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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr.

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nicht so einfach, wie sich ihn Holbach vorstellt; es geht daher nicht an, die
Nützlichkeit zum einzigen Kriterium des sittlich Guten zu machen. Verschließe
er sich doch selbst nicht der Erkenntnis, daß Ungerechtigkeit und Selbstsucht
oft nützlicher sind als Gerechtigkeit und Menschenliebe, und wenn er meint,
das sei doch immer nur vorübergehend der Fall, so ist darauf zu erwidern,
daß der Nutzen der Ungerechtigkeit für manchen Menschen sein ganzes Leben
lang anhält, und daß dies für ihn ein hinlängliches Motiv ist, ungerecht
zu bleiben. Mit dem individuellen Nutzen kommen wir also auf keinen Fall
aus, mit dem Gemeinnutzen aber auch nicht, weil der individuelle und der
Gemeinnutzen sehr oft in Widerstreit miteinander geraten, und es nicht
wenige" gelingt, ihren eignen Nutzen auf Kosten des Gemeinwesens zu wahren.
Aus diesem Grunde brauchen wir einen Quell der Moralität, der jenseits der
irdischen Interessenkonflikte liegt, und diesen finden wir in dem Gott, der sich
in unsern sittlichen Ideen offenbart; diese zu verwirklichen müssen wir uns
verpflichtet fühlen, ohne Rücksicht auf den Nutzen oder Schaden, der daraus
entspringt. Natürlicherweise wird für gewöhnlich Nutzen daraus entspringen,
weil ja immer irgend jemand genützt wird, wenn wir Liebe und Gerechtigkeit
üben, unsre Triebe beherrschen und unsre Zeit gut anwenden; aber weil der
Nutzen nicht immer augenblicklich eintritt, nicht immer sichtbar ist, weil zu¬
weilen aus einer für Pflicht gehaltnen Handlung zunächst nur Unheil zu ent¬
stehen scheint, vor allem weil niemand genau zu sagen vermag, worin der all¬
gemeine Nutzen bestehe, so dürfen wir nicht den Nutzen, sondern müssen wir
die sittlichen Ideen zum Kriterium des Guten machen. Wenn Holbach einen
Menschen, der auf das Jenseits schaut, einem Wandrer vergleicht, der gen
Himmel blickt, statt ans seine Füße und auf den Weg zu sehen, so vergißt er,
daß der im Walde Verirrte sich nach dem Stande der Sonne richtet und in
der Nacht sich glücklich schätzt, wenn Sterne blinken, an denen er sich zurecht¬
finden kann. Ist also der Nutzen nicht einziges Kriterium der Moralität, so
darf er doch bei der Beurteilung der menschlichen Handlungen nicht aus¬
geschlossen werden. Eine Morallehre, die auf das Streben des Menschen nach
Glückseligkeit keine Rücksicht nimmt, oder wohl gar das sittlich Gute in der
Verneinung dieses Strebens findet, die taugt nichts; sie ist unvernünftig und
unwirksam. Diese Wahrheit festgestellt zu haben, ist wiederum ein bleibendes
Verdienst des Rationalismus.

Kann demnach die Gottesidee für die Begründung der Moral nicht ent¬
behrt werden, so wird sie auch durch den Hinweis auf die UnVollkommenheiten
der Gesellschaft und auf das menschliche Elend nicht widerlegt; das wäre nur
der Fall, wenn die Pessimisten mit ihrer negativen Bilanz recht hätten; diese
Bilanz hat aber Holbach selbst, lange vor Schopenhauer, für falsch erklärt.
Wenn Gott die Wahl hatte, ob er gar keine Welt schaffen wollte, oder eine,
über die der Herr Mensch zwar schimpft, in der dieser Mensch aber doch lieber


<Li» französisch-deutscher Rationalist

nicht so einfach, wie sich ihn Holbach vorstellt; es geht daher nicht an, die
Nützlichkeit zum einzigen Kriterium des sittlich Guten zu machen. Verschließe
er sich doch selbst nicht der Erkenntnis, daß Ungerechtigkeit und Selbstsucht
oft nützlicher sind als Gerechtigkeit und Menschenliebe, und wenn er meint,
das sei doch immer nur vorübergehend der Fall, so ist darauf zu erwidern,
daß der Nutzen der Ungerechtigkeit für manchen Menschen sein ganzes Leben
lang anhält, und daß dies für ihn ein hinlängliches Motiv ist, ungerecht
zu bleiben. Mit dem individuellen Nutzen kommen wir also auf keinen Fall
aus, mit dem Gemeinnutzen aber auch nicht, weil der individuelle und der
Gemeinnutzen sehr oft in Widerstreit miteinander geraten, und es nicht
wenige» gelingt, ihren eignen Nutzen auf Kosten des Gemeinwesens zu wahren.
Aus diesem Grunde brauchen wir einen Quell der Moralität, der jenseits der
irdischen Interessenkonflikte liegt, und diesen finden wir in dem Gott, der sich
in unsern sittlichen Ideen offenbart; diese zu verwirklichen müssen wir uns
verpflichtet fühlen, ohne Rücksicht auf den Nutzen oder Schaden, der daraus
entspringt. Natürlicherweise wird für gewöhnlich Nutzen daraus entspringen,
weil ja immer irgend jemand genützt wird, wenn wir Liebe und Gerechtigkeit
üben, unsre Triebe beherrschen und unsre Zeit gut anwenden; aber weil der
Nutzen nicht immer augenblicklich eintritt, nicht immer sichtbar ist, weil zu¬
weilen aus einer für Pflicht gehaltnen Handlung zunächst nur Unheil zu ent¬
stehen scheint, vor allem weil niemand genau zu sagen vermag, worin der all¬
gemeine Nutzen bestehe, so dürfen wir nicht den Nutzen, sondern müssen wir
die sittlichen Ideen zum Kriterium des Guten machen. Wenn Holbach einen
Menschen, der auf das Jenseits schaut, einem Wandrer vergleicht, der gen
Himmel blickt, statt ans seine Füße und auf den Weg zu sehen, so vergißt er,
daß der im Walde Verirrte sich nach dem Stande der Sonne richtet und in
der Nacht sich glücklich schätzt, wenn Sterne blinken, an denen er sich zurecht¬
finden kann. Ist also der Nutzen nicht einziges Kriterium der Moralität, so
darf er doch bei der Beurteilung der menschlichen Handlungen nicht aus¬
geschlossen werden. Eine Morallehre, die auf das Streben des Menschen nach
Glückseligkeit keine Rücksicht nimmt, oder wohl gar das sittlich Gute in der
Verneinung dieses Strebens findet, die taugt nichts; sie ist unvernünftig und
unwirksam. Diese Wahrheit festgestellt zu haben, ist wiederum ein bleibendes
Verdienst des Rationalismus.

Kann demnach die Gottesidee für die Begründung der Moral nicht ent¬
behrt werden, so wird sie auch durch den Hinweis auf die UnVollkommenheiten
der Gesellschaft und auf das menschliche Elend nicht widerlegt; das wäre nur
der Fall, wenn die Pessimisten mit ihrer negativen Bilanz recht hätten; diese
Bilanz hat aber Holbach selbst, lange vor Schopenhauer, für falsch erklärt.
Wenn Gott die Wahl hatte, ob er gar keine Welt schaffen wollte, oder eine,
über die der Herr Mensch zwar schimpft, in der dieser Mensch aber doch lieber


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[0696] <Li» französisch-deutscher Rationalist nicht so einfach, wie sich ihn Holbach vorstellt; es geht daher nicht an, die Nützlichkeit zum einzigen Kriterium des sittlich Guten zu machen. Verschließe er sich doch selbst nicht der Erkenntnis, daß Ungerechtigkeit und Selbstsucht oft nützlicher sind als Gerechtigkeit und Menschenliebe, und wenn er meint, das sei doch immer nur vorübergehend der Fall, so ist darauf zu erwidern, daß der Nutzen der Ungerechtigkeit für manchen Menschen sein ganzes Leben lang anhält, und daß dies für ihn ein hinlängliches Motiv ist, ungerecht zu bleiben. Mit dem individuellen Nutzen kommen wir also auf keinen Fall aus, mit dem Gemeinnutzen aber auch nicht, weil der individuelle und der Gemeinnutzen sehr oft in Widerstreit miteinander geraten, und es nicht wenige» gelingt, ihren eignen Nutzen auf Kosten des Gemeinwesens zu wahren. Aus diesem Grunde brauchen wir einen Quell der Moralität, der jenseits der irdischen Interessenkonflikte liegt, und diesen finden wir in dem Gott, der sich in unsern sittlichen Ideen offenbart; diese zu verwirklichen müssen wir uns verpflichtet fühlen, ohne Rücksicht auf den Nutzen oder Schaden, der daraus entspringt. Natürlicherweise wird für gewöhnlich Nutzen daraus entspringen, weil ja immer irgend jemand genützt wird, wenn wir Liebe und Gerechtigkeit üben, unsre Triebe beherrschen und unsre Zeit gut anwenden; aber weil der Nutzen nicht immer augenblicklich eintritt, nicht immer sichtbar ist, weil zu¬ weilen aus einer für Pflicht gehaltnen Handlung zunächst nur Unheil zu ent¬ stehen scheint, vor allem weil niemand genau zu sagen vermag, worin der all¬ gemeine Nutzen bestehe, so dürfen wir nicht den Nutzen, sondern müssen wir die sittlichen Ideen zum Kriterium des Guten machen. Wenn Holbach einen Menschen, der auf das Jenseits schaut, einem Wandrer vergleicht, der gen Himmel blickt, statt ans seine Füße und auf den Weg zu sehen, so vergißt er, daß der im Walde Verirrte sich nach dem Stande der Sonne richtet und in der Nacht sich glücklich schätzt, wenn Sterne blinken, an denen er sich zurecht¬ finden kann. Ist also der Nutzen nicht einziges Kriterium der Moralität, so darf er doch bei der Beurteilung der menschlichen Handlungen nicht aus¬ geschlossen werden. Eine Morallehre, die auf das Streben des Menschen nach Glückseligkeit keine Rücksicht nimmt, oder wohl gar das sittlich Gute in der Verneinung dieses Strebens findet, die taugt nichts; sie ist unvernünftig und unwirksam. Diese Wahrheit festgestellt zu haben, ist wiederum ein bleibendes Verdienst des Rationalismus. Kann demnach die Gottesidee für die Begründung der Moral nicht ent¬ behrt werden, so wird sie auch durch den Hinweis auf die UnVollkommenheiten der Gesellschaft und auf das menschliche Elend nicht widerlegt; das wäre nur der Fall, wenn die Pessimisten mit ihrer negativen Bilanz recht hätten; diese Bilanz hat aber Holbach selbst, lange vor Schopenhauer, für falsch erklärt. Wenn Gott die Wahl hatte, ob er gar keine Welt schaffen wollte, oder eine, über die der Herr Mensch zwar schimpft, in der dieser Mensch aber doch lieber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_229685/696>, abgerufen am 23.07.2024.