<lb/>
Kampf entbrannt, der durch ganz Europa hin immer eifriger und schonungs¬<lb/>
loser geführt wird, und der keineswegs mit den friedfertigen Gesinnungen über¬<lb/>
einstimmt, deren Beteuerungen, wie die Kirchenglocke vor der Predigt, uns<lb/>
gewohnheitsmäßig aus den Parlamenten aller Staaten fortwährend ins Ohr tönt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2961"> Das berechtigte nationale Streben nach Einigung hat sich mit dem Streben<lb/>
nach gewaltsamer oder friedlicher Verschmelzung fremder im Bereich der Macht<lb/>
einer stärkern Nation liegender nationaler Splitter vermischt; das nationale<lb/>
Einheitsbedürfnis ist vergiftet worden durch das staatliche Bedürfnis, alles<lb/>
nationale Fremde innerhalb der Staatsgrenzen zu entfernen. Territorium und<lb/>
Nation sollen zusammenfallen, sei es auch auf gewaltsamen Wege. Denn mit<lb/>
so schönen Namen man es auch verdecken mag, es ist Kampf und Gewalt, was<lb/>
hier bald in sanfterer, bald in härterer Form von Mehrheiten gegen Minder¬<lb/>
heiten angewandt wird. Es ist der Eroberungskampf von Nation gegen Nation.<lb/>
Seitdem Deutschland sich national zusammengeschlossen hat, sehen wir rund<lb/>
umher unsre Volksgenossen einer Verfolgung und Bedrückung ausgesetzt, die<lb/>
nicht unmittelbar dem Deutschen Reich, aber doch der Nation mit schweren<lb/>
Verlusten drohen. Wir selbst sind in die Lage gekommen, solche staatliche Be¬<lb/>
drückung gegen fremde Volksteile, die in unsern Grenzen wohnen, anzuwenden.<lb/>
Wie die Verhältnisse nun einmal liegen, können wir uns von diesem Kampf<lb/>
nicht ganz fern halten. Allein der Kampf ist zu ernst, als daß er uns nicht die<lb/>
Pflicht auferlegen sollte, seine Natur und Berechtigung, die angewandten Mittel<lb/>
und die gebotuen Grenzen in jedem Falle möglichst genan abzuwägen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2962" next="#ID_2963"> Worin liegt der Maßstab für die verletzende Härte dieser nationalen Unter-<lb/>
jochnngskämpfe? Er liegt in der Schätzung der nationalen Art und der<lb/>
nationalen Kulturgüter. So lange ein Volk noch nicht zu nationalem Selbst¬<lb/>
gefühl erwacht ist, wird es sich ohne vielen Widerstand einem stärkern, mit<lb/>
höher entwickelten Kulturmitteln ausgestatteten Volke anschließen, mit ihm ver-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0698] Nation und Staat Volksteile in möglichst große Staaten zusammen zu fassen. Die Nationen wollen sich, indem sie alle ihre Teile an sich ziehen, mit der gesteigerten Kraft nach außen schützen, im Innern ihre nationale Art ausgestalten und ihre Kultur entwickeln. Dies sind gesunde Triebe und große Zwecke, die auch schwere, für die Sammlung zerstreuter Volksteile gebrachte Opfer wohl rechtfertigen können. Da jedoch das Nationalitätsprinzip thatsächlich von Fürsten und Völkern bisher so wenig befolgt wird, daß kein Staat ohne Nötigung ein Gebiet aufzugeben pflegt, bloß weil es national zu einem andern Staate gehört, und da es manche Völkersplitter auch in Europa giebt, die außer stände sind, einen eignen nationalen Staat zu bilden, so birgt das scheinbar friedliche Nationalprinzip von Hause aus eine schwere Gefahr der Ver¬ gewaltigung in sich. Um so mehr als es begleitet ist von dem Streben der nationalen Staaten, sich die in seinen Grenzen wohnenden volksfremden Elemente ans alle Weise national zu assimilieren. Hieraus ist allmählich ein nationaler Kampf entbrannt, der durch ganz Europa hin immer eifriger und schonungs¬ loser geführt wird, und der keineswegs mit den friedfertigen Gesinnungen über¬ einstimmt, deren Beteuerungen, wie die Kirchenglocke vor der Predigt, uns gewohnheitsmäßig aus den Parlamenten aller Staaten fortwährend ins Ohr tönt. Das berechtigte nationale Streben nach Einigung hat sich mit dem Streben nach gewaltsamer oder friedlicher Verschmelzung fremder im Bereich der Macht einer stärkern Nation liegender nationaler Splitter vermischt; das nationale Einheitsbedürfnis ist vergiftet worden durch das staatliche Bedürfnis, alles nationale Fremde innerhalb der Staatsgrenzen zu entfernen. Territorium und Nation sollen zusammenfallen, sei es auch auf gewaltsamen Wege. Denn mit so schönen Namen man es auch verdecken mag, es ist Kampf und Gewalt, was hier bald in sanfterer, bald in härterer Form von Mehrheiten gegen Minder¬ heiten angewandt wird. Es ist der Eroberungskampf von Nation gegen Nation. Seitdem Deutschland sich national zusammengeschlossen hat, sehen wir rund umher unsre Volksgenossen einer Verfolgung und Bedrückung ausgesetzt, die nicht unmittelbar dem Deutschen Reich, aber doch der Nation mit schweren Verlusten drohen. Wir selbst sind in die Lage gekommen, solche staatliche Be¬ drückung gegen fremde Volksteile, die in unsern Grenzen wohnen, anzuwenden. Wie die Verhältnisse nun einmal liegen, können wir uns von diesem Kampf nicht ganz fern halten. Allein der Kampf ist zu ernst, als daß er uns nicht die Pflicht auferlegen sollte, seine Natur und Berechtigung, die angewandten Mittel und die gebotuen Grenzen in jedem Falle möglichst genan abzuwägen. Worin liegt der Maßstab für die verletzende Härte dieser nationalen Unter- jochnngskämpfe? Er liegt in der Schätzung der nationalen Art und der nationalen Kulturgüter. So lange ein Volk noch nicht zu nationalem Selbst¬ gefühl erwacht ist, wird es sich ohne vielen Widerstand einem stärkern, mit höher entwickelten Kulturmitteln ausgestatteten Volke anschließen, mit ihm ver-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/698
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/698>, abgerufen am 23.07.2024.